21

An jenem Abend verschenkte Peter Marlowe sein Essen. Er schenkte es nicht Mac oder Larkin, wie er das eigentlich hätte tun sollen, sondern gab es Ewart. Er wußte, daß man ihn gezwungen hätte, mit der Sprache herauszurücken, wenn er es jemandem von seiner Einheit gegeben hätte. Und es hatte keinen Sinn, es ihnen zu erzählen.

Am Nachmittag war er krank vor Schmerz und Sorge zu Dr. Kennedy gegangen. Wieder hatte die Qual ihn fast verrückt gemacht, als der Verband abgerissen wurde. Dann hatte der Doktor einfach gesagt: »Das Gift ist oberhalb des Ellbogens. Ich kann unterhalb amputieren, aber das ist Zeitverschwendung. Am besten machen wir die Operation gleich auf einmal. Sie werden einen netten Stumpf haben – mindestens zwölf Zentimeter von der Schulter aus. Das reicht aus, um einen künstlichen Arm anschnallen zu können. Völlig ausreichend.« Kennedy hatte die Finger ruhig zu einem Tempel zusammengelegt. »Verschwenden Sie nicht noch mehr Zeit, Marlowe«, und dabei hatte er trocken aufgelacht und gescherzt: »Domani è troppo tardi«, und als Peter Marlowe ihn verständnislos angesehen hatte: »Morgen kann es zu spät sein.«

Peter Marlowe war zu seinem Bett zurückgetaumelt und hatte dagelegen in einem Pfuhl von Furcht. Dann war das Abendessen gekommen, und er hatte es weggegeben.

»Haben Sie Fieber?« fragte Ewart glücklich mit dem zusätzlichen Essen im Bauch.

»Nein.«

»Kann ich Ihnen etwas besorgen?«

»Lassen Sie mich um Himmels willen in Ruhe!« Peter Marlowe drehte Ewart den Rücken zu. Nach einer Weile stand er auf, verließ die Baracke und bedauerte, daß er eingewilligt hatte, mit Mac, Larkin und Pater Donovan ein oder zwei Stunden Bridge zu spielen. Du bist ein Idiot, sagte er bitter zu sich. Du hättest im Bett bleiben sollen, bis es Zeit ist, durch den Draht zu schlüpfen und das Geld zu holen.

Aber er wußte, daß er nicht Stunde um Stunde einfach hätte auf seinem Bett liegen können, bis er ohne Gefahr weggehen konnte. Es war schon besser, wenn man etwas zu tun hatte.

»Hallo, Kamerad!« Auf Larkins Gesicht zeigten sich beim Lächeln tausend kleine Fältchen.

Peter Marlowe erwiderte das Lächeln nicht. Er setzte sich einfach grimmig in die Tür. Mac sah zu Larkin hinüber, der kaum merklich die Achseln zuckte.

»Peter«, sagte Mac und zwang sich zu guter Laune, »die Nachrichten werden von Tag zu Tag besser, nicht? Dauert nicht mehr lange, dann sind wir raus.«

»Bestimmt!« bestätigte Larkin.

»Sie leben ja in einem Narrenparadies. Wir werden nie aus Changi herauskommen.« Peter Marlowe wollte nicht grob sein, aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten. Er wußte, daß Mac und Larkin verletzt waren, tat aber nichts, um das zu mildern. Er war besessen von dem Gedanken an den zwölf Zentimeter langen Stumpf. Kälte zerfraß sein Rückgrat und bohrte sich in die Hoden. Verdammt, wie konnte der King wirklich helfen? Wie? Sei doch realistisch. Wenn es des King Arm wäre – was könnte ich tun, auch wenn ich sein allerbester Freund wäre? Nichts. Ich glaube nicht, daß er mir irgendwie helfen kann – rechtzeitig. Nein. Am besten siehst du der Sache ins Auge, Peter. Entweder amputieren oder sterben. Ganz einfach. Und wenn man es richtig ansieht, dann kannst du gar nicht sterben. Noch nicht. Wenn man erst einmal geboren ist, dann ist man gezwungen weiterzuleben. Unter allen Umständen.

Mensch, sagte Peter Marlowe zu sich selbst, sei lieber realistisch. Es gibt nichts, was der King tun kann, nichts. Und du hättest ihn nicht so in Verlegenheit bringen dürfen. Es ist deine Sache, nicht seine. Hol einfach das Geld, gib es ihm, geh zum Lazarett hinauf, leg dich auf den Tisch und laß dir den Arm abschneiden.

So saßen sie also zu dritt – er, Mac und Larkin – in der übelriechenden Nacht. Schweigend. Als Pater Donovan sich zu ihnen setzte, zwangen sie ihn, etwas Reis und Blachang zu essen. Sie ließen es ihn auf der Stelle essen, denn hätten sie es nicht getan, dann hätte er es weggegeben, so wie er den größten Teil seiner Rationen weggab.

»Sie sind sehr nett zu mir«, sagte Donovan. Er zwinkerte, als er hinzusetzte: »Wenn Sie drei jetzt noch Ihre Irrwege erkennen und auf die richtige Seite des Zaunes herüberkommen würden, dann hätten Sie mir den Abend vollkommen gemacht.«

Mac und Larkin lachten mit ihm. Peter Marlowe lachte nicht.

»Was ist los?« fragte Larkin, und Schärfe klang aus seiner Stimme. »Sie benehmen sich schon den ganzen Abend wie ein wilder Hund mit dem Wolf am Arsch.«

»Es ist doch nicht schlimm, wenn man mal ein wenig anders ist als sonst«, sagte Donovan schnell, um das ärgerliche Schweigen zu überbrücken. »Die Nachrichten sind wirklich sehr gut, nicht wahr?«

Nur Peter Marlowe war von der Atmosphäre der Freundschaft ausgeschlossen, die den kleinen Raum erfüllte. Er wußte, daß seine Gegenwart niederdrückend wirkte, aber er konnte nichts daran ändern. Nichts.

Das Spiel begann, und Pater Donovan eröffnete es mit zwei Pik.

»Passe«, brummte Mac.

»Drei Karo«, meldete Peter Marlowe, und er hatte es kaum gesagt, da wünschte er schon, er hätte es nicht gesagt, denn einfältigerweise hatte er sein Blatt überreizt und hatte Karo gemeldet, während er eigentlich Herz hätte sagen sollen.

»Passe«, knurrte Larkin gereizt. Es tat ihm jetzt leid, daß er das Spiel vorgeschlagen hatte. Es machte keinen Spaß.

»Drei Pik«, bot Pater Donovan.

»Passe«, erklärte auch Peter Marlowe, und alle sahen ihn überrascht an.

Pater Donovan lächelte. »Sie sollten mehr Glauben …«

»Ich bin des Glaubens müde.« Die Worte kamen plötzlich und grob und sehr zornig.

»Entschuldigung, Peter. Ich wollte nur …«

»Jetzt hören Sie aber, Peter«, unterbrach Larkin scharf. »Nur weil Sie schlechter Laune sind …«

»Ich kann meine eigenen Ansichten haben, und ich finde, es war ein schlechter Witz«, brauste Peter Marlowe auf. Dann drehte er sich schnell zu Donovan um. »Nur weil Sie sich selbst zum Märtyrer machen, indem Sie Ihr Essen verschenken und in den Mannschaftsbaracken schlafen, gibt Ihnen das wohl das Recht, die Autorität zu sein. Glaube ist nichts als ein Haufen Nichts. Was bringt er Ihnen ein? Nichts! Glaube ist für kleine Kinder – und genauso ist es mit Gott. Verdammt, was kann ER schon tun? Wirklich tun? He? He?«

Mac und Larkin starrten Peter Marlowe an und erkannten ihn nicht wieder.

»Er kann heilen«, sagte Pater Donovan, der von dem Gangrän wußte. Er wußte viele Dinge, die er gar nicht wissen wollte.

Peter Marlowe warf klatschend die Karten auf den Tisch. »Scheiße«, brüllte er wie ein Wahnsinniger. »Das ist Scheiße, und Sie wissen es genau. Und noch etwas, weil wir eben bei dem Thema sind. Gott! Damit Sie es wissen, ich glaube, Gott ist ein Irrer, ein Sadist, ein böser Irrer, ein Blutsauger …«

»Haben Sie völlig den Verstand verloren, Peter?« explodierte Larkin.

»Nein, das habe ich keineswegs. Sehen Sie doch Gott an«, tobte Peter Marlowe, und sein Gesicht war verzerrt. »Gott ist nichts als böse – wenn ER wirklich Gott ist. Sehen Sie sich doch all das Blutvergießen an, das im Namen Gottes vollbracht worden ist.« Er schob das Gesicht näher zu dem Donovans hin. »Die Inquisition. Erinnern Sie sich? All die Tausende, die verbrannt und zu Tode gemartert wurden, in Seinem Namen? Von den katholischen Sadisten? Und wir wollen noch nicht einmal von den Azteken und Inkas und den Millionen der armen verfluchten Indianer reden. Und auch nicht von den Protestanten, die die Katholiken verbrannten und umbrachten; und von den Katholiken, den Juden und den Mohammedanern, und den Juden, noch mehr Juden – und den Mormonen und den Quäkern und der ganzen stinkigen Bande. Töten, martern, verbrennen! Hauptsache, es geschieht im Namen Gottes, dann haben sie recht. Was für eine Heuchelei! Kommen Sie mir nicht mit Glauben! Das ist nichts.«

»Und dennoch glauben Sie an den King«, erwiderte Pater Donovan ruhig.

»Vermutlich wollen Sie gleich sagen, er sei ein Werkzeug Gottes?«

»Vielleicht ist er das. Ich weiß es nicht.«

»Das muß ich ihm erzählen.« Peter Marlowe lachte hysterisch. »Er wird sich totlachen.«

»Hören Sie mal, Marlowe!« Larkin stand zornbebend auf. »Entschuldigen Sie sich oder machen Sie, daß Sie rauskommen!«

»Keine Sorge, Oberst«, gab Peter Marlowe scharf zurück, »ich gehe schon.« Er stand auf und starrte sie an, haßte sie, haßte sich selbst. »Hören Sie, Pfaffe. Sie sind ein Witz. Ihr Frack ist ein Witz. Sie sind alle ein unheiliger Witz, Sie und Gott. Sie dienen nicht Gott, denn Gott ist der Teufel. Sie sind der Diener des Teufels.« Dann fegte er einige Karten auf dem Tisch zusammen, nahm sie, warf sie Pater Donovan ins Gesicht und stürmte in die Dunkelheit hinaus.

»Was ist um Gottes willen in Peter gefahren?« fragte Mac und brach das entsetzte Schweigen.

»Um Gottes willen!« antwortete Pater Donovan mitfühlend. »Peter hat Gangrän. Er muß sich den Arm amputieren lassen, sonst stirbt er. Man konnte die violetten Streifen oberhalb des Ellbogens deutlich sehen.«

»Was?« Larkin starrte Mac wie versteinert an. Dann standen beide gleichzeitig auf und wollten hinauslaufen. Aber Pater Donovan rief sie zurück.

»Warten Sie, Sie können nichts für ihn tun.«

»Verdammt, es muß etwas geben.« Larkin stand in der Tür. »Der arme Kerl – und ich dachte – der arme Kerl …«

»Man kann nichts anderes tun als warten. Außer glauben und beten. Vielleicht wird der King helfen, vielleicht kann er helfen.« Dann setzte Pater Donovan müde hinzu: »Der King ist der einzige, der helfen kann.«

Peter Marlowe taumelte in die amerikanische Baracke. »Ich hole jetzt das Geld«, murmelte er dem King zu.

»Sind Sie verrückt? Es sind zu viele Leute in der Gegend.«

»Zum Teufel mit den Leuten«, knirschte Peter Marlowe zornig. »Wollen Sie das Geld oder nicht?«

»Setzen Sie sich. Setzen Sie sich!« Der King zwang Peter Marlowe, sich zu setzen, gab ihm eine Zigarette, zwang ihn, Kaffee zu trinken, und dachte, mein Gott, was muß ich für ein wenig Gewinn alles tun. Geduldig sagte er zu Peter Marlowe, er möge seine fünf Sinne beisammenhalten, es werde schon alles gutgehen, denn für die Behandlung sei bereits gesorgt, und nach einer Stunde war Peter Marlowe ruhiger und redete wenigstens zusammenhängend. Aber der King wußte, daß er nicht bis zu ihm durchdrang. Er sah, daß er von Zeit zu Zeit nickte, wußte aber im Innern, daß Peter Marlowe von ihm gar nicht zu erreichen war, und wenn er nicht von ihm, dem King, zu erreichen war, dann konnte ihn überhaupt niemand erreichen.

»Ist es jetzt Zeit?« fragte Peter Marlowe vor Schmerz fast geblendet und wußte genau, daß er überhaupt nicht mehr gehen konnte, wenn er nicht auf der Stelle ging.

Der King wußte, daß es noch zu früh war, wenn man sich nicht in Gefahr begeben wollte, aber er wußte auch, daß er ihn nicht länger in der Baracke halten konnte. Deshalb schickte er Wachen in alle Richtungen. Das ganze Gebiet war abgesichert. Max beobachtete Grey, der auf seinem Bett lag. Byron Jones III beobachtete Timsen, und Timsen stand im Norden in der Nähe des Tors und wartete auf die Medikamente, und Timsens Leute, die eine weitere Gefahrenquelle darstellten, durchkämmten noch immer verzweifelt die Gegend nach dem Diamantenräuber.

Der King und Tex sahen hinter Peter Marlowe her, als er wie ein wandelnder Leichnam aus der Baracke taumelte und über den Weg zum Wassergraben hinaufging. Schwankend stand er einen Augenblick am Rand, machte dann einen Schritt hinüber und begann auf den Zaun zuzutaumeln.

»Mein Gott«, sagte Tex. »Ich kann nicht mehr zusehen!«

»Ich auch nicht«, erklärte der King.

Peter Marlowe versuchte den Blick durch die verzehrenden Schmerzen und das Delirium hindurch auf den Zaun zu richten. Er betete um eine Kugel. Er konnte die Schmerzen nicht mehr aushalten. Aber es kam keine Kugel, deshalb ging er grimmig und aufrecht weiter und fiel dann gegen den Zaun. Er packte einen Draht, um sich einen Augenblick daran festzuhalten. Dann bückte er sich, um unter den Drähten durchzukriechen, und stieß ein leises Stöhnen aus, als er in die Fangarme der Hölle stürzte.

Der King und Tex liefen zum Zaun, hoben ihn auf und zerrten ihn vom Zaun weg.

»Was ist mit ihm los?« fragte jemand aus der Dunkelheit.

»Wahrscheinlich hat er den Lagerkoller«, antwortete der King. »Komm, Tex, schaffen wir ihn in die Baracke.«

Sie trugen ihn in die Baracke und legten ihn auf das Bett des King. Dann lief Tex weg, um die Wachen einzuziehen, und die Baracke kehrte zum Normalzustand zurück. Nur eine Wache draußen.

Peter Marlowe lag stöhnend und im Delirium murmelnd auf dem Bett. Nach einer Weile erwachte er aus der Ohnmacht. »O Gott«, keuchte er und versuchte vom Bett aufzustehen, aber der Körper ließ ihn im Stich.

»Hier«, sagte der King besorgt und gab ihm vier Aspirintabletten. »Ruhig Blut, Sie werden wieder völlig gesund werden.« Seine Hand zitterte, als er ihm half, etwas Wasser zu trinken. Verdammter Hund, dachte er erbittert, wenn Timsen das Zeug heute nacht nicht beibringt, dann schafft Peter es nicht. Und wenn er es nicht schafft, verdammt, wie soll ich dann an den Zaster rankommen? Verdammter Hund!

Als Timsen endlich kam, war der King ein Wrack.

»Hallo, Kamerad.« Auch Timsen war nervös. Er hatte für seinen besten Mann oben am Haupttor Schmiere stehen müssen, während der andere unter dem Zaun durchgekrochen und in die Unterkunft des japanischen Arztes eingedrungen war, die nur fünfzig Schritte entfernt stand, nicht allzuweit weg von Yoshimas Haus und so nahe am Wachhaus, daß es Nerven kostete. Aber der Aussie hatte sich hinein- und auch wieder herausgeschlichen, und obwohl Timsen wußte, daß es auf der ganzen Welt keinen so geschickten Dieb gibt wie einen Australier, keinen einzigen Dieb auf der ganzen Welt, war er doch ins Schwitzen geraten, während er auf die Rückkehr des anderen gewartet hatte.

»Wo verarzten wir ihn?« fragte er.

»Hier.«

»Na gut. Stell lieber ein paar Wachen aus.«

»Wo ist der Pfleger?«

»Ich bin der erste«, antwortete Timsen gereizt. »Steven kann jetzt nicht herunterkommen. Er löst mich ab.«

»Verdammt, weißt du auch genau, was du tust?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Timsen. »'türlich weiß ich es. Hast du kochendes Wasser?«

»Nein.«

»Mann, dann mach welches! Wißt ihr Yankees denn überhaupt nichts?«

»Reg dich nicht auf!«

Der King nickte Tex zu, und Tex stellte das Wasser auf. Timsen öffnete die Tasche mit dem chirurgischen Besteck und breitete ein kleines Tuch aus.

»Du kriegst die Motten«, staunte Tex. »So was Sauberes hab ich noch nie gesehen. Mann, das ist ja fast blau, so weiß ist es.«

Timsen spuckte aus, wusch sich mit einem frischen Stück Seife sorgfältig die Hände und begann die Spritze und die Pinzette auszukochen. Dann beugte er sich über Peter Marlowe und schlug ihm leicht ins Gesicht. »He, Kamerad!«

»Ja«, antwortete Peter Marlowe schwach.

»Ich werde gleich die Wunde reinigen, klar?«

Peter Marlowe mußte sich konzentrieren. »Was?«

»Ich werde Ihnen gleich das Antitoxin geben …«

»Ich muß zum Lazarett hinauf«, sagte Peter wie betrunken. »Es ist jetzt Zeit – schneiden Sie ihn ab – ich sage Ihnen …«

Er fiel wieder in die Ohnmacht zurück.

»Schadet nichts«, meinte Timsen.

Als die Spritze sterilisiert war, gab Timsen eine Morphiuminjektion. »Hilf mal«, befahl er schroff dem King. »Wisch mir den verdammten Schweiß aus den Augen.« Gehorsam holte der King ein Handtuch.

Timsen wartete, bis die Spritze wirkte, riß dann den alten Verband ab und legte die Wunde frei. »Herrgott!« Die ganze Wundfläche war aufgedunsen und violett und grün. »Ich glaube, es ist zu spät.«

»Mein Gott«, stöhnte der King. »Kein Wunder, daß das arme Schwein verrückt war.«

Mit den Zähnen knirschend, schnitt Timsen vorsichtig das Schlimmste des zerfallenen, verfaulten Fleisches heraus, fuhr mit der Sonde tief hinein und wusch die Wunde so sauber, wie er konnte. Dann streute er Sulfonamidpuder darüber und verband sie wieder. Als er fertig war, richtete er sich auf und seufzte. »Verdammt, mein Rücken!« Er blickte auf den blütenweißen Verband und drehte sich dann zum King um. »Hast du ein Stück von einem alten Hemd?«

Der King zerrte ein Hemd von der Wand und gab es ihm. Timsen riß einen Ärmel heraus, zerriß ihn zu einer groben Binde und wickelte sie um den Verband.

»Verdammt, was soll das?« fragte der King trübe.

»Tarnung«, erklärte Timsen. »Du bildest dir wohl ein, er kann mit einem wunderschönen sauberen Verband am Arm im Lazarett herumspazieren, ohne daß er von neugierigen Ärzten und Militärpolizisten angehalten wird, die ihn ausfragen, wo er ihn her hat, was?«

»Ach so, kapiert.«

»Mann, du bist mir 'ne Nulpe!«

Der King ließ es nicht zum Krach kommen. Ihm war noch immer speiübel bei der Erinnerung an Peter Marlowes Arm, an dessen Geruch, an das Blut und an den verklebten und schmierigen Verband, der auf dem Boden lag. »He, Tex, schaff das stinkende Ding weg!«

»Wer? Ich? Warum?«

Tex hob widerwillig den Verband auf und ging hinaus. Er bohrte ein Loch in die weiche Erde, vergrub ihn darin und erbrach sich. Als er zurückkam, sagte er: »Gott sei Dank, daß ich das nicht jeden Tag tun muß.«

Timsen zog mit zittrigen Fingern die Spritze voll und beugte sich über Peter Marlowes Arm. »Du mußt aufpassen. Paß um Himmels willen auf«, knurrte er, als er bemerkte, daß der King sich abwandte. »Wenn Steven nicht kommt, wirst vielleicht du es machen müssen. Die Spritze muß intravenös gegeben werden, kapiert? Du suchst die Vene. Dann stößt du ganz leicht die Nadel hinein und ziehst ganz vorsichtig ein klein wenig den Kolben heraus, bis du etwas Blut in der Spritze siehst. Hast du kapiert? Dann bist du sicher, daß die Nadel in der Vene steckt. Sobald du dessen sicher bist, spritzt du einfach das Antitoxin hinein. Aber nicht schnell. Nimm dir für den Kubikzentimeter etwa drei Minuten Zeit.«

Der King sah von Übelkeit geschüttelt zu, bis die Nadel herausgerissen wurde und Timsen einen kleinen Wattebausch auf den Einstich preßte.

»Gottverdammt«, schnaufte der King. »Das bring ich nie hin.«

»Wenn du ihn sterben lassen willst, gut.« Timsen schwitzte und wurde ebenfalls von Übelkeit gequält. »Und mein Alter wollte immer, daß ich Arzt würde!« Er stieß den King beiseite, hielt den Kopf aus dem Fenster und erbrach sich heftig. »Gib mir um Gottes willen etwas Kaffee.«

Peter Marlowe regte sich und wachte halb auf.

»Sie werden wieder ganz gesund, Kamerad. Verstehen Sie mich?« Timsen beugte sich sanft über ihn.

Peter Marlowe nickte kurzsichtig und hob den Arm. Einen Augenblick starrte er ungläubig darauf, dann murmelte er: »Was ist passiert? Er ist – noch dran – er ist noch dran!«

»Natürlich ist er dran«, sagte der King stolz. »Wir haben Sie eben verarztet. Antitoxin, jede Menge. Ich und Timsen!«

Aber Peter Marlowe sah ihn nur an, und sein Mund bewegte sich, aber es kamen keine Worte heraus. Erst nach einer ganzen Weile brachte er dann schließlich flüsternd hervor: »Er ist noch immer – dran.« Er benutzte die rechte Hand, um den Arm zu betasten, der eigentlich nicht mehr hätte da sein sollen, es aber noch war. Und als er sicher war, daß er nicht träumte, legte er sich in eine Schweißlache zurück, schloß die Augen und begann zu weinen. Einige Minuten später war er eingeschlafen.

»Armer Kerl«, sagte Timsen. »Er muß geglaubt haben, er liegt auf dem Operationstisch.«

»Wie lange wird er bewußtlos sein?«

»Etwa zwei Stunden noch. Hör zu«, sagte Timsen, »er muß alle sechs Stunden eine Spritze bekommen, bis das Gift aus ihm heraus ist. Das, sagen wir, ungefähr achtundvierzig Stunden lang. Und jeden Tag einen neuen Verband. Und noch mehr Sulfonamid. Aber du mußt daran denken. Er muß weiterhin die Spritzen bekommen. Und sei nicht überrascht, wenn er dir die ganze Baracke verkotzt. Es muß eine Reaktion geben. Eine schlimme. Ich habe die erste Dosis besonders groß genommen.«

»Glaubst du, daß er wieder gesund wird?«

»Darauf antworte ich dir in zehn Tagen.« Timsen packte sein Besteck in die Tasche und machte aus dem Handtuch, der Seife, der Spritze, dem Antitoxin und dem Sulfonamidpuder ein sauberes kleines Paket. »Und jetzt wollen wir abrechnen, klar?«

Der King zog eine Packung heraus, die Shagata ihm geschenkt hatte. »Was zu rauchen?«

»Ja.«

Als die Zigaretten brannten, sagte der King mit nüchterner Stimme: »Wir können abrechnen, wenn wir das Diamantengeschäft abschließen.«

»Nichts zu machen, Kamerad. Ich habe geliefert, ich werde bezahlt. Das hat nichts miteinander zu tun«, erwiderte Timsen scharf.

»Es schadet doch nichts, einen oder zwei Tage zu warten.«

»Du hast genug Geld und außerdem etwas von dem Gewinn …« Er brach plötzlich ab, als ihm die Wahrheit aufging. »Oho«, machte er mit breitem Lächeln und wies mit dem Daumen auf Peter Marlowe. »Kein Geld, bis dein Freund geht und es holt, stimmt's?«

Der King streifte seine Armbanduhr ab. »Willst du die als Pfand behalten?«

»O nein, Freundchen, ich vertraue dir.« Er sah auf Peter Marlowe. »Mir scheint, es hängt eine ganze Menge von dir ab, mein Sohn.«

Als er sich wieder dem King zuwandte, lagen lustige Lachfältchen um seine Augen. »Dann hab ich ja auch noch Zeit, nicht wahr?«

»Wie?« machte der King unschuldig.

»Rück schon raus damit, Kamerad. Du weißt, daß der Ring geraubt worden ist. Du bist der einzige im Lager, der ihn verscheuern kann. Glaubst du, ich hätte dich in das Geschäft einsteigen lassen, wenn ich es allein hätte drehen können?« Timsens Lächeln war engelhaft. »Damit gewinne ich also Zeit, den Räuber zu finden, stimmt's? Wenn er zuerst zu dir kommt, hast du nicht das Geld, ihn zu bezahlen, stimmt's? Ohne Geld wird er ihn nicht rausrücken, stimmt's? Kein Geld, kein Geschäft.« Timsen wartete und fuhr dann freundlich fort: »'türlich könntest du mir einen Tip geben, wenn der Bastard ihn dir anbietet, nicht wahr? Schließlich ist es mein Eigentum, stimmt's?«

»Genau«, bestätigte der King bereitwillig.

»Aber du wirst es ja nicht tun«, seufzte Timsen. »Was für ein verdammtes Diebsgesindel.«

Er beugte sich über Peter Marlowe und prüfte dessen Puls. »Hm«, machte er nachdenklich, »der Puls ist hochgegangen.«

»Danke für deine Hilfe, Tim.«

»Schon gut, Kamerad. Ich bin schließlich auch an dem Burschen interessiert, stimmt's? Und ich werde wie ein verdammter Geier auf ihn aufpassen. Stimmt's?«

Er lachte wieder und ging hinaus.

Der King war erschöpft. Nachdem er sich etwas Kaffee gekocht hatte, fühlte er sich besser, legte sich in den Sessel zurück und glitt in den Schlaf.

Er fuhr aus dem Schlaf hoch und sah zum Bett hinüber. Peter Marlowe starrte ihn an.

»Hallo«, sagte Peter Marlowe schwach.

»Wie fühlen Sie sich?« Der King streckte sich und stand auf.

»Wie die Hölle. Ich werde mich jeden Augenblick erbrechen müssen. Wissen Sie, ich kann nichts – gar nichts sagen …«

Der King zündete die letzte Kooa an und steckte sie Marlowe zwischen die Lippen. »Sie haben sie verdient, Kamerad.«

Während Peter Marlowe dalag und Kraft sammelte, erzählte der King ihm von der Behandlung und was noch getan werden mußte.

»Der einzige Ort, den ich mir denken kann«, sagte Peter Marlowe, »ist die Behausung des Obersten. Mac kann mich wecken und mir von der Baracke dort hinunterhelfen. Die meiste Zeit kann ich in meinem eigenen Bett liegen.«

Der King hielt mit spitzen Fingern eines seiner Eßgeschirre, als Peter Marlowe sich erbrach.

»Halten Sie es besser bereit. Entschuldigung. Mein Gott«, stieß Peter Marlowe entsetzt hervor, als er sich erinnerte. »Das Geld! Hab ich es geholt?«

»Nein. Sie sind auf dieser Seite des Stacheldrahtzaunes ohnmächtig geworden.«

»O Gott, ich glaube nicht, daß ich es heute nacht schaffe.«

»Keine Bange, Peter. Sobald Sie sich besser fühlen. Hat keinen Sinn, ein Risiko einzugehen.«

»Wird das dem Geschäft nicht schaden?«

»Nein. Machen Sie sich darüber keine Sorgen.«

Peter Marlowe erbrach sich noch einmal, und als er sich wieder erholt hatte, sah er schrecklich aus. »Komisch«, murmelte er und unterdrückte den Brechreiz. »Ich habe einen gespenstischen Traum gehabt. Ich habe geträumt, daß ich mit Mac, dem Oberst und dem alten Pater Donovan einen fürchterlichen Streit gehabt habe! Mein Gott, was bin ich froh, daß es ein Traum war.« Er stemmte sich mit ungeheurer Anstrengung auf dem gesunden Arm hoch, schwankte und ließ sich zurückfallen. »Helfen Sie mir bitte hoch.«

»Lassen Sie sich Zeit. Die Lichter sind eben erst ausgegangen.«

»Kamerad!«

Der King sprang zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er sah die undeutlichen Umrisse des kleinen Wieselmännchens, das dicht an der Wand kauerte.

»Beeil dich«, flüsterte der Mann. »Ich hab den Stein dabei.«

»Du wirst warten müssen«, erwiderte der King. »Ich kann dir das Geld erst in zwei Tagen geben.«

»Aber, du elender Bastard …«

»Hör zu, du Schweinehund«, unterbrach ihn der King. »Wenn du zwei Tage warten willst, in Ordnung! Wenn nicht, dann hol dich der Teufel!«

»Also gut, in zwei Tagen.« Der Mann fluchte gräßlich und verschwand.

Der King hörte ihn eilig davontrippeln, und einen Augenblick später hörte er das hastige Getrappel anderer Füße, die ihn verfolgten. Dann Stille, die nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen wurde.

»Was hat das alles bedeutet?« fragte Peter Marlowe.

»Nichts«, antwortete der King, der sich fragte, ob der Mann entkommen war. Aber er wußte, daß er den Diamanten bekommen würde, was auch geschehen mochte. Solange er das Geld besaß.