Jahr drei, 23. Februar, Morgen
»Kaffee?«
Alvs Tochter Rhea winkte mit der Kanne, was Eckhardt ein breites Grinsen ins Gesicht zauberte.
»Gern, ja!«
Er setzte sich zu Alv an den Küchentisch und Rhea stellte ihm einen großen Becher mit dampfenden Kaffee hin.
»Großer Tag heute, was?«, fragte er grinsend und schlürfte an der Tasse.
Alv nahm die alte Steingutkanne vom Stövchen und goss sich noch Tee ein. Earl Grey mit Zucker und Kondensmilch. Eckhardt verzog das Gesicht.
»Dass du so was trinken kannst …«
Alv lächelte.
»Möglicherweise aus demselben Grund, weshalb du faulige, getrocknete Blätter in Papier rollst, sie anzündest und den Rauch freiwillig einatmest. Es gefällt mir.«
»Da bringst du mich auf eine Idee«, konterte Eckhardt und kramte seine Rauchutensilien hervor. Er begann, sich eine Zigarette zu drehen. Alv meinte lapidar:
»Also, wenn ich du wäre, dann würde ich meinen Tabak gelegentlich überprüfen, ob nicht einer der Jungs da heimlich was von seinem Gras reingebröselt hat …«
Eckhardt hielt in der Bewegung inne und schaute auf die Zigarette, deren Wickelpapier er gerade im Begriff war, anzulecken.
»Das wagen die nicht …«
Alv lachte.
»Nein, ich glaube das auch nicht. Aber du hättest dein Gesicht eben mal sehen sollen!«
Alvs halbe Familie, die in der Küche versammelt saß, lachte und Eckhardt verdrehte die Augen. Dann schüttelte er den kahl rasierten Kopf und vollendete sein Werk.
»Feinstes Virginia-Odeur!«, meinte er, als er den Glimmstängel entzündete und sich in eine Rauchwolke hüllte. Dann fand er zum eigentlichen Thema zurück.
»Also, heute Nachmittag kommt unser, nun ja, Vorgesetzter, um sich mit uns über wichtige Dinge zu unterhalten. Wie gehen wir damit um?«
»Ich wollte darüber eigentlich sprechen, wenn Birte und Sepp … Ah, sie kommen gerade, das passt hervorragend. Guten Morgen ihr beiden, nein, ihr drei!«
Sepp und Birte, der man ihren hochschwangeren Zustand deutlich ansah, betraten die heimelig warme Küche der Bulveys und setzten sich nach der allgemeinen Begrüßung mit an den Tisch. Alvs Söhne deckten den Tisch und alle griffen zu frischgebackenem Brot und Wurstkonserven. Die Jüngeren freuten sich über irgendwelche Schoko-Nuss-Cremes, wobei Katharina im Hause ein strenges Regime bei der Verwaltung von zuckerhaltigen Nahrungsmitteln führte.
Als alle gefrühstückt hatten und die Jungs sich in Richtung Schulgebäude bewegten, führte Alv das Tagesthema erneut an.
»Wie ihr ja inzwischen alle wisst, erwarten wir heute den militärischen Führer der Eurasischen Union hier. Wir wollen einige Dinge besprechen, welche für die Zukunft relevant werden könnten.«
»Entschuldige, wenn ich unterbreche«, warf Sepp ein, während er eine Scheibe Schokobrot in seinen Milchkaffee tunkte, »aber wieso reden die da eigentlich die ganze Zeit von Eurasischer Union? Wenn ich mir ansehe, wo der große Zaun steht, dann hat das doch mit Asien nicht viel zu tun, oder?«
Unter Katharinas abfälligen Blicken schlürfte Sepp sein schwabbeliges Brot genüsslich in sich hinein.
»Gute Frage«, antwortete Eckhardt, »wir vermuten, dass Pjotrew nicht ohne Grund diesen Namen wählte. Der Zaun oder Eiserne Vorhang verläuft von Archangelsk bis hinunter zur Krim. Das Siedlungsgebiet westlich des Zaunes ist europäisches Gebiet, im Osten liegt die sogenannte Nation Zombie, also das Gebiet der Zeds. Pjotrew ist Russe, mit Leib und Seele. Ich gehe also davon aus, dass er die russischen Gebiete jenseits des Urals keinesfalls aufgegeben hat. Vielmehr denke ich, er hat vor, diese Gebiete ebenso von den Zeds zurückzuerobern wie das kontinentale Europa. Das allerdings kann er nicht ohne Weiteres in Gang bringen, denn ihm fehlt dafür die militärische Stärke. Was mich vermuten lässt, dass er versuchen wird, diese Gebiete durch B-Waffen von Zeds zu befreien.«
»Biologische Kriegsführung?« Sepp machte ein angeekeltes Gesicht. Dann sprach Alv weiter.
»Wir vermuten, dass der General mit den Amerikanern ein Bündnis eingehen will. Und wir vermuten ebenso, dass das etwas mit T93 und T93-X zu tun hat. Zurzeit sind die Zeds weitgehend im asiatischen Raum konzentriert, wobei hier Hochrechnungen von einer Milliarde oder mehr keineswegs aus der Luft gegriffen sind. Mit normalen militärischen Mitteln kommt man denen nicht bei, zumal in den Vereinigten Staaten noch haufenweise Zeds herumrennen, und wenn es hier zu tauen beginnt, werden wir auch wieder ein nationales Zed-Problem bekommen.«
»Der ganze Scheiß geht wieder von vorne los?«, fragte Birte und zog sich einen leeren Stuhl heran, um die Beine hochzulegen, was ihr angesichts ihrer derzeitigen Körperabmessungen nicht eben leicht fiel.
»Na ja, von vorn würde ich es nicht nennen wollen. Es ist wohl eher eine Art Fortsetzung. Wir hier im Süden haben nicht allzu viel zu befürchten, aber dort, wo das Eis zurückgeht, werden sicherlich nicht wenige Zeds wieder in Gang kommen, vermute ich mal. Pjotrews Nationalgarde wird also demnächst beschäftigt sein, die Pioniertruppen haben mit der Reinstallation der Infrastrukturen unter den veränderten politischen Verhältnissen zu tun und die Grenztruppen müssen den Zaun in Schuss halten und weiter ausbauen. Für Feldzüge ist da eher wenig Raum, würde ich meinen. Pjotrew muss also mit den Amerikanern paktieren, und das geht nur, wenn er ihnen etwas bietet.«
»Das T93«, ergänzte Eckhardt.
»So ist es. Ich vermute also, er wird uns nicht nur um das T93-X bitten, sondern auch um das T93, um es den Amerikanern zur Verfügung zu stellen. Seine sämtlichen Vorräte an T93 dürften mit der Feste Rungholt untergegangen sein.«
Sepp hakte nach.
»Und das T93 tauscht er dann bei den Amis quasi gegen irgendwelchen Biowaffenscheiß? Sehe ich das richtig? Er will also die Pest mit der Cholera austreiben? Kommt das nur mir völlig bescheuert vor?«
Eckhardt bestätigte Sepps Vermutung.
»So in etwa könnte es aussehen. Wohlgemerkt, das sind natürlich reine Vermutungen von unserer Seite, genaueres wissen wir am Nachmittag, wenn das Gespräch mit Pjotrew stattgefunden hat.«
Katharina, die neben Alv auf der Holzbank saß, drehte sich zu ihm und fragte:
»Werdet ihr zwei mit dem General allein verhandeln?«
Alv lachte laut, Eckhardt grinste.
»Ich gedenke«, antwortete Alv, »den Herrn General mit einigen Gepflogenheiten der Gesellschaft des Willens vertraut zu machen. Dazu gehört als Allererstes die basisdemokratische Entscheidungsfähigkeit unserer Leute. Wir werden im großen Versammlungsraum tagen und alle, die nicht wichtige Pflichten zu erledigen haben, sind eingeladen, an dem Gespräch teilzuhaben.«
Katharina umarmte ihren Geliebten und küsste ihn innig.
»Dafür liebe ich dich, Alv Bulvey!«
»Dafür?«
»Unter anderem.«
Eckhardt unterbrach.
»Dann würde ich vorschlagen, wir veranstalten ein gemeinsames Essen. Vielleicht etwas Russisches? Soljanka und Piroggen? Oder was denkt ihr?«
Katharina entgegnete:
»Ich werde mit Anita mal sehen, was unsere Keller so hergeben. Und wie ich hörte, ist unser russisches Computergenie eine echte Koryphäe im Umgang mit russischen Backwaren. Die Schulkinder haben bestimmt auch Lust, uns zu helfen. Und irgendwas Leckeres zum Nachtisch kriegen wir auch noch gezaubert. Mit wie vielen Leuten kommt denn der General?«
»Schätze mit gut einem Dutzend, vielleicht ein paar mehr«, gab Eckhardt zurück.
»Na gut, dann an die Arbeit. Schieb’ deinen Alabasterkörper mal zur Seite, Alv, ich hab jetzt zu tun.«
Sie drängte sich zwischen Tisch und Bank hindurch und verschwand durch die Haustür in Richtung Lagerverwaltung. Dort, im zentralen Archiv, wurden sämtliche Vorräte erfasst und es wurde akribisch darüber Buch geführt. Niemand nahm aus den großen Lebensmittellagern etwas oder gab etwas dazu, das hier nicht erfasst wurde. In ähnlicher Weise verfuhr Holger, der Cheftechniker des Dorfes, mit der Verwaltung der Baumaterialien.
Im Grunde zeigte sich die Gesellschaft des Willens ausgesprochen gut ausgerüstet und technikaffin. Das Dorf war alles andere als eine Hippiekommune oder ein zusammengewürfelter Haufen ums Überleben Bangender. Hier wurden Nägel mit Köpfen gemacht, wie Eckhardt gern zu sagen pflegte. Für dystopische Abenteurerromantik war hier wenig Platz, hier blickte man tatkräftig und optimistisch in die Zukunft. Die Bewohner des Dorfes wollten nicht nur überleben, sie wollten auch etwas aufbauen, das Bestand hatte und den nachfolgenden Generationen als Basis für weitergehende Entwicklungen diente.
In Bulveys Küche wurde noch eine Weile lang das Für und Wider einer Kooperation mit den Militärs diskutiert, immerhin hatte der Militärapparat der New World versucht, Rennes-le-Château auszulöschen. Nicht jeder zeigte sich bereit, dies ohne Weiteres zu vergessen.
Doch letztlich kam man, wie immer in diesen Diskussionen, überein, dem General und seinem neuen Stab eine Chance zu geben. Immerhin war es ja auch Pjotrew gewesen, der im vergangenen Herbst nicht unwesentlich zum Sieg der Dorfbewohner über die Invasionstruppe beigetragen hatte. Man würde also mit dem obersten Befehlshaber sprechen, sich seine Vorschläge und Argumente anhören und dann abstimmen, wie die Gemeinschaft weiter verfahren würde.
Alv beschlich das Gefühl, dass es im Zuge dieser Unterhaltung um Dinge gehen würde, die das Dorf nicht nur peripher tangierten, denn einfach so ein Ausflug in die Frühlingsfrische war diese Reise des Generals mit Sicherheit nicht, das stand fest. Auch Eckhardt hegte gewisse Bedenken, was die vollständige Unterstützung durch das Dorf anging. Letztlich kamen die beiden aber überein, jede Entscheidung ihrer Gemeinschaft zu akzeptieren, wie immer sie auch ausfallen mochte.
Den Rest des Vormittags verbrachten die beiden in Einzelgesprächen mit den Funktionsträgern der Gemeinschaft.
Gegen Mittag zog ein verführerischer Duft von Gemüsesuppe mit Fischeinlage und frischem Backwerk durch das Dorf und erinnerte alle an die für den frühen Nachmittag geplante Versammlung.