15

Es war kurz nach dem Morgengrauen.

Peter Marlowe lag halb eingeschlafen auf seinem Bett.

War es ein Traum? fragte er sich und war plötzlich hellwach. Dann berührten seine vorsichtig tastenden Finger den kleinen Stoffetzen, der den Kondensator enthielt, und er erkannte, daß es kein Traum gewesen war.

Ewart warf sich im oberen Bett herum und erwachte stöhnend, »'mahlu auf die Nacht«, sagte er, als er die Beine über den Bettrand hängte.

Peter Marlowe erinnerte sich, daß seine Einheit an der Reihe war für das Latrinenkommando. Er ging aus der Baracke und rüttelte Larkin wach.

»He? Ach Sie, Peter«, sagte Larkin noch halb schlafend. »Was ist los?«

Es fiel Peter Marlowe schwer, nicht gleich mit der Neuigkeit vom Kondensator herauszuplatzen, aber er wollte warten, bis auch Mac dabei war, und deshalb antwortete er einfach: »Latrinenkommando, Alter.«

»Was, schon wieder? Verdammte Scheiße!« Larkin streckte den schmerzenden Rücken, band sich den Sarong fest und schlüpfte in seine Holzpantinen.

Sie holten das Netz und den Zwanzigliterbehälter und gingen durch das Lager, das sich eben zu rühren begann. Sie erreichten die Latrinengegend und schenkten den dort Hockenden keine Beachtung, und die dort Hockenden schenkten ihnen keine Beachtung.

Larkin hob den Deckel von einem Loch, Peter Marlowe fuhr schnell mit dem Netz an den Wänden hoch. Als er das Netz aus dem Loch herauszog, war es voll Kakerlaken. Er schüttelte den Netzinhalt in den Behälter und schabte noch einmal. Wieder ein guter Fischzug.

Larkin legte den Deckel zurück, und sie gingen weiter zum nächsten Loch.

»Halten Sie das Ding still«, rief Peter Marlowe. »Sehen Sie, was Sie jetzt angerichtet haben! Mindestens hundert habe ich verloren.«

»Es gibt noch genug von dem Zeug«, erwiderte Larkin voll Ekel und faßte den Behälter fester an.

Der Geruch war fürchterlich, aber die Ausbeute reich. Bald war der Behälter bis an den Rand voll. Die kleinsten Kakerlaken waren ungefähr vier Zentimeter lang. Larkin befestigte den Deckel auf dem Behälter, und dann gingen sie zum Lazarett hinauf.

»Nicht gerade mein Fall für eine Diätkost«, meinte Marlowe.

»Haben Sie die Viecher wirklich gegessen, Peter? Damals auf Java?«

»Natürlich. Und Sie übrigens auch. In Changi.«

Larkin ließ beinahe den Behälter fallen. »Waas?«

»Sie glauben doch nicht, daß ich eine Eingeborenendelikatesse und Proteinquelle den Ärzten übergebe, ohne sie auch zu unserem Vorteil zu verwenden, oder?«

»Aber wir haben doch eine Abmachung getroffen!« schrie Larkin. »Wir drei waren uns einig, daß wir nicht irgendwelche Scheußlichkeiten kochen würden, ohne es vorher den anderen zu sagen.«

»Ich habe es Mac erzählt, und er war einverstanden.«

»Aber ich nicht, verdammt!«

»Ach was, Oberst, kommen Sie! Wir mußten die Viecher fangen und sie heimlich kochen und Ihnen auch noch zuhören, wie Sie unser Essen über den grünen Klee lobten. Wir sind genauso wählerisch und empfindlich wie Sie.«

»Verdammt, das nächste Mal will ich Bescheid wissen. Verdammt, das ist ein Befehl.«

»Jawohl, Sir.« Peter Marlowe kicherte.

Sie lieferten den Behälter an die Lazarettküche ab. An die winzige Sonderküche, die die Schwerstkranken versorgte.

Als sie den Bungalow wieder erreichten, wartete Mac bereits. Seine Haut war gelblichgrau, und die Augen waren blutunterlaufen, und die Hände bebten, aber er hatte das Fieber überwunden. Er konnte wieder lächeln.

»Es ist schön, Sie wieder bei uns zu haben, Kamerad«, begrüßte Larkin ihn und setzte sich.

»Ja.«

Peter Marlowe zog gedankenverloren das kleine Stück Stoff aus der Tasche. »Ach, da fällt mir übrigens ein«, sagte er mit betonter Nachlässigkeit. »Das könnte man vielleicht gelegentlich brauchen.«

Mac sah sich den Tuchfetzen ohne sonderliches Interesse an.

»Zum Donnerwetter!« rief Larkin.

»Verdammt, Peter«, stieß Mac hervor, und seine Finger zitterten, »wollen Sie vielleicht, daß ich einen Herzklaps kriege?«

Peter Marlowe hielt die Stimme so ausdruckslos wie seine Miene und freute sich königlich über Macs Erregung. »Was soll man sich wegen einer solchen Kleinigkeit aufregen.« Dann konnte er das Lächeln nicht mehr unterdrücken. Er strahlte.

»Sie mit Ihrer verdammten Pommymanier, alles zu untertreiben.« Larkin versuchte, sauer zu spielen, aber er strahlte auch. »Wo haben Sie ihn her, Kamerad?«

Peter Marlowe zuckte die Achseln.

»Blödsinnige Frage. Entschuldigung, Peter«, setzte Larkin reumütig hinzu.

Peter Marlowe wußte, daß er nie wieder gefragt werden würde. Es war sehr viel besser, wenn die beiden nichts vom Dorf wußten.

Die Dämmerung brach herein.

Larkin hielt Wache. Peter Marlowe hielt Wache. Im Schutz seines Moskitonetzes baute Mac den Kondensator ein. Dann konnte er einfach nicht mehr länger warten, und mit einem Gebet auf den Lippen steckte er zittrig das Verbindungskabel in die Steckdose. Schwitzend horchte er in den Kopfhörer.

Eine qualvolle Ewigkeit wartete er. Es war erdrückend heiß unter dem Netz, und die Betonwand und der Betonfußboden speicherten die Hitze der untergehenden Sonne. Ein Moskito sirrte zornig. Mac fluchte, versuchte aber nicht, ihn zu entdecken und zu zerquetschen, und plötzlich klang ein Rauschen im Kopfhörer auf.

Seine Finger waren naß von Schweiß, der ihm an den Armen herunterlief, und rutschten vom Schraubenzieher ab. Er trocknete sie ab. Geschickt steckte er den Schraubenzieher in den Schlitz der Schraube, die den Abstimmkreis veränderte, und begann zu drehen. Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig. Rauschen. Nur Rauschen. Dann hörte er plötzlich Musik. Es war eine Glenn-Miller-Platte.

Die Musik brach ab, und die Stimme eines Ansagers erklang: »Hier ist Kalkutta. Wir setzen unsere Glenn-Miller-Sendung mit der Aufnahme ›Moonlight-Serenade‹ fort.«

Durch die Tür konnte Mac sehen, wie Larkin im Schatten hockte und hinter ihm Männer den Gang zwischen den Reihen der Betonbungalows entlangschlenderten. Er wollte hinauslaufen und schreien: Wollt ihr gleich die Nachrichten hören? Ich habe Kalkutta drin.

Mac horchte noch einen Augenblick, schaltete dann den Empfänger aus, schob die Wasserflaschen vorsichtig in ihre Schutzhüllen aus grünlichgrauem Filz zurück und ließ sie achtlos auf den Betten liegen. Um zehn würde Kalkutta Nachrichten senden. Um Zeit zu sparen, versteckte Mac das Verbindungskabel und den Kopfhörer unter der Matratze, statt sie wieder in der dritten Flasche zu verstauen. Er hatte so lange zusammengekauert unter dem Netz gehockt, daß er einen Krampf im Rücken hatte, und er stöhnte beim Aufstehen.

Larkin draußen sah sich nach ihm um. »Was ist los, Kamerad? Können Sie nicht schlafen?«

»Nein, mein Junge«, antwortete Mac und ging zu ihm hinaus, um sich neben ihn zu setzen.

»Sie sollten vorsichtiger sein am ersten Tag nach Ihrer Entlassung aus dem Lazarett.« Larkin brauchte nicht zu hören, daß er funktionierte. Macs Augen leuchteten vor Erregung. Larkin stieß ihn spielerisch in die Seite. »Es geht Ihnen gut, Sie alte Eule.«

»Wo steckt Peter?« fragte Mac, der wohl wußte, daß er unten an den Duschen wartete.

»Dort drüben. Der Kerl hockt da herum. Sehen Sie ihn sich an!«

»He, 'mahlu sana!« rief Mac laut.

Peter Marlowe wußte schon, daß Mac erfolgreich gewesen war, aber er stand auf, ging zu ihnen hinüber und sagte: »'mahlu senderis«, was soviel bedeutet wie ›Mahlu dich selbst‹. Auch ihm brauchte man nichts zu sagen.

»Wie wäre es mit einer Partie Bridge?« fragte Mac.

»Wer ist der vierte?«

»He, Gavin«, rief Larkin laut. »Wollen Sie den vierten machen?«

Major Gavin Ross zerrte die Beine vom Feldstuhl. Auf eine Krücke gestützt, schleppte er sich hinter dem Nachbarbungalow hervor. Er freute sich über die Aufforderung zu einem Spiel. Die Nächte waren immer schlimm. Die Lähmung war so sinnlos. Früher einmal ein Mann, und jetzt ein Nichts. Nutzlose Beine. Ein Leben lang an den Rollstuhl gefesselt.

Ein winziger Schrapnellsplitter hatte ihn in den Kopf getroffen, kurz bevor Singapur sich ergeben hatte. »Nicht schlimm, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, hatten die Ärzte erklärt. »Wir können das Ding herausholen, sobald wir Sie in einem ordentlichen Lazarett mit der entsprechenden Einrichtung unterbringen können. Das hat noch viel Zeit.« Aber es gab nie ein ordentliches Lazarett mit der entsprechenden Einrichtung, und die Zeit war abgelaufen.

»Mein Gott«, stöhnte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, als er sich auf den Zementboden gleiten ließ. Mac holte ein Kissen und warf es ihm hinüber. »Fangen Sie, Bester!« Er brauchte einen Augenblick, bis er sich zurechtgesetzt hatte, und unterdessen holte Peter Marlowe die Karten, und Larkin richtete die Fläche zwischen ihnen. Gavin hob das linke Bein und bog es zur Seite und aus dem Weg, nachdem er die Drahtfeder ausgehängt hatte, die die Schuhspitze mit dem Band dicht unterhalb des Knies verband. Dann rückte er das ebenfalls gelähmte andere Bein zur Seite und lehnte sich mit dem Kissen im Rücken gegen die Wand zurück. »So ist es besser«, sagte er und fuhr sich mit schneller, fahriger Geste über den Kaiser-Wilhelm-Bart.

»Was machen die Kopfschmerzen?« erkundigte Larkin sich automatisch.

»Es geht so, alter Junge«, erwiderte Gavin ebenso automatisch. »Sind Sie mein Partner?«

»Nein, Sie können mit Peter spielen.«

»O Gott, der Kerl trumpft immer meine Asse weg.«

»Das war nur ein einziges Mal«, wehrte sich Peter Marlowe.

»Einmal an einem Abend«, lachte Mac und begann zu geben.

»'mahlu.«

»Zwei Pik«, eröffnete Larkin das Spiel unter heftigem Schwenken der Hände.

Das Bieten wurde wild und heftig fortgesetzt.

Nachts klopfte Larkin an die Tür eines der Bungalows.

»Ja?« rief Smedly-Taylor und spähte in die Nacht hinaus.

»Tut mir leid, daß ich Sie störe, Sir.«

»Ach, Sie sind es, Larkin. Ist was nicht in Ordnung?« Es war immer etwas nicht in Ordnung. Er überlegte, was die Aussies diesmal angestellt haben mochten, während er von Schmerzen gequält aus dem Bett kletterte.

»Nein, Sir.« Larkin vergewisserte sich, daß niemand in Hörweite war. Seine Worte kamen ruhig und bedächtig. »Die Russen stehen fünfundsechzig Kilometer vor Berlin, Manila ist befreit. Die Yankees sind auf Corregidor und Iwo Jima gelandet.«

»Sind Sie sicher, Mann?«

»Jawohl, Sir.«

»Wer …« Smedly-Taylor brach ab. »Nein. Ich möchte nichts wissen. Setzen Sie sich, Oberst«, sagte er ruhig. »Sind Sie absolut sicher?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich kann nur sagen, Oberst«, erklärte der ältere Mann tonlos und feierlich, »daß ich nichts tun kann, um jemand zu helfen, der erwischt wird mit … der erwischt wird.« Er wollte nicht einmal das Wort aussprechen. »Ich möchte nichts davon wissen.« Der Schatten eines Lächelns huschte über das steinerne Gesicht und ließ es weicher wirken. »Ich bitte Sie nur, behüten Sie es mit Ihrem Leben, und erzählen Sie es mir sofort, wenn Sie etwas hören.«

»Jawohl, Sir. Wir haben vor …«

»Ich möchte nichts hören. Nur die Nachrichten.« Traurig legte Smedly-Taylor ihm die Hand auf die Schulter. »Entschuldigen Sie.«

»Es ist besser so, Sir.« Larkin war froh, daß der Oberst nichts weiter wissen wollte. Sie hatten beschlossen, daß jeder die Nachrichten nur zwei Personen erzählen sollte. Larkin würde sie Smedly-Taylor und Gavin Ross erzählen. Mac würde sie Major Tooley und Leutnant Bosley erzählen – beides gute Freunde; und Peter würde sie dem King und Pater Donovan, dem katholischen Kaplan, erzählen. Diese sollten die Nachrichten dann zwei anderen Personen, denen sie vertrauen konnten, weitererzählen, und so weiter. Ein guter Plan, dachte Larkin. Es war völlig richtig gewesen, daß Peter nicht freiwillig damit herausgerückt war, woher er den Kondensator hatte. Ein Mordskerl, dieser Peter.

Als Peter Marlowe spät in der Nacht von seinem Besuch beim King zu seiner Baracke zurückkehrte, war Ewart noch hellwach. Er streckte den Kopf unter dem Netz hervor und flüsterte erregt: »Peter. Haben Sie schon die Neuigkeiten gehört?«

»Welche Neuigkeiten?«

»Die Russen stehen fünfundsechzig Kilometer vor Berlin. Die Yankees sind auf Iwo Jima und Corregidor gelandet.«

Peter Marlowe fühlte Entsetzen in sich aufsteigen. Großer Gott, so schnell?

»Verdammte Gerüchte, Ewart. Verdammter Blödsinn.«

»Nein, es ist kein Blödsinn, Peter. Ein neues Rundfunkgerät ist im Lager. Die Nachrichten stimmen. Es sind keine Gerüchte. Mann, ist das nicht toll? Mein Gott, fast hätte ich das Beste vergessen. Die Yankees haben Manila befreit. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, was?«

»Ich glaube es erst, wenn ich es sehe.«

Vielleicht hätten wir es nur Smedly-Taylor und sonst niemand erzählen sollen, dachte Peter Marlowe, als er sich hinlegte. Wenn Ewart es weiß, dann kann man nicht wissen, was geschieht.

Nervös horchte er in das Lager hinaus. Beinahe konnte man die wachsende Erregung Changis fühlen. Das Lager wußte, daß es wieder mit der Außenwelt verbunden war.

Yoshima, schleimig vor Furcht, stand vor dem tobenden General stramm.

»Sie beschränkter, unfähiger Laffe«, fauchte der General.

Yoshima machte sich auf den Schlag gefaßt, der kommen mußte, und er kam auch, mit flacher Hand, mitten ins Gesicht.

»Sie schaffen mir das Radio her, sonst werden Sie zum Gemeinen degradiert. Ihre Versetzung ist aufgehoben. Wegtreten!«

Yoshima salutierte stramm, und seine Verneigung war vollkommene Demut. Er verließ das Quartier des Generals und war dankbar, daß er so leicht davongekommen war. Der Teufel sollte diese verdammten Gefangenen holen!

In der Kaserne ließ er seinen Stab antreten und brüllte die Männer an und schlug ihnen ins Gesicht, bis ihm die Hand weh tat. Die Unteroffiziere schlugen ihrerseits wieder die Gefreiten und diese die Gemeinen und die Gemeinen die Koreaner. Der Befehl war klär. »Schafft das Radio herbei, sonst …«

Fünf Tage lang geschah nichts. Dann fielen die Gefängniswächter über das Lager her und rissen es fast auseinander. Aber sie fanden nichts. Der Verräter im Lager wußte noch nichts über den Standort des Radios. Es geschah nichts, außer daß die versprochene Rückkehr zu normalen Rationen widerrufen wurde. Das Lager dämmerte wieder dahin und durchwartete die langen Tage, die von dem Mangel an Verpflegung noch länger wurden. Aber alle wußten, daß man wenigstens das Neueste erfahren würde. Keine Gerüchte, sondern echte Nachrichten. Und diese waren sehr gut. Der Krieg in Europa war beinahe zu Ende.

Aber dennoch lag es wie ein Bahrtuch über den Männern. Nur wenige hatten Lebensmittelvorräte. Und die guten Nachrichten hatten auch einen Haken. Wenn der Krieg in Europa zu Ende wäre, dann würden mehr Truppen in den Pazifikraum geschickt werden. Vielleicht würde man das japanische Mutterland angreifen. Und ein solcher Angriff würde die Gefängniswächter zu Berserkern machen. Repressalien! Sie alle wußten, daß es nur ein Ende für Changi gab.

Peter Marlowe ging auf die Hühnerställe zu, und die Wasserflasche baumelte an seiner Hüfte. Mac, Larkin und er waren übereingekommen, es wäre vielleicht am sichersten, wenn sie die Wasserflaschen so viel wie möglich bei sich trügen. Für den Fall, daß plötzlich eine Durchsuchung stattfinden sollte.

Er war in guter Stimmung. Das verdiente Geld war zwar längst dahin, aber der King hatte ihm als Vorschuß auf künftige Verdienste Lebensmittel und Tabak gegeben. Mein Gott, was für ein Mann, dachte er. Wenn er nicht wäre, würden Mac, Larkin und ich ebenso hungern wie alle anderen in Changi.

Es war heute kühler als sonst. Der Regen hatte gestern den Staub niedergeschlagen. Es war beinahe Mittagessenszeit. Als er sich den Hühnerställen näherte, beschleunigte er seinen Schritt. Vielleicht gab es heute ein paar Eier.

Dann blieb er verdutzt stehen.

In der Nähe des Hühnerauslaufs, der Peter Marlowes Einheit gehörte, hatte sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet, eine wütende, gewalttätige Menge. Zu seiner Überraschung sah er, daß Grey dabei war. Vor Grey stand Oberst Foster, der bis auf sein schmutziges Lendentuch nackt war, wie ein Irrer auf und ab hüpfte und schrille und unzusammenhängende Beschimpfungen auf Johnny Hawkins ausstieß, der schützend seinen Hund an die Brust drückte.

»Hallo, Max«, sagte Peter Marlowe, als er direkt vor des King Hühnerstall stand. »Was ist denn hier los?«

»Hallo, Peter«, antwortete Max leichthin und schob den Rechen in seinen Händen hin und her. Er bemerkte Peter Marlowes unwillkürliches Zusammenzucken bei der Anrede ›Peter‹. Offiziere! Versucht man, einen Offizier wie einen gewöhnlichen Menschen zu behandeln und ihn mit dem Vornamen anzureden, wird er gleich wild. Der Teufel soll die Bande holen. »Ja. Peter.«

Er sagte es absichtlich nochmals, nur so, als Bestätigung. »Seit einer Stunde ist hier der Teufel los. Es scheint, daß Hawkins' Hund in den Auslauf des alten Knackers geraten ist und einer seiner Hennen die Kehle durchgebissen hat.«

»Nein!«

»Man wird ihm den Kopf abreißen, das steht fest.«

Foster schrie gellend: »Ich will eine neue Henne, und ich will Schadenersatz. Das Biest hat eines meiner Kinder getötet. Ich verlange Anklage wegen Mordes.«

»Aber, Oberst«, beschwichtigte Grey, der am Ende seiner Geduld angelangt war. »Es war doch eine Henne und nicht ein Kind. Sie können doch nicht Mordanklage …«

»Meine Hühner sind meine Kinder, Sie Idiot! Huhn, Kind, was ist da schon für ein Unterschied? Hawkins ist ein Mörder!«

»Hören Sie mal, Oberst«, erwiderte Grey wütend. »Hawkins kann Ihnen keine andere Henne geben. Er hat erklärt, daß es ihm leid tut. Der Hund hat sich von der Leine losgerissen …«

»Ich verlange eine Kriegsgerichtsverhandlung. Für Hawkins, den Mörder, und seinen Köter, den Mörder!« Vor Oberst Fosters Mund stand Schaum. »Das verdammte Biest hat meine Henne getötet und hat sie gefressen. Es hat sie gefressen, und von einem meiner Kinder sind nur noch Federn übriggeblieben.«

Wütend schoß er plötzlich auf Hawkins zu, die Hände ausgestreckt, die Finger wie krallenbewehrte Klauen gekrümmt, schlug auf den Hund in Hawkins Armen ein und schrie gellend: »Ich bringe Sie mitsamt Ihrem verfluchten Biest um.«

Hawkins wich Foster aus und stieß ihn weg. Der Oberst fiel zu Boden, und Rover winselte ängstlich.

»Ich habe gesagt, daß es mir leid tut«, brachte Hawkins erstickt hervor. »Wenn ich das Geld hätte, würde ich Ihnen gerne zwei oder auch zehn Hühner schenken, aber ich kann es nicht. Grey« – Hawkins wandte sich verzweifelt an ihn –, »tun Sie doch um Gottes willen was.«

»Verdammt, was kann ich tun?« Grey war müde und wütend und hatte die Ruhr. »Sie wissen selbst, daß ich nichts tun kann. Ich muß es melden. Aber Sie schaffen besser den Hund weg.«

»Was meinen Sie damit?«

»Heiliger Bimbam«, brüllte Grey ihn an. »Ich meine damit, daß Sie ihn wegschaffen. Ihn töten. Und wenn Sie es nicht selbst tun wollen, dann lassen Sie es jemand anders machen. Aber sorgen Sie um alles in der Welt dafür, daß er bei Einbruch der Nacht nicht mehr im Lager ist.«

»Es ist mein Hund. Sie können mir nicht befehlen …«

»Verdammt, und ob ich das kann!« Grey versuchte, seine Magenmuskeln in die Gewalt zu bekommen. Er hatte Hawkins gern. Schon immer hatte er ihn gern gehabt, aber das hatte jetzt nichts zu sagen. »Sie kennen die Regeln. Sie sind ermahnt worden, ihn an der Leine und von diesem Gelände fernzuhalten. Rover hat die Henne getötet und aufgefressen. Es gibt Zeugen, die ihn dabei beobachtet haben.«

Oberst Foster richtete sich vom Boden auf, seine Augen waren schwarz und kugelrund. »Ich werde ihn umbringen«, keuchte er. »Der Hund gehört mir, und ich werde ihn umbringen. Auge um Auge.«

Grey stellte sich vor Foster, der sich zu einem neuen Angriff duckte. »Oberst Foster. Diese Angelegenheit wird gemeldet. Hauptmann Hawkins hat den Befehl, den Hund zu beseitigen …«

Foster schien Grey nicht zu hören. »Ich will das Biest haben. Ich bringe es um. Genau so, wie es meine Henne umgebracht hat. Es gehört mir. Ich werde es umbringen.« Er begann vorwärts zu kriechen, und Speichel floß ihm aus den Mundwinkeln. »Genau so, wie es mein Kind umgebracht hat.«

Grey streckte die Hand aus. »Nein! Hawkins wird ihn töten.«

»Oberst Foster«, sagte Hawkins klagend, »ich flehe Sie an, bitte, bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung an. Lassen Sie mich den Hund behalten, es wird nicht wieder geschehen.«

»Nein, es wird nicht wieder geschehen.« Oberst Foster lachte irr. »Er ist tot, und er gehört mir.« Er stürzte vorwärts, aber Hawkins wich zurück, und Grey packte den Oberst am Arm.

»Hören Sie auf«, schrie Grey, »sonst nehme ich Sie fest! So benimmt sich kein höherer Offizier. Gehen Sie von Hawkins weg. Gehen Sie weg.«

Foster riß den Arm von Grey los. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er sich direkt an Hawkins wandte. »Ich werde mit Ihnen abrechnen, Sie Mörder. Ich werde mit Ihnen abrechnen.« Er ging zu seinem Hühnerstall zurück und kroch hinein, in seine Behausung, an den Ort, wo er wohnte und schlief und aß, mit seinen Kindern, den Hennen.

Grey wandte sich wieder an Hawkins. »Tut mir leid, Hawkins, aber schaffen Sie ihn weg.«

»Grey«, flehte Hawkins, »bitte, nehmen Sie den Befehl zurück. Bitte, ich flehe Sie an. Ich werde alles tun, alles.«

»Ich kann nicht.« Grey hatte keine andere Wahl. »Sie wissen, daß ich es nicht kann, Hawkins, Menschenskind. Ich kann es nicht. Schaffen Sie ihn weg. Aber tun Sie es schnell.«

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon.

Hawkins' Wangen waren naß von Tränen, der Hund lag in seine Arme eingebettet. Dann entdeckte er Peter Marlowe. »Peter, um Gottes willen, helfen Sie mir.«

»Ich kann nicht, Johnny. Es tut mir leid, aber weder ich noch irgend jemand anders kann etwas für Sie tun.«

Verstört blickte sich Hawkins nach den schweigenden Männern um. Er weinte jetzt ganz unverhohlen. Die Männer wandten sich ab, denn sie konnten nichts für ihn tun. Wenn ein Mensch eine Henne getötet hätte, dann wäre es beinahe das gleiche gewesen, vielleicht sogar genau das gleiche. Ein jammervoller Augenblick, dann lief Hawkins schluchzend davon, Rover noch immer auf den Armen.

»Armer Kerl«, sagte Peter Marlowe zu Max.

»Ja, aber Gott sei Dank war es keines von des King Hühnern. Au wei, dann wäre ich aber dran gewesen!« Max schloß den Hühnerstall ab, nickte Peter Marlowe zu und ging weg.

Max kümmerte sich gern um die Hühner. Nichts war so gut wie ab und zu ein Extraei. Und es ist gar kein Risiko, wenn man das Ei schnell aussaugt, die Schale zu Pulver zerreibt und es wieder unter das Hühnerfutter mischt. Dann bleiben keine Spuren zurück. Und die Schalen sind obendrein noch gut für die Hühner. Und außerdem, verdammt, was ist schon für den King ein Ei hier und da? Solange der King jeden Tag eines bekommt, gibt es keinen Ärger. Bestimmt nicht! Max war richtig glücklich. Eine ganze Woche hatte er sich schon um die Hühner gekümmert.

Etwas später an diesem Tag, nach dem Mittagessen, legte Peter Marlowe sich auf sein Bett und ruhte aus.

»Entschuldigen Sie, Sir.«

Peter Marlowe riß die Augen auf und sah Dino neben dem Bett stehen. »Ja?« Er sah sich in der Baracke um und spürte einen Stich der Verlegenheit.

»Eh, kann ich Sie sprechen, Sir?« Und das ›Sir‹ klang impertinent wie stets. Warum körnen die Amerikaner nur das ›Sir‹ nicht so aussprechen, daß es normal klingt, dachte Peter Marlowe. Er stand auf und ging hinter ihm her aus der Baracke.

Dino ging voran bis in die Mitte der kleinen freien Fläche zwischen den Baracken.

»Hören Sie, Peter«, sagte Dino drängend. »Sie sollen zum King kommen. Und Sie sollen Larkin und Mac mitbringen.«

»Was ist los?«

»Er hat nur gesagt, ich soll Sie holen. Sie sollen sich in einer halben Stunde im Gefängnis in Zelle 54 auf dem vierten Stock mit ihm treffen.«

Offiziere durften das Gefängnis nicht betreten. Japanischer Befehl. Durchgesetzt von der Lagerpolizei. Verdammt riskante Sache.

»Ist das alles?«

»Ja, mehr hat er nicht gesagt. Zelle 54, vierter Stock, in einer halben Stunde. Bis nachher, Peter.«

Was kann jetzt los sein, überlegte Peter Marlowe. Schnell ging er zu Larkin und Mac hinab und sagte es ihnen. »Was halten Sie davon, Mac?«

»Wissen Sie, mein Junge«, antwortete Mac bedächtig, »ich glaube nicht, daß der King uns alle drei so einfach ohne weitere Erklärung zu sich rufen würde, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Und was meinen Sie dazu, daß wir ins Gefängnis gehen sollen?«

»Wenn wir dabei erwischt werden«, erwiderte Larkin, »dann müssen wir eine Ausrede bereit haben. Grey wird bestimmt davon erfahren und aus der Geschichte etwas machen wollen. Am besten gehen wir getrennt. Ich kann ja immer sagen, ich wollte einige Aussies besuchen, die im Gefängnis untergebracht sind. Und Sie, Mac?«

»Vom Malaiischen Regiment sind auch ein paar dort. Ich könnte einen davon besuchen. Wie ist es mit Ihnen, Peter?«

»Es sind ein paar Leute von der RAF drüben, die ich besuchen könnte.« Peter Marlowe zögerte. »Vielleicht sollte ich erst einmal nachsehen, um was es geht, und dann zurückkommen und es Ihnen erzählen.«

»Nein. Wenn Sie beim Hineingehen nicht gesehen werden, könnten Sie doch beim Herausgehen erwischt und angehalten werden. Dann würde man Sie nie wieder hineinlassen. Einen direkten Befehl mißachten und ein zweites Mal hineingehen könnten Sie nicht. Nein, ich glaube, es ist am besten, wir gehen gleich mit. Aber getrennt.« Larkin lächelte. »Geheimnisvoll, was? Möchte wissen, was da los ist.«

»Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.«

»Ach, mein Lieber«, sagte Mac. »Es ist immer schlimm, in solchen Zeiten leben zu müssen. Ich würde mich nicht sicher fühlen, wenn ich nicht hinginge – der King hat Freunde oben. Er könnte etwas wissen.«

»Wie ist es mit den Flaschen?«

Sie dachten einen Augenblick nach, dann brach Larkin das Schweigen. »Wir werden sie mitnehmen.«

»Ist das nicht gefährlich? Ich meine, wenn wir erst im Gefängnis drin sind und überraschend eine Durchsuchung gemacht wird, können wir sie nicht mehr verstecken.«

»Wenn wir erwischt werden sollen, werden wir eben erwischt.« Larkin war ernst und machte ein hartes Gesicht. »Entweder steht es so in den Sternen oder nicht.«

»He, Peter«, rief Ewart, als er Peter Marlowe die Baracke verlassen sah. »Sie haben Ihre Armbinde vergessen.«

»Oh, danke.« Peter Marlowe verfluchte sich, als er zu seinem Bett zurückging. »Einfach vergessen, das verdammte Ding.«

»Ich trage sie immer. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«

»Sie haben recht. Und vielen Dank.«

Peter Marlowe mischte sich unter die Männer, die auf dem Weg an der Mauer entlangschlenderten. Er folgte dem Weg nach Norden, bog um die Ecke, und vor ihm lag das Tor. Rasch streifte er die Armbinde ab und kam sich plötzlich nackt vor und fühlte, daß die Männer, die vorbeigingen oder näher kamen, ihn ansahen und sich verwundert fragten, warum dieser Offizier keine Armbinde trug. Vor ihm, vielleicht zweihundert Schritte entfernt, lag das Ende der nach Westen führenden Straße. Die Sperre stand jetzt offen, weil einige Arbeitskommandos von ihrer Tagesarbeit zurückkehrten. Die meisten waren erschöpft, sie zerrten riesige Anhänger mit den Baumstümpfen hinter sich her, die mit unermeßlicher Mühe aus den Sümpfen ausgegraben worden und für die Lagerküchen bestimmt waren. Peter Marlowe fiel ein, daß er am übernächsten Tag zu einem solchen Arbeitseinsatz gehen würde. Die beinahe täglichen Arbeitseinsätze auf dem Flugplatz machten ihm nichts aus. Das war leichte Arbeit. Das Holzkommando aber war etwas anderes. Es war eine gefährliche Sache, die Stämme zu schleppen. Viele kamen mit Knochenbrüchen zurück, weil es an Werkzeug fehlte, das die Arbeit erleichtert hätte. Manche brachen sich Glieder oder verstauchten sich Gelenke. Alle mußten gehen, die Gesunden ein- oder zweimal in der Woche, die Offiziere ebenso wie die Gemeinen, denn die Küchen brauchten viel Feuerholz, und es war nur gerecht, wenn die Gesunden für die Kranken mitsorgten.

Neben dem Tor stand der Militärpolizist, und auf der gegenüberliegenden Seite des Tores lehnte der koreanische Posten an der Mauer, rauchte und beobachtete träge die vorbeigehenden Männer. Der Militärpolizist sah auf das Arbeitskommando, das durch das Tor schlurfte. Auf dem Wagen lag ein Mann. Ein oder zwei Leute kamen für gewöhnlich auf diese Weise zurück, aber sie mußten schon sehr müde oder sehr krank sein, um nach Changi heimgezogen zu werden.

Peter Marlowe huschte an den abgelenkten Wachen vorbei und mischte sich unter die Männer, die sich auf dem gewaltigen Betonquadrat drängten.

Er entdeckte den Eingang in einen der Zellenblöcke und suchte seinen Weg, die Metalltreppen hinauf und über Betten und Strohsäcke hinweg. Überall waren Männer. Auf den Treppen, in den Korridoren und in den offenen Zellen – vier oder fünf in einer Zelle, die für einen einzelnen bestimmt war. Er fühlte das wachsende Entsetzen vor dem Druck, der von oben, von unten, von überall ringsum kam. Der Gestank erregte Übelkeit. Gestank verfaulender Leiber. Gestank ungewaschener Menschenleiber. Gestank einer Generation eingesperrter Menschenleiber. Gestank von Mauern, Gefängnismauern. Peter Marlowe fand Zelle 54. Die Tür war geschlossen, deshalb öffnete er sie und trat ein. Mac und Larkin waren schon da.

»Mein Gott, der Gestank in diesem Bau bringt mich um.«

»Mich auch, Mensch«, sagte Larkin. Er schwitzte. Mac schwitzte. Die Luft war stickig, und die Betonmauern waren feucht von ihrem Schwitzwasser und fleckig vom Schimmel des Schwitzwassers vieler Jahre.

Die Zelle war ungefähr zwei Meter breit und zweieinhalb Meter lang und drei Meter hoch. In der Mitte der Zelle stand an eine Wand zementiert ein Bett – ein massiver Betonklotz, einen Meter hoch und einen Meter breit und zwei Meter lang. Oben am Bett erhob sich ein Betonkopfkissen. In einer Zellenecke war eine Toilette – ein Loch im Boden, das mit dem Abflußrohr verbunden war. Der Abfluß funktionierte nicht mehr. Drei Meter über dem Boden war in einer Wand ein winziges vergittertes Fenster, aber den Himmel konnte man nicht sehen, weil die Wand sechzig Zentimeter dick war.

»Mac. Wir lassen ihm einige Minuten Zeit und verschwinden dann aus diesem verdammten Loch«, sagte Larkin.

»Einverstanden, mein Junge.«

»Machen wir wenigstens die Tür auf«, sagte Peter Marlowe, dem der Schweiß in Strömen herunterlief.

»Lassen Sie sie besser zu, Peter. Es ist sicherer«, erwiderte Larkin unbehaglich.

»Lieber tot als hier drin leben.«

»Ja. Gott sei Dank sind wir draußen.«

»He, Larkin.« Mac zeigte auf die Decken, die auf dem Betonbett lagen. »Ich verstehe nicht, wo die Männer sind, die in der Zelle wohnen. Sie können doch nicht alle bei einem Arbeitseinsatz sein.«

»Ich weiß es auch nicht.« Larkin wurde nervös. »Verschwinden wir von hier …«

Die Tür öffnete sich, und der King kam vor Freude strahlend herein. »Hallo, Leute!« Auf den Armen trug er einige Pakete, und er trat beiseite, als Tex, ebenfalls beladen, hereinkam. »Leg den Kram aufs Bett, Tex.«

Tex setzte die elektrische Kochplatte und die große Bratpfanne ab und stieß die Tür zu, und sie sahen ihm erstaunt zu.

»Geh und hol Wasser«, wandte der King sich an Tex.

»Jawohl.«

»Was ist los? Warum haben Sie uns rufen lassen?« fragte Larkin.

Der King lachte. »Wir werden uns was brutzeln.«

»Um Himmels willen! Wollen Sie damit sagen, daß Sie uns nur deshalb hierhergeholt haben? Verdammt, das hätten wir auch in unserer eigenen Unterkunft machen können!« Larkin war wütend. Der King sah ihn nur an und grinste. Er drehte ihm den Rücken zu und öffnete ein Paket. Tex kehrte mit dem Wasser zurück und stellte die Bratpfanne auf die Kochplatte.

»Rajah, hören Sie, was soll …« Peter Marlowe brach ab.

Der King leerte fast zwei Pfund Katchang-Idju-Bohnen in das Wasser. Dann fügte er Salz und zwei gehäufte Löffel Zucker hinzu. Anschließend drehte er sich wieder um und öffnete ein zweites, in Bananenblätter eingeschlagenes Paket und hielt es hoch.

»Heilige Mutter Gottes!«

Plötzlich erfüllte betäubtes Schweigen die Zelle.

Der King war begeistert von der Wirkung seiner Überraschung. »Ich habe es dir ja gesagt, Tex«, grinste er. »Du bist mir eine Piepe schuldig.«

Mac streckte die Hand aus und berührte das Fleisch, »'mahlu. Es ist echt.«

Larkin berührte das Fleisch. »Ich hatte vergessen, wie Fleisch aussieht«, erklärte er mit vor Andacht verschleierter Stimme. »Verdammt und noch mal verdammt, Sie sind ein Genie. Ein Genie.«

»Ich habe heute Geburtstag, und deshalb dachte ich, wir könnten eine kleine Feier veranstalten. Und das habe ich organisiert«, sagte der King und hielt eine Flasche hoch.

»Was ist das?«

»Sake!«

»Ich kann es nicht glauben«, stöhnte Mac. »Mann, und dies hier ist ja der ganze hintere Teil eines Schweines.« Er beugte sich vor und schnupperte daran. »Mein Gott, es ist echt, echt, echt, und frisch wie ein Frühlingsmorgen. Hurra!«

Alle lachten.

»Schließ lieber die Tür ab, Tex.« Der King wandte sich an Peter Marlowe. »Alles in Ordnung, Kumpel?«

Peter Marlowe starrte noch immer auf das Fleisch. »Verdammt, wo haben Sie das bloß her?«

»Lange Geschichte!« Der King holte ein Messer heraus, schnitt das Fleisch ein, brach dann geschickt die kleinen Hinterviertel in zwei Teile und legte sie in die Bratpfanne. Alle beobachteten fasziniert, wie er eine Prise Salz hinzugab, die Pfanne exakt mitten auf die Kochplatte rückte, sich dann auf das Betonbett fallen ließ und sich an den Beinen kratzte. »Nicht schlecht, was?«

Lange Zeit sagte niemand ein Wort.

Eine plötzliche Drehung des Türknaufs zerstörte den Zauber. Der King nickte Tex zu, der die Tür aufschloß, einen Spaltbreit öffnete und dann weit aufriß. Brough trat ein.

Er sah sich erstaunt um. Dann bemerkte er die Kochplatte. Er ging hinüber und lugte in den Topf. »Ei verdammt!«

Der King grinste. »Ich hab heute Geburtstag. Dachte, ich könnte Sie zum Abendessen einladen.«

»Angenommen.« Brough streckte Larkin die Hand hin. »Don Brough, Oberst.«

»Mein Vorname ist Grant! Kennen Sie Mac und Peter?«

»Natürlich.« Brough grinste sie an und wandte sich an Tex. »Hallo, Tex.«

»Freut mich, daß Sie da sind, Don.«

Der King wies auf das Bett. »Nehmen Sie Platz, Don. Dann müssen wir uns an die Arbeit machen!«

Peter Marlowe überlegte, wieso amerikanische Soldaten und Offiziere sich so einfach beim Vornamen nannten. Es klang weder ungehobelt noch gemacht, es schien beinahe korrekt – und er hatte auch bemerkt, daß alle Brough als ihrem Führer immer gehorchten, obwohl sie ihn einfach Don nannten.

»Was soll der Quatsch, wieso Arbeit?« fragte Brough.

Der King brachte einige Streifen einer zerschnittenen Decke hervor. »Wir werden die Tür abdichten müssen.«

»Was?« staunte Larkin ungläubig.

»Klar«, versicherte der King. »Wenn der Kram anfängt zu schmoren, dann ist was los. Sobald den Kerls das erste Düftchen in die Nase steigt – um Himmels willen, malen Sie sich selbst aus, was dann passiert. Wir könnten glatt in Stücke gerissen werden. Diese Zelle war der einzige Ort, der mir gefiel, wo wir ungestört kochen können. Der größte Teil des Geruchs zieht zum Fenster hinaus. Wenn wir die Tür gut abdichten. Im Freien könnten wir es nicht kochen, soviel steht fest.«

»Larkin hat recht«, erklärte Mac feierlich. »Sie sind ein Genie. Ich wäre nie darauf gekommen. Glauben Sie mir«, setzte er lachend hinzu, »Amerikaner gehören von jetzt an und in alle Zukunft zu meinen Freunden!«

»Danke, Mac. So, und jetzt machen wir uns aber ran.«

Die Gäste des King nahmen die Streifen der zerschnittenen Decke, stopften sie in die Spalten rings um die Tür und verhängten das vergitterte Guckloch. Als sie fertig waren, inspizierte der King ihre Arbeit. »Gut«, stellte er fest. »Und was ist jetzt mit dem Fenster?«

Sie sahen zu dem kleinen vergitterten Himmelsausschnitt hinauf, und Brough entschied: »Lassen wir es offen, bis das Zeug richtig zu schmoren anfängt. Dann hängen wir es zu und halten es so lange aus, wie wir können. Anschließend können wir es für eine Weile öffnen.« Er sah sich um. »Ich glaube, es wird nichts weiter schaden, wenn wir ab und zu den Duft hinausziehen lassen. Wie ein indianisches Rauchsignal.«

»Weht heute Wind?«

»Verdammt, keine Ahnung. Weiß es jemand?«

»He, Peter, helfen Sie mir mal rauf, mein Junge«, rief Mac.

Mac war der Kleinste, deshalb ließ Peter Marlowe ihn auf seinen Schultern stehen. Mac spähte zwischen den Stäben hindurch, feuchtete die Finger an und streckte sie hinaus.

»Beeilen Sie sich, Mac. Um Gottes willen – Sie sind kein Huhn!« rief Peter Marlowe laut.

»Muß die Windrichtung prüfen, Sie kleiner Kläffer!« Und wieder steckte er den Finger in den Mund und beleckte ihn, streckte ihn zum Gitterfenster hinaus und sah so konzentriert und so lächerlich aus, daß Peter Marlowe zu lachen begann, und Larkin stimmte in sein Lachen ein, und sie bückten sich, und Mac fiel zwei Meter tief und schürfte sich das Bein auf.

»Seht euch mein blutiges Bein an, verdammt«, knurrte Mac zwischen den Zähnen. Es war nur eine kleine Abschürfung, aber ein bißchen Blut war zu sehen. »Verdammt, fast hätte ich mir die Haut von dem ganzen verdammten Ding abgerissen.«

»Sehen Sie mal, Peter«, ächzte Larkin und hielt sich den Bauch. »Mac hat tatsächlich Blut. Ich hatte immer geglaubt, er hätte nur Kautschuksaft in den Adern!«

»Zum Teufel mit Ihnen, Sie verdammten Hunde, 'mahlu.« brüllte Mac jähzornig. Dann packte ihn ein Lachanfall, er sprang auf, riß Peter Marlowe herum und begann zu singen: »Ringel, Ringel, Rosen, Veilchen, Aprikosen …«

Und Peter Marlowe packte Broughs Arm, und Brough hängte sich bei Tex ein, und von dem Liedchen ganz hysterisch gemacht, tanzte der Männerreigen um den Kochtopf und den King herum, der mit gekreuzten Beinen dahintersaß.

Mac zerriß den Reigen. »Heil dir, Cäsar. Wir, die wir gleich essen werden, grüßen dich.«

Wie aus einem Munde brüllten sie ihm den Gruß zu und stürzten dann in einen Haufen übereinander.

»Verdammt, gehen Sie von meinem Arm herunter, Peter!«

»Sie trampeln mit dem Fuß auf meinen Eiern herum, Sie Idiot«, fluchte Larkin mit Brough.

»Entschuldigung, Grant. Ach du meine Güte! So habe ich schon seit Jahren nicht mehr gelacht.«

»He, Rajah«, rief Peter Marlowe, »ich finde, wir sollten alle mal rühren, damit es Glück bringt.«

»Gern, wenn Sie Lust haben«, erwiderte der King. Es tat ihm richtig gut, die Jungens so glücklich zu sehen.

Feierlich stellten sie sich in einer Reihe auf, und Peter Marlowe rührte das Gebräu, das jetzt heiß zu werden begann. Mac nahm den Löffel und rührte und sprach einen lästerlichen Fluch. Larkin, der sich nicht überbieten lassen wollte, begann zu rühren und sagte dabei: »Heiß, heiß, heiß, glühe, Feuer, glühe …«

»Sie sind wohl völlig übergeschnappt?« fuhr Brough auf. »Macbeth zu zitieren, um Gottes willen.«

»Wieso?«

»Es bringt Unglück, Macbeth zu zitieren. Genau wie wenn man in einer Theatergarderobe pfeift.«

»Tatsächlich?«

»Das weiß doch jeder Dussel.«

»Au verdammt. Das habe ich nicht gewußt.« Larkin runzelte die Stirn.

»Sie haben es sowieso falsch zitiert«, erklärte Brough. »Es heißt ›Spart am Werk nicht Fleiß und Mühe, Feuer sprühe, Kessel glühe‹!«

»O nein, so heißt es nicht, Yankee. Ich kenne meinen Shakespeare. Ich wette mit Ihnen um den Reis von morgen.«

»Seien Sie vorsichtig, Oberst«, warnte Mac argwöhnisch, denn er kannte Larkins Hang zum Glücksspiel. »So leicht wettet man nicht.«

»Ich habe recht, Mac«, erklärte Larkin, aber irgend etwas an dem selbstgefälligen Ausdruck auf dem Gesicht des Amerikaners gefiel ihm nicht. »Wieso sind Sie überhaupt so sicher, daß Sie recht haben?«

»Gilt die Wette?« fragte Brough dagegen.

Larkin dachte einen Augenblick nach. Er liebte das Glücksspiel – aber die Reisportion des nächsten Tages war doch ein zu hoher Einsatz. »Nein. Ich lege meine Reisration jederzeit auf den Kartentisch, aber ich will verdammt sein, wenn ich sie auf Shakespeare setze.«

»Schade«, meinte Brough. »Ich hätte eine Sonderration brauchen können. Es ist Akt 4, Szene 1, Zeile 10.«

»Verdammt, wieso können Sie das so genau sagen?«

»Da ist weiter nichts dabei«, erklärte Brough. »Ich habe am USC als Hauptfach Kunst studiert und mich besonders für Journalistik und Bühnenschriftstellerei interessiert. Ich will Schriftsteller werden, wenn ich rauskomme.«

Mac beugte sich vor und lugte in den Topf hinein. »Ich beneide Sie, mein Junge. Schriftsteller kann der wichtigste Beruf auf der ganzen Welt sein. Wenn das Geschriebene etwas taugt.«

»Was reden Sie da für einen hanebüchenen Blödsinn, Mac«, sagte Peter Marlowe. »Es gibt Millionen Dinge, die wichtiger sind.«

»Das zeigt nur wieder mal, wie wenig Sie wissen.«

»Geschäftemachen ist sehr viel wichtiger«, warf der King ein. »Ohne Handel würde die Welt stehenbleiben – und ohne Geld und ohne eine stabile Wirtschaft gäbe es niemand, der Bücher kaufen könnte.«

»Zum Teufel mit Geschäften und Wirtschaft«, fluchte Brough. »Das sind nur materielle Dinge. Es ist genau so, wie Mac sagt.«

»Mac«, sagte Peter Marlowe. »Was macht es denn so wichtig?«

»Ach, mein Junge, zunächst mal ist es was, das ich schon immer gern getan hätte und nicht kann. Ich habe es oft versucht, aber nie etwas zu Ende gebracht. Das ist das schwierigste – etwas zu Ende zu bringen. Aber am wichtigsten ist, daß Schriftsteller die einzigen sind, die etwas für diesen Planeten tun können. Ein Geschäftsmann kann überhaupt nichts tun.«

»Was für ein Quatsch«, rief der King. »Rockefeller und Morgan und Ford und Du Pont sind wohl nichts, was? Und all die anderen? Durch ihre Menschenliebe wird verdammt viel an Forschung und Bibliotheken und Krankenhäusern und Kunst finanziert. Ohne ihren Zaster wären …«

»Aber sie haben ihr Geld auf Kosten anderer gescheffelt«, unterbrach Brough ziemlich grob. »Sie konnten leicht ein paar von ihren Milliarden an die Leute zurückgeben, die sie für sie zusammengekratzt haben. Die Blutsauger …«

»Vermutlich sind Sie Demokrat?« fiel der King ihm hitzig ins Wort.

»Worauf Sie sich verlassen können. Schauen Sie sich Roosevelt an. Was der für das Land tut. Er hat es wieder hochgebracht, als die gottverdammten Republikaner …«

»Das ist doch Quatsch, und Sie wissen es genau. Das hat überhaupt nichts mit den Republikanern zu tun. Es war ein Wirtschaftszyklus …«

»Gehen Sie mir doch weg mit Wirtschaftszyklus. Die Republikaner …«

»He, Leute«, schaltete Larkin sich freundlich ein, »keine Politik, solange wir nicht gegessen haben, was meinen Sie dazu?«

»Einverstanden«, knurrte Brough grimmig, »aber der Kerl glaubt noch an den Weihnachtsmann.«

»Mac, warum ist es so wichtig? Ich kapiere es immer noch nicht.«

»Ganz einfach, ein Schriftsteller kann auf ein Stückchen Papier eine Idee oder eine Ansicht kritzeln. Taugt er was, kann er ganze Völkerstämme wild machen, auch wenn er auf Toilettenpapier gekritzelt hat. Und er ist der einzige in unserer modernen Wirtschaft, der das kann – der die Welt verändern kann. Ein Geschäftsmann kann es nicht – ohne bedeutende Geldmittel. Ein Politiker kann es nicht – ohne bedeutende Position oder Macht. Ein Plantagenbesitzer kann es nicht, ganz bestimmt nicht. Und ein Buchhalter kann es auch nicht, stimmt's, Larkin?«

»Sicher.«

»Aber Sie reden von Propaganda«, sagte Brough. »Ich möchte keine Propaganda schreiben.«

»Haben Sie schon mal für Filme geschrieben, Don?« fragte der King.

»Ich habe bis jetzt noch nichts verkauft, und ein Schriftsteller ist man erst, wenn man etwas verkauft hat. Aber Filme sind verdammt wichtig. Sie wissen doch, daß Lenin gesagt hat, Filme wären das wichtigste Propagandamedium, das je erfunden worden ist?«

Er sah, daß der King den Mund aufmachen wollte. »Und ich bin noch lange kein Kommunist, Sie Lümmel, nur weil ich Demokrat bin.« Er wandte sich an Mac. »Nicht zu fassen, wenn man Lenin oder Stalin oder Trotzki liest, wird man gleich Kommunist geschimpft.«

»Aber Sie müssen doch zugeben, Don«, erwiderte der King, »daß viele Demokraten Rote sind.«

»Seit wann bedeutet es, daß man Kommunist ist, wenn man für die Russen ist? Vergessen Sie nicht, sie sind unsere Verbündeten!«

»Das bedaure ich – historisch gesehen«, warf Mac ein.

»Warum?«

»Wir werden hinterher viel Ärger haben. Insbesondere im Osten. Die Leute haben viel Ärger verursacht, sogar schon vor dem Krieg.«

»Fernsehen wird die große Masche der Zukunft sein«, sagte Peter Marlowe, der ein Dampffähnchen beobachtete, das dicht über dem Spiegel der quallenden Flüssigkeit im Topf tanzte. »Wissen Sie, ich habe eine Vorführung aus dem Alexandra Palace in London gesehen. Baird sendet einmal die Woche ein Programm.«

»Ich habe schon vom Fernsehen gehört«, ließ Brough sich vernehmen, »aber nie welches gesehen.«

Der King nickte. »Ich auch nicht, aber das könnte zu einem ganz großen Geschäft werden.«

»In den Staaten nicht, soviel ist gewiß«, knurrte Brough. »Denken Sie an die Entfernungen! Verdammt, das mag in einem dieser Kleinstaaten gehen, etwa in England, aber doch nicht in einem richtigen Land wie den Staaten.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Peter Marlowe und wurde ganz steif.

»Ich meine damit, daß dieser Krieg ewig weitergehen würde, wenn wir nicht wären. Schließlich sind es unser Geld und unsere Waffen und unsere Macht …«

»Hören Sie mal, Bester, wir haben es ganz gut allein geschafft – wir haben euch Armleuchtern die Zeit verschafft, euch vom Arsch zu erheben. Es ist genauso euer Krieg wie unserer.« Peter Marlowe funkelte Brough an, der zurückfunkelte.

»Scheiße! Verdammt, warum schlachtet ihr Europäer euch nicht einfach gegenseitig ab, wie ihr es jahrhundertelang getan habt, und laßt uns in Ruhe? Das begreife ich nicht. Wir mußten euch früher schon heraushauen …«

Und im Nu stritten und fluchten alle, und keiner hörte zu, und jeder hatte eine sehr feste Ansicht, und jede Ansicht war richtig.

Der King schüttelte zornig die Faust zu Brough hin, der seinerseits wieder die Faust schüttelte, und Peter Marlowe schrie auf Mac ein, als plötzlich heftig an die Tür gepoltert wurde.

Augenblickliche Stille.

»Was soll der ganze verdammte Streit?« erkundigte sich eine Stimme.

»Bist du's, Griffiths?«

»Denkst du, es ist der verdammte Adolf Hitler höchstpersönlich? Wollt uns wohl alle ins Kittchen bringen, was?«

»Nein. Entschuldigung.«

»Verdammt, reißt die Schnauze nicht so weit auf!«

»Wer ist das?« wollte Mac wissen.

»Griffiths. Ihm gehört die Zelle.«

»Wie?«

»Klar, ich habe sie für fünf Stunden gemietet. Drei Piepen die Stunde. Man kriegt nichts umsonst.«

»Sie haben die Zelle gemietet?« wiederholte Larkin ungläubig.

»Genau. Dieser Griffiths ist ein gerissener Geschäftsmann«, erklärte der King. »Ringsum sind Tausende von Männern. Nirgends ist man ungestört und hat seine Ruhe. Dieser Limey geht nun hin und vermietet die Zelle an jeden, der allein sein möchte. Ich könnte mir eine bessere Zuflucht vorstellen, aber Griffiths macht ein recht gutes Geschäft.«

»Möchte wetten, daß es nicht seine Idee war«, sagte Brough.

»Hauptmann, ich kann nicht lügen.« Der King lächelte. »Ich muß beichten, daß es meine Idee war. Aber Griffiths verdient genug, daß er und seine Einheit gut leben können.«

»Wieviel verdienen Sie daran?«

»Nur zehn Prozent.«

»Wenn es nur zehn Prozent sind, dann ist es angemessen«, erklärte Brough.

»Es sind tatsächlich nur zehn Prozent«, antwortete der King. Der King hätte Brough nie angelogen, aber nicht etwa, weil es diesen etwas angegangen hätte, was er tat, verdammt, nein.

Brough beugte sich vor und rührte im Topf. »So, Leute, es kocht.«

Alle drängten sich um ihn. Ja, es kochte tatsächlich.

»Jetzt machen wir lieber das Fenster zu. Das Zeug wird jeden Augenblick anfangen zu riechen.«

Sie hängten eine Decke vor das vergitterte Fenster, und bald war die Zelle voller Duft.

Mac, Larkin und Tex hockten an der Wand und hielten die Augen auf den Kochtopf und seinen brodelnden Inhalt gerichtet. Peter Marlowe saß auf der anderen Bettseite, und da er dem Topf am nächsten war, rührte er von Zeit zu Zeit darin.

Das Wasser sprudelte immer mehr und ließ die zarten kleinen Bohnen wie Halbmonde an die Oberfläche schießen und dann wieder wie Kaskaden in die Tiefen der Flüssigkeit hinabsinken. Eine Dampfwolke schoß hervor und brachte den vollen und reichen Duft des Fleischklumpens mit sich. Der King beugte sich vor und warf eine Handvoll einheimischer Kräuter hinein: Gelbwurz, Kajang, Huan, Taka und Setzzwiebeln und Knoblauch, und das alles verstärkte noch den Duft.

Als das Gericht zehn Minuten lang im Topf geblubbert hatte, warf der King die grünen Papayas in den Topf.

»Verrückt«, sagte er. »Man könnte nach dem Krieg ein Vermögen verdienen, wenn man eine Möglichkeit zur Dehydrierung der Papaya fände. Das Zeug würde einen Büffel mürbe machen!«

»Die Malaien haben es schon immer verwendet«, antwortete Mac, aber es hörte ihm niemand richtig zu, nicht einmal er selbst hörte sich richtig zu, denn überall rings um sie hing der volle, würzige Duft des Dampfes.

Der Schweiß perlte ihnen über Brust und Kinn und Beine und Arme hinab. Aber sie nahmen kaum den Schweiß oder die Enge wahr. Sie wußten nur, daß es kein Traum war, daß Fleisch kochte – dort, vor ihren Augen, und daß sie bald, sehr bald schon essen würden.

»Wo haben Sie es her?« fragte Peter Marlowe, und es interessierte ihn eigentlich gar nicht. Er mußte einfach etwas sagen, um den fast erstickenden Zauber zu zerreißen.

»Es ist Hawkins' Hund«, antwortete der King, der nichts anderes mehr dachte als: mein Gott, riecht das gut, oder einfach: riecht das gut!

»Hawkins' Hund?«

»Meinen Sie Rover?«

»Sein Hund?«

»Ich dachte, es wäre ein Spanferkel!«

»Hawkins' Hund?«

»Allmächtiger!«

»Meinen Sie damit, daß das Rovers Hinterbeine sind?« fragte Peter Marlowe bestürzt.

»Jawohl«, antwortete der King. Jetzt war das Geheimnis heraus, und jetzt machte es ihm auch nichts mehr aus. »Ich wollte es Ihnen erst hinterher sagen, aber, verdammt, was ist schon dabei? Jetzt wissen Sie es.«

Sie blickten einander entsetzt an.

Dann sagte Marlowe: »Mutter Gottes. Hawkins' Hund!«

»So hören Sie doch«, sagte der King ganz sachlich. »Was ist schon dabei? Ich habe bestimmt noch nie einen Hund gesehen, der so reinlich war und nur ganz saubere Dinge gefressen hat. Er war viel reinlicher als ein Schwein. Oder auch als ein Huhn. Fleisch ist Fleisch. Ganz einfach!«

Mac knurrte verdrießlich: »Völlig richtig. Es ist absolut nichts Unrechtes, Hundefleisch zu essen. Die Chinesen essen es immer. Eine Delikatesse. Jawohl. Ganz bestimmt.«

»Jawohl«, sagte Brough, halb überzeugt, halb angeekelt. »Aber wir sind nun mal keine Chinesen, und das ist Hawkins' Hund!«

»Ich komme mir wie ein Kannibale vor«, sagte Peter Marlowe.

»Sehen Sie«, erwiderte der King, »es ist genauso, wie Mac gesagt hat. Es ist nichts Unrechtes, Hundefleisch zu essen, riechen Sie doch mal, um Himmels willen!«

»Riechen Sie mal!« rief Larkin für sie alle. Es fiel schwer, zu reden, wenn man beinahe an seinem Speichel erstickte. »Ich rieche nur noch das kochende Fleisch im Topf, und es ist der herrlichste Duft, den ich je gerochen habe, und ich schere mich den Teufel darum, ob es Rover ist oder nicht. Ich will essen.« Er rieb sich heftig den Bauch. »Ich weiß nicht, wie es mit euch Hunden ist, ich bin jedenfalls so hungrig, daß ich glatt Krämpfe kriege. Der Geruch stellt was mit meinem Stoffwechsel an, das einfach nicht normal ist.«

»Mir ist ganz übel. Und das hat nichts mit der Tatsache zu tun, daß es Hundefleisch ist«, erklärte Peter Marlowe. Dann setzte er fast klagend hinzu: »Ich möchte einfach nicht Rover essen.« Er sah zu Mac hinüber. »Wie sollen wir hinterher Hawkins je wieder in die Augen sehen?«

»Weiß ich auch nicht, mein Junge. Ich werde in eine andere Richtung sehen. Ja, ich glaube nicht, daß ich ihm in die Augen sehen könnte.« Macs Nasenflügel bebten, und er sah zum Kochtopf hinüber. »Das riecht so gut.«

»Natürlich«, sagte der King höflich, »wer nicht essen will, kann weggehen.«

Niemand rührte sich. Dann lehnten sich alle gedankenverloren zurück. Sogen den Duft ein. Herrlich.

»Es ist nicht schockierend, wenn man darüber nachdenkt«, sagte Larkin, mehr um sich selbst als um die anderen zu überzeugen. »Denkt doch mal nach, wie zärtlich wir mit unseren Hühnern umgehen. Dennoch haben wir nichts dagegen, sie zu essen – oder ihre Eier.«

»Stimmt, mein Junge. Und denken Sie auch noch an die Katze, die wir gefangen und gegessen haben? Wir haben uns nichts daraus gemacht, nicht wahr, Peter?«

»Nein, aber das war ja auch ein streunendes Tier. Das hier ist Rover!«

»Gewesen. Jetzt ist es nur noch Fleisch.«

»Sind Sie das gewesen, die die Katze erwischt haben?« fragte Brough, der unwillkürlich böse wurde. »Die vor sechs Monaten?«

»Nein. Das war auf Java.«

Brough sagte: »Ach so.« Dann warf er zufällig einen Blick zum King hinüber.

»Ich hätte es mir ja denken können«, explodierte er. »Sie, Sie verdammter Hund. Und wir haben vier Stunden lang das ganze Lager abgesucht.«

»Sie sollten nicht gleich hochgehen, Don. Wir haben sie erwischt. Es war immerhin ein amerikanischer Sieg.«

»Meine Aussies sind nicht mehr auf Draht«, brummte Larkin.

Der King hob den Löffel, und seine Hand zitterte, als er das Essen kostete. »Schmeckt prima.« Dann stieß er den Löffel in das Fleisch. Es war immer noch hart bis auf den Knochen. »Es wird noch eine Stunde dauern.«

Nach weiteren zehn Minuten probierte er erneut. »Vielleicht etwas mehr Salz. Was meinen Sie, Peter?«

Peter Marlowe kostete. Es schmeckte ja so gut, mein Gott, so gut. »Eine Prise, nur eine Prise.«

Alle kosteten abwechselnd. Eine Prise Salz, ein klein wenig mehr Huan, eine Messerspitze Zucker, noch ein Scheibchen Gelbwurz. Und sie setzten sich wieder hin, um halb erstickt in der vollendeten Marterzelle weiterzuwarten.

Von Zeit zu Zeit zogen sie die Decke vom Fenster weg und ließen den Duft hinaus und etwas frische Luft herein.

Und draußen schwebte eine leichte Brise über Changi, und drinnen im Gefängnis krochen Duftschleier durch die Tür auf den Gang hinaus und erfüllten die Luft.

»Großer Gott, Smithy, riechst du's?«

»'türlich riech ich's. Denkste vielleicht, ich hätte keine Nase? Woher kommt es?«

»Wart mal 'nen Augenblick! Muß vom Gefängnis kommen. Von irgendwo da oben.«

»Möchte wetten, daß die gelben Hunde direkt vor dem verdammten Zaun kochen.«

»Du hast recht. Die Schweine.«

»Ich glaube nicht, daß es die Japsen sind. Es scheint aus dem Gefängnis herauszukommen.«

»Mann, das ist doch Quatsch! Hört euch den Smithy an. Seht ihn an, wie er wittert, genau wie 'ne verdammte Töle.«

»Und ich sag euch, ich kann riechen, daß es aus dem Gefängnis kommt.«

»Das ist doch nur der Wind. Der Wind kommt aus der Richtung.«

»Der Wind hat noch nie so gerochen. Es ist gebratenes Fleisch, sag ich euch. Es ist Rindfleisch. Ich möchte um mein Leben wetten. Gebratenes Rindfleisch.«

»Eine neue Masche der Japsen, uns zu quälen. Verdammte Schweinehunde! Was für ein gemeiner Trick!«

»Vielleicht bilden wir es uns auch nur ein. Man sagt ja, man könne sich einen Geruch einbilden.«

»Verdammt, können wir alle uns das einbilden? Seht euch doch die Männer da an. Alle sind stehengeblieben.«

»Wer sagt das?«

»Was?«

»Du hast doch gesagt: ›Man sagt ja, man könne sich einen Geruch einbilden.‹ Wer ist ›man‹?«

»Mein Gott, Smithy. Das ist doch nur ein Sprichwort.«

»Aber wer ist ›man‹?«

»Verdammt, woher soll ich das wissen!«

»Dann hör auf mit dem Gewäsch von ›man‹ hat dies oder ›man‹ hat das gesagt. Das kann einen ja verrückt machen.«

Die Männer in der Zelle, die Auserwählten des King, sahen zu, wie er mit dem Schöpflöffel eine Portion in ein Eßgeschirr schöpfte und es Larkin reichte. Ihre Augen wichen von Larkins Teller und gingen zum Schöpflöffel zurück und dann zu Mac und zum Schöpflöffel zurück und dann zu Brough und zum Schöpflöffel zurück und dann zu Tex und zum Schöpflöffel zurück und dann zu Peter Marlowe und zum Schöpflöffel zurück und dann zu der Portion des King. Und als alle versorgt waren, machten sie sich über das Essen her, und es blieb genug übrig für mindestens zwei weitere Portionen für jeden.

Es war eine Qual, so gut zu essen.

Die Katchang-Idju-Bohnen waren zerfallen und hatten sich beinahe aufgelöst in der dicken Suppe. Das Papaya hatte das Fleisch gar werden lassen und hatte bewirkt, daß es sich von den Knochen löste, und das Fleisch fiel in Stücke, die von den Kräutern und dem Papaya und den Bohnen dunkelbraun waren. Der Eintopf war dick wie ein echtes Eintopfgericht, wie ein sogenanntes Irish Stew, und die kleinen Punkte honiggelber Fettkügelchen standen an der Oberfläche in ihren Geschirren.

Der King sah von seiner blankgegessenen Schüssel auf. Er winkte Larkin zu. Larkin reichte ihm einfach sein Eßgeschirr, und schweigend nahm jeder noch eine Portion entgegen. Auch diese verschwand. Und dann eine letzte Portion.

Schließlich stellte der King seine Schüssel weg. »Verdammt.«

»Ganz große Klasse!« sagte Larkin.

»Einfach phantastisch«, sagte Peter Marlowe. »Ich hatte vergessen, wie es ist, zu kauen. Die Kiefer tun mir weh.«

Mac löffelte sorgfältig die letzte Bohne aus dem Eßgeschirr und rülpste. Es war ein herrliches Rülpsen. »Ich sage euch, Leute, ich habe in meinem Leben schon einiges gegessen, angefangen vom Roastbeef bei Simpson in Piccadilly bis zur Reistafel im Hotel des Indes auf Java, und nichts, aber auch gar nichts ist annähernd so gut gewesen wie das hier. Nichts.«

»Ich gebe Ihnen recht«, sagte Larkin und setzte sich bequem zurecht. »Selbst im besten Lokal in Sydney – und die Steaks sind dort wirklich großartig – hat es mir nie so gut geschmeckt.«

Der King rülpste und reichte eine Packung Kooa herum. Dann öffnete er die Flasche Sake und nahm einen tiefen Schluck. Der Wein war rauh und stark, aber er nahm den übervollen Geschmack im Mund weg.

»Hier«, sagte er und reichte die Flasche Peter Marlowe.

Alle tranken, und alle rauchten.

»He, Tex, wie wäre es mit etwas Kaffee?« gähnte der King.

»Warten wir besser noch ein paar Minuten, bevor wir die Tür öffnen«, meinte Brough, und es war ihm gleichgültig, ob die Tür geöffnet wurde oder nicht, solange man ihn nur in Ruhe ließ und er sich ausruhen konnte. »O Gott, fühle ich mich wohl!«

»Ich bin so voll, daß ich jeden Augenblick platzen werde«, sagte Peter Marlowe. »Das war zweifellos die herrlichste …«

»Herrgott, Peter. Wir haben es alle schon gesagt. Wir wissen es alle.«

»Ich mußte es einfach sagen.«

»Wie haben Sie es geschafft?« wandte Brough sich an den King und unterdrückte das Gähnen.

»Max hat mir erzählt, daß der Hund die Henne gefressen hat. Ich habe Dino zu Hawkins geschickt. Er hat ihm den Hund gegeben. Wir haben Kurt geholt, daß er ihn schlachtet. Mein Anteil waren die Hinterbacken.«

»Wieso hat Hawkins ihn Dino gegeben?« fragte Peter Marlowe.

»Er ist Tierarzt.«

»Ach so.«

»Quatsch, das ist er nicht«, brauste Brough auf. »Er ist Matrose bei der Handelsmarine.«

Der King zuckte die Achseln. »Wennschon, heute war er Tierarzt. Hören Sie mit dem Meckern auf!«

»Man muß es Ihnen lassen, verdammt, Sie verstehen es.«

»Danke, Don.«

»Wie – wie hat Kurt ihn getötet?« fragte Brough.

»Ich habe ihn nicht danach gefragt.«

»Völlig richtig, mein Junge«, sagte Mac. »Und jetzt lassen wir das Thema fallen, ja?«

»Guter Gedanke.«

Peter Marlowe stand auf und streckte sich. »Was machen wir mit den Knochen?« fragte er.

»Wir schmuggeln sie hinaus, wenn wir weggehen.«

»Wie wäre es mit einem kleinen Pokerspielchen?« erkundigte Larkin sich.

»Gute Idee«, stimmte der King sofort zu. »Tex, du setzt den Kaffee auf. Peter, Sie räumen ein wenig auf. Grant, Sie richten die Tür her. Don, wie wäre es, wenn Sie die Teller aufstapelten?«

Brough stand schwerfällig auf. »Verdammt, und was tun Sie?«

»Ich?« Der King hob die Brauen. »Ich bleibe einfach sitzen.«

Brough sah ihn an. Alle sahen ihn an. Dann sagte Brough: »Ich habe gute Lust, Sie zum Offizier zu befördern – nur damit ich dann das Vergnügen habe, Sie zu degradieren.«

»Ich wette zwei gegen fünf«, erwiderte der King, »daß Ihnen das gar nichts nützen würde.«

Brough sah die übrigen an und blickte dann zum King zurück. »Sie haben wahrscheinlich recht. Ich würde wohl vor einem Kriegsgericht landen.« Er lachte. »Aber es gibt kein Gesetz, das mir verbietet, Ihnen Ihre Moneten abzuknöpfen.«

Er zog eine Fünfdollarnote heraus und nickte zu den Spielkarten in des King Händen hin.

»Die höhere Karte gewinnt!«

Der King zog die Karten fächerförmig auseinander. »Ziehen Sie eine.«

Brough zeigte schadenfroh die Königin vor. Der King sah auf das Kartenspiel und zog dann eine Karte heraus. Es war ein Bube.

Brough grinste. »Doppelt oder nichts.«

»Don«, warnte der King freundlich, »geben Sie es auf, solange Sie im Vorteil sind.« Er zog wieder eine Karte und drehte sie mit dem Bild nach oben. Ein As. »Ich könnte genauso leicht noch ein As ziehen – es sind meine Karten!«

»Verdammt, warum haben Sie mich dann nicht gleich geschlagen?« fragte Brough.

»Aber, Hauptmann, Sir.« Des King Belustigung war groß. »Es wäre unhöflich gewesen, Ihnen Ihr Geld abzunehmen. Schließlich sind Sie unser unerschrockener Führer.«

»Sie mit Ihrem blöden Quatsch!« Brough begann die Teller und Eßgeschirre aufzustapeln. »Wenn du sie nicht besiegen kannst, dann tritt in ihre Reihen.«

In der Nacht, während die meisten im Lager schliefen, lag Peter Marlowe unter seinem Moskitonetz wach, weil er nicht schlafen wollte. Er stand aus dem Bett auf und tastete sich durch das Gewirr von Moskitonetzen hindurch und ging hinaus. Brough war ebenfalls wach.

»Hallo, Peter«, rief Brough leise. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Können Sie auch nicht schlafen?«

»Ich wollte einfach nicht. Ich fühle mich zu wohl.«

Über ihnen stand die samtene Nacht.

»Herrliche Nacht.«

»Ja.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, erwiderte Peter Marlowe.

»Sie sind zu beneiden. Ich glaube, es wäre nicht so schlimm, wenn man nicht verheiratet wäre.« Brough schwieg einen Augenblick. »Ich werde fast verrückt vor lauter Grübeln, ob sie noch da ist oder wo sie ist. Was sie wohl tut? Was tut sie jetzt im Augenblick?«

»Nichts.« Peter Marlowe gab automatisch die Antwort, und N'ai stand lebhaft vor seinem inneren Auge. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Es war, als hätte er gesagt: »Hören Sie auf zu atmen.«

»Nicht daß ich ihr oder überhaupt einer Frau einen Vorwurf machen würde. Wir sind ja schon so lange Zeit weg, so lange Zeit. Es ist nicht ihre Schuld.« Brough drehte sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette aus ein wenig getrocknetem Tee und einer Kooakippe. Als sie brannte, nahm er einen tiefen Lungenzug und reichte sie dann Peter Marlowe hinüber.

»Danke, Don.« Er rauchte und reichte sie zurück.

Schweigend und von Sehnsucht zerrissen, rauchten sie die Zigarette zu Ende. Dann stand Brough auf. »Ich glaube, ich haue mich jetzt hin. Bis morgen, Peter.«

»Gute Nacht, Don.«

Peter Marlowe sah wieder in die Nacht hinaus und ließ seine sehnsüchtigen Gedanken erneut zu N'ai hin treiben. Und er wußte, daß er heute nacht, genauso wie Brough, nur eines tun konnte, sonst würde er nie einschlafen.