Jahr zwei, 24. Dezember, Mittag I
»Mon dieu, was für ein Gemetzel!«, entfuhr es dem französischen Kommandeur der Pioniereinheiten, General Rainiers. »Merde!«
Der Führungsstab der Eurasischen Armee saß am halbrunden Besprechungstisch in der Operationszentrale und verfolgte das Geschehen am Ground Zero aufmerksam. Erfahrenere Militärs wie General Pjotrew und Admiral Duginow verzogen keine Miene, den anderen Anwesenden jedoch stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Pjotrew trank langsam und unbewegt Tee aus einer feinen Porzellantasse. Sicher, ihm gingen diese Bilder auch nahe, immerhin wurde hier gerade ein nicht unbeträchtliches Stück Heimat eingeäschert, aber ein guter Anführer ließ sich solche Dinge nicht anmerken, fand er. Außerdem hatte er im ersten Zombiekrieg unter Marschall Gärtner viel verheerendere Bilder zu sehen bekommen.
»So viele Leben, dahin, odrrr?«, schnarrte der Schweizer, General Ruetli. Pjotrew setzte seine Tasse mit einem leichten Klicken ab, wandte sich nach links und konterte:
»General, bei allem Respekt, aber außer ein paar Käfern und Würmern ist dort kein einziges Leben dahingegangen. Ich darf Ihnen vielleicht in Erinnerung rufen, dass es sich dort um nicht-lebendige Kombattanten handelt? Wir kämpfen gegen Monster, nicht gegen Menschen. Ich denke, Sie täten gut daran, sich dessen stets bewusst zu sein.«
Ruetli fuhr erschrocken zusammen. Wie ein gescholtener Schuljunge blickte er Pjotrew an und entgegnete:
»Sicher, General, natürlich. Sie haben recht.«
»Möglicherweise«, sprach Pjotrew weiter, »fehlt Ihnen etwas die, wie soll ich sagen, pragmatische Differenzierung in solchen Angelegenheiten. Der Schweiz blieben ja Kriege auch bisher weitgehend erspart, so dass die Befehlsführung in Ihren Streitkräften eher theoretischer Natur war, wenn ich mich nicht irre. Dafür habe ich durchaus Verständnis. Die russischen Kommandeure hingegen haben in der Regel größere praktische Erfahrung aus Afghanistan, Georgien, Tschetschenien, Ukraine, dem Baltikum und so weiter. Sie verstehen? Wir sehen das etwas nüchterner.«
Er hob erneut seine Tasse, um einen Schluck zu trinken. Ganz links außen am Tisch saß Admiral Duginow und lächelte wissend. Er wusste exakt, wovon Pjotrew sprach, immerhin hatte er in der Baltikumkrise, die gleichzeitig mit der Ukrainekrise tobte, mit einer Handvoll Raketenkreuzern die NATO-Flotte das Fürchten gelehrt. In den Gefechten hatte es ebenfalls Tote gegeben, schreckliche Zerstörung, und viele gute Matrosen waren mit ihren Schiffen auf den Grund der Ostsee gesunken. Auch Unfälle mit Atom-U-Booten, wie der Kursk, bargen großes Leid und sorgten für Bilder, die man nicht vergaß. Doch, wie Pjotrew richtig angedeutet hatte, ein Kommandeur musste in der Lage sein, sich davon zu distanzieren, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.
»Nun denn, wie dem auch sei«, fuhr General Pjotrew fort, »unsere konzertierte Aktion war ein voller Erfolg, wie es aussieht. General Ruetli, ich denke, Sie sollten die Kampfflieger und einige Hubschrauberstaffeln entsenden, um den Zeds weiter zuzusetzen. Östlich der roten Zone könnten wir zum Beispiel mit Aerosolbomben den Druck aufrechterhalten. Die Mikrowellenwaffen setzen wir ebenfalls ein, um den Effekt zu verstärken. Findet das Ihr Einverständnis, meine Herren?«
Alle nickten und General Ruetli, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, instruierte einen Adjutanten, der seine Befehle sogleich ausformulierte und an die Einheiten übermittelte. Einer der Operatoren drehte sich zum Generalstisch um und meldete:
»General Pjotrew. Meldung vom Zellentrakt. Der Zed will mit Ihnen sprechen.«
»Gut, danke. Kzu’ul existiert also noch. Zäher Bursche, das muss man ihm lassen.«
Der Mann drehte sich wieder um. Marten Thorsson, der General der Nationalgarde, wandte sich an Pjotrew.
»Was denken Sie, General, will der Struggler verhandeln?«
»Nun«, antwortete Pjotrew, »wie es aussieht, hat ihn unsere kleine Demonstration umgestimmt. Und da er nicht weiß, wie groß unser Waffenpotenzial ist, will er verhandeln. Wenn wir jetzt mit Mikrowellenstrahlern und Aerosolbomben weitermachen, werden seine Unterführer ihm berichten, dass noch immer Feuer vom Himmel fällt und seine Gefolgschaft zu Asche verbrennt. Er muss annehmen, dass unsere Arsenale gut gefüllt sind, was uns in eine gute Verhandlungsposition bringt.«
»Er wird weitere Horden aus dem Osten herbeirufen.«
»Zweifelsohne hat er das bereits getan. Aber die stapfen zu Fuß durch den Schnee. Und bis seine Verstärkung eintrifft, wird Zeit vergehen. Zeit, in der wir seine Reihen weiter lichten und ihm klar machen, dass wir jetzt eine Bedrohung für ihn sind. Der gegnerische König muss nun im Schach gehalten werden, um die Partie zu gewinnen.«
»Verstehe.«
Die Order des Luftwaffengenerals hatten ihre Bestimmungsorte erreicht, und ein Geschwader Transportflugzeuge, deren Laderäume mit großen Aerosolbomben gefüllt waren, starteten in Richtung rote Zone, an deren Rand noch immer ein Großteil der Zombiearmee dahinvegetierte.
Aerosolbomben boten nach Nuklearwaffen so ziemlich das größte Zerstörungspotenzial im Bodenkrieg. Im ersten Zündungsschritt wurde der Brennstoff durch eine kontrollierte Explosion in einer riesigen Wolke fein zerstäubt und dann im zweiten Schritt gezündet. Dabei entwickelte sich eine Brandwolke, die unglaublich heiß und sehr zerstörerisch wirkte und im Erscheinungsbild einer kleinen Nuklearexplosion glich. Die Mikrowellenstrahler sollten diese Simulation unterstützen, indem sie Gewebeschäden anrichteten, die der Verstrahlung ähnelten. Kzu’ul sollte glauben, dass sein Heer noch immer mit Atomwaffen bekämpft wurde. Jetzt durfte die Eurasische Armee nicht den Hauch einer Schwäche zeigen.
»Ich werde unsere Panzerwaffe teilen«, führte Pjotrew weiter aus, »eine Hälfte schicke ich nach Süden, um dort die durchgebrochenen Zeds ausfindig zu machen und sie auszulöschen. Die andere Hälfte wird Ground Zero in einer nördlichen Spange umgehen, um dort den Druck auf Kzu’uls Armee zu verstärken. Er muss das Gefühl bekommen, kurz vor einer Niederlage zu stehen. Und wenn das so weit ist, dann werde ich mit ihm Verhandlungen führen, und zwar aus einer Position der Stärke heraus.«
Die Generäle nickten und klopften verhalten auf die Tischplatte als Zeichen ihrer Zustimmung. Die entsprechenden Befehlssätze wurden von den Adjutanten an die kommandierenden Offiziere der Einheiten weitergegeben und die Runde in der OPZ löste sich auf. General Pjotrew erhob sich, um nach unten in die Kellergewölbe zu gehen, wo sich der gefangene Struggler in einer der Hochsicherheitszellen in sicherem Gewahrsam befand. Diesen Raum würde die Kreatur nie wieder auf den eigenen Beinen verlassen, soviel stand fest.
Als General Pjotrew durch die Gänge schritt, fiel ihm zum ersten Mal auf, wie sauber es hier in der Feste Rungholt war. Früher hatte er nie darüber nachgedacht, es einfach hingenommen. Sauberkeit. Sicher, militärische Einrichtungen legten stets Wert auf Ordnung und Disziplin, doch hier herrschte eine außerordentliche Sauberkeit. Fast schon purer Luxus. Ganz anders als in Russland.
Pjotrew erinnerte sich noch sehr gut an die ersten Tage im militärischen Komplex der UdSSR. Er hatte noch nicht einmal das siebzehnte Lebensjahr erreicht, als er in die Armee eintrat. Die glorreiche Rote Armee, das Juwel der Sowjetrepubliken. Ein Scheiß war es gewesen, dieses Juwel.
Der Zustand der Gebäude, die auch gut fünfundzwanzig Jahre nach dem Großen Vaterländischen Krieg wahrscheinlich noch keine besonderen Renovierungsmaßnahmen erfahren hatten, ließ sich ohne Weiteres als miserabel bezeichnen. Sogar die Einschusslöcher in den Wänden der Kasernenbauten konnte man noch sehen. Nur wenige Räume hatten Fenster, meist waren die Maueröffnungen mit Lumpen verhangen, hier und da ragten Ofenrohre aus den Mauern. Dies waren die Quartiere der Unteroffiziere, wie Mikail später erfuhr. Mannschaften brauchten keine Heizung, schien die Führung zu glauben. Die sanitären Einrichtungen glichen denen in den Bauernhäusern der Tundra, der Fraß bestand aus Abfall und Dreck. Nicht selten, wenn Mikail Küchendienst hatte und Kartoffeln schälen musste, konnte er auf den Säcken die Aufschrift ›Nur zur Tierfütterung‹ lesen.
Das Offizierskorps bestand zu neunzig Prozent aus Sadisten. Sie scheuchten die Rekruten bei jedem Wetter ohne Rücksicht auf die Gesundheit der schlecht ernährten Soldaten. Schläge waren an der Tagesordnung, ebenso drakonische Strafen, selbst bei geringsten Vergehen. Nicht wenige von Mikails Kameraden endeten auf dem schmucklosen Friedhof der Kaserne in anonymen Gräbern.
Man hatte ihn und Tausende andere Rekruten nach der Grundausbildung der GSSD zugeteilt und in eine Kaserne im deutschen Bruderstaat DDR verfrachtet. Tagelang reisten sie in einem völlig überfüllten Zug durch karge Landschaften der SBZ, bis sie in Potsdam im Hof einer riesigen Kaserne ausgespien wurden. Hier hatte Mütterchen Russland vor, aus den Jungen unter dem Kommando von General Iwanowski richtige Männer zu machen. Mit den Deutschen zu sprechen war verboten, doch es kam hier und da immer wieder zu Begegnungen und Schwarzhandel, so dass Mikail lernte, sich in der deutschen Sprache zurechtzufinden.
Schnell arbeitete er sich fleißig und gehorsam empor, zeigte überdurchschnittliche Leistungen und stieg in der Hierarchie auf, was auch damit zusammenhängen mochte, dass einer seiner Onkel Mitglied im ZK der KPdSU war. Letztlich reichte es sogar, um den noch sehr jungen Leutnant auf die Marschall-Woroschilow-Akademie des Generalstabes der UdSSR in Moskau zu bringen, wo er ebenfalls durch beste Leistungen glänzte.
Zahlreiche Kommandos und erfolgreiche Kampfeinsätze taten damals ihr Übriges, um Mikail Pjotrew ganz nach oben zu katapultieren. In den neu formierten Streitkräften der Russischen Föderation erreichte er dann den Generalsrang und wurde zu einem festen Mitglied des militärischen Beraterstabes des russischen Präsidenten.
In dieser Position erlebte er den Ausbruch der Zombieseuche, und allein sein geistesgegenwärtiges Handeln im Marinehafen von Sankt Petersburg damals hatte ihn und die Besatzungen zweier Schlachtschiffe vor dem grausamen Tod oder Schlimmerem bewahrt.
›Wie ein Hotel. Wie ein gottverdammtes Luxushotel‹, sinnierte er, als er die Gänge zügig durchschritt. Der Teppichboden schluckte das Knallen seiner Stiefelabsätze, das er von den gebohnerten Gängen russischer Ministerien her kannte. Einige Minuten später brachte ein spezieller Lift ihn in die Hochsicherheitstrakte in den Untergeschossen der Festung. Nach Absolvierung zahlreicher Sicherheitsabfragen und Checks betrat er den Zellentrakt und wies die Wache an, die Tür zur Zelle des Strugglers zu öffnen.
Im Inneren des kleinen Raumes stank es bestialisch. Als Pjotrew durch das Gitter auf den Bereich schaute, in dem der Struggler hauste, wurde ihm klar, warum. Überall verschmutzten Ausscheidungen der Kreatur den Boden. Niemand hatte daran gedacht, dass ein Struggler Reste von Dingen, die er in sich hineinschlang, auch wieder loswerden musste. Zwar verwerteten die Struggler einen Großteil ihrer Nahrung, weit besser als zum Beispiel ein Mensch, doch blieben einige mineralische Reste übrig, die der Zed als milchige Substanz ausschied, vorwiegend Kalzium und Nitrate. Dieser schmierig-stinkende Schleim bedeckte nun den Fußboden und die Ausdünstungen brachten Pjotrew an den Rand des Brechreizes. Härter hätte ihn der Wechsel von schaumgereinigtem, nach Flieder duftenden Teppichboden in diesen Kloakenkerker nicht treffen können. Er hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase.
»Gefällt es dir?«, fragte der Struggler aus dem Halbdunkel heraus keckernd. »Das ist Gaps Heim.«
Angewidert verzog der General das Gesicht.
»Wache!«, rief er zur Tür, die sich sofort öffnete. »Lassen Sie die Ventilation hochfahren, hier stinkt es wie in einer Jauchegrube!«
»Sofort. Zu Befehl, Herr General!«
Augenblicke später surrten die Deckenventilatoren und begannen, die abgestandene Luft aus dem Raum zu transportieren.
»Und sorgen Sie dafür, dass hier nachher jemand sauber macht, und zwar in Zukunft täglich!«
»Zu Befehl, Herr General!«, kam es postwendend zurück, bevor die Tür sich wieder schloss.
Pjotrew setzte sich an den Schreibtisch und griff in seine Brusttasche, überlegte es sich aber dann doch anders. Die Lust auf eine würzige Havanna war ihm gerade vergangen. Bei dem Methangehalt in der Luft wäre man wahrscheinlich auch explodiert, mutmaßte er. ›Zombiefürze, es sind tatsächlich Zombiefürze, das ist grotesk!‹, dachte er, als die Luft langsam wieder atembar wurde. Dann wandte er sich dem Struggler zu.
»Also, dein Herr und Meister wünscht, mit mir zu sprechen.«
»Ja«, bestätigte die Bestie, in der linken Ecke des Raumes kauernd, »der Meister befahl, dich zu rufen.«
»Nun, da bin ich.«
»Der Meister ist auch hier.«
Wieder verdrehte der Struggler so merkwürdig die Augen, wie er es schon einmal getan hatte. Auch seine Stimme veränderte sich, wurde sicherer, voluminöser, bedrohlicher im Klang.
»Kzu’ul hört dich, Anführer der Warmen.«
»Was willst du?«
»Kzu’ul hat gesagt, er würde mit dir sprechen. Nun ist der Zeitpunkt.«
Der General lächelte. Sein Ton wurde unvermittelt freundlich, doch jeder, der Mikail Bagudijewitsch Pjotrew kannte, wusste, dass er in solchen Momenten alles andere als freundliche Gedanken hegte.
»Ja, nun ist der Zeitpunkt. Der Zeitpunkt, an dem meine Männer euch Schreckgestalten ordentlich den Arsch versohlt haben. Und das, was ihr erlebt habt, war erst der Anfang. In diesem Moment starten weitere Einheiten, die deiner Gefolgschaft ein eindrucksvolles Bild verschaffen werden, wie es dort ist, wo ihr hinkommt, in der Hölle: heiß und ungemütlich.«
»Deine Weltenbrandmaschinen schrecken uns nicht.«
»Na, dann ist ja alles gesagt. War nett, mit dir zu plauschen. Ich gehe dann mal wieder an die Arbeit und werde ein paar Hunderttausend deiner winselnden Fußsoldaten einschmelzen. Und zwar noch vor dem Tee.«
Pjotrew schickte sich an, sich zu erheben und zupfte demonstrativ seine Uniformjacke zurecht. In der Ecke des Raumes klirrten die Ketten, als Gap nach vorn sprang und fast das Gitter erreichte. Der General zuckte nicht mit der Wimper, er hatte eine solche Reaktion erwartet.
»Warte!«, bellte die Kreatur ihn an.
»Ja?«
»Kzu’ul will verhandeln. Über das Schweigen der Waffen.«
Pjotrew blickte dem Struggler fest in die Augen.
»Also, ich höre …«