Jahr zwei, 25. Dezember, Morgen I
»Oberst Iljuwenisch! Ich gehe mit fünfzig Männern in schwerer Bewaffnung raus, sie sollen sich im Hangar einfinden und Uranmunition aufnehmen. Suchen Sie mir die besten Soldaten raus! Was können Sie mir für den Transport geben, Ruetli?«
Der Schweizer General reagierte unverzüglich.
»Operator! Lassen Sie eine Antonow startklar machen, die A74! Außerdem brauche ich zwei Tornados mit Aerosolbomben als Eskorte. Alle Maschinen mit Zusatztanks ausrüsten. Ein Tankflugzeug folgt den Jets. Abflug in einer Stunde!«
»Zu Befehl!«
General Pjotrew stampfte durch die Operationszentrale und stürzte sich förmlich auf den elektronischen Kartentisch. Dabei handelte es sich um einen waagerecht montierten Touchscreen-Monitor von etwa vier Quadratmetern, der Satellitenbilder, Topografie und Kartenmaterial als interaktive Grafiken verwaltete. Ein Holoprojektor generierte daraus bei Bedarf dreidimensionale Ansichten, die über dem Kartentisch schwebten. Der General wischte mit den Händen über die Oberfläche, bis er ein bestimmtes Areal vergrößert hatte. General Ruetli, der an seiner Seite stand, schaute auf die Karte und fragte:
»Dort? Krakau?«
»Ja, der Johannes-Paul-II.-Flugplatz. Ein Regionalflugplatz, aber die Bahnen sind für die Antonow geeignet. Operator! Legen Sie mir neueste Satellitenbilder auf die Karte und geben Sie mir die Wetterdaten!«
Das Bild auf der imposanten dreidimensionalen Karte änderte sich. Livebilder mischten sich unter Kartenmaterial und ließen die Darstellung, die der Computer daraus errechnete, plastisch wirken. Eine Ordonnanz näherte sich von links und bot auf einem Tablett Tee an, die Generäle griffen zu. Während er trank, verglich Pjotrew die Karte mit den Wetterdaten und zeigte mit der Rechten auf die Darstellung des Flugplatzes, während er in der Linken den Teebecher hielt.
»Hier. Westwind. Wir kommen von Osten rein und benutzen die nördliche Landebahn, machen hier die Wende und rollen bis vor die Haustür. Ich habe mit Kzu’ul verabredet, dass wir uns an diesem Hangar dort, direkt neben der Startbahn, treffen. Die Männer sollen mich wie ein Kordon umgeben, falls dieser Berserker ein falsches Spiel zu spielen beabsichtigt.«
»Warum will er Sie persönlich treffen?«, fragte General Rainiers, »Die Kommunikation könnte doch auch über seinen Struggler hier laufen?«
Pjotrew nahm einen Schluck Tee. Tief sog er das Aroma des guten Heißgetränks ein, um den Genuss zu vervollständigen. So, wie man eine Havanna schmecken musste, so musste man einen Tee riechen, um ihn vollständig genießen zu können, fand er.
»Nun«, antwortete er, »ich vermute, es werden Dinge zur Sprache kommen, die nicht über Kzu’uls Hausfunk laufen sollen. Er möchte wohl nicht, dass all seine Untergebenen uns zuhören, wenn er verhandelt, was unter den Strugglern sicherlich als ein Zeichen der Schwäche gewertet werden wird.«
»Oder es ist eine Falle.«
Pjotrew grinste und erwiderte:
»Oder es ist eine Falle.«
»Aber was werden Sie dann tun?«, fragte der norwegische General Thorsson.
»Für den Fall, dass er uns angreift und besiegt, haben die Piloten der Tornados Order, den gesamten Komplex mit ihren Aerosolbomben einzuäschern, wenn ich ein Funksignal aktiviere.«
»Das bedeutet Ihren Tod, General.«
»Wenn der Struggler meine fünfzig besten Männer ausschaltet und mich angreift, dann ist der Tod mein kleinstes Problem, er wird wohl eher eine Erlösung bedeuten, nehme ich mal an. Aber ich bin zuversichtlich. Ich glaube, der Bursche will wirklich verhandeln. Ich habe ihm in unserem Gespräch gestern klar in Aussicht gestellt, was passiert, wenn unsere Verhandlungen scheitern, und ich hatte den Eindruck, er hat das auch begriffen.«
Admiral Duginow mischte sich in die Besprechung ein. Er und Pjotrew kannten sich von verschiedenen Anlässen her, man war sich auf Empfängen, bei Stabsbesprechungen und einigen KSZE-Tagungen begegnet.
»Was denken Sie, Gospodin, will der Struggler von uns? Er wird nicht bedingungslos das Feld räumen. Theoretisch könnte er noch zehn Jahre lang seine Fußtruppen gegen die Front rennen lassen, so lange, bis es jenseits des Ural keine Zeds mehr gibt. Eigentlich dürfte ihm das nichts ausmachen, wenn ich ihn richtig einschätze.«
»Ja, diese Überlegung hatte ich auch schon. Es fällt mir auch schwer, dazu eine These aufzustellen, Genosse Admiral. Diese Struggler sind ausgesprochen schwer einzuschätzen, schon allein deshalb, weil wir schlichtweg über keinerlei Vergleichsdaten verfügen. Aber wer weiß? Vielleicht will er ja auch nur Frieden? Die Frage, die ich mir in diesem Zusammenhang stelle und die wir alle uns stellen sollten, ist diese: Wie weit wollen wir gehen? Ist es unser Ziel, alle Zeds dieser Welt auszurotten? Dann brauche ich mich nicht auf den Weg zu machen, dann reicht es, die Jagdbomber zu schicken. Immer und immer wieder. Oder wollen wir Frieden, um unsere Gesellschaft neu aufzubauen?«
Der Admiral schaute ihn ernst an.
»Ich denke, beides ist vielleicht möglich. Wir sollten zunächst eine Art Waffenstillstand erreichen, um uns neu zu formieren. Eine Allianz mit den Amerikanern könnte ein guter Schritt sein. Und wenn wir wieder stark genug sind, können wir vielleicht von zwei Seiten aus gleichzeitig zuschlagen und das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen.«
»Meinen Sie nicht, er rechnet mit so etwas?«
»Wenn er so klug ist, wie es heißt, dann ja. Dass er trotzdem verhandeln will, zeigt mir, dass er – genauso wie wir – für einen weiteren Kampf in diesen Dimensionen derzeit nicht die erforderlichen Mittel besitzt. Ich schätze, er spielt ebenso auf Zeit, wie wir es tun.«
Pjotrew gönnte sich noch einen guten Schluck Tee, bevor er fortfuhr.
»Ihr Standpunkt ist nachvollziehbar, Genosse Admiral. Dafür spricht auch, dass die neuesten Wetterdaten darauf hindeuten, dass die Kälteperiode wesentlich schneller zu Ende gehen wird, als ursprünglich angenommen. Die Feinstaub-Partikeldichte in der Atmosphäre hat deutlich abgenommen und bereits für das kommende Frühjahr rechnen die Meteorologen mit merklich steigenden Temperaturen. Das wiederum bedeutet, dass die auf dem Siedlungsgebiet der Eurasischen Union eingefrorenen Zeds wieder aktiv werden. Kzu’ul könnte das in seine Pläne mit einbeziehen. Vielleicht nimmt er an, dass eine Zunahme der Zed-Dichte im Binnenland unsere Kräfte derart schwächt, dass er einen neuen Vorstoß wagen kann. Außerdem muss er, wenn er nicht wieder verheerende Niederlagen einfahren will, seine Taktiken verändern. Statt groß angelegter Invasionstruppen müsste er viele kleinere Konflikte suchen, um unsere Kräfte aufzuspalten.«
»Wir brauchen definitiv mehr Atomwaffen!«, konstatierte General Ruetli.
Admiral Ilia Duginow schnaubte verächtlich.
»Mehr Atomwaffen? Ich bitte Sie! Reicht es nicht, was der Marschall mit seinem Bombenwahn über unsere Welt gebracht hat? Ist das nicht genug? Es hat ihm nicht gereicht, dass die meisten Atomkraftwerke havariert sind, dass es zu Kernschmelzen mit unabsehbaren Folgen kam, nein, wir mussten auch noch die halbe Welt mit Atomwaffen in Schutt und Asche legen. Wenn die meterhohen Schneedecken im Osten und Norden abschmelzen, dann werden Sie sehen können, wohin die Atomwaffen uns geführt haben. Nein, meine Meinung steht fest: Atomwaffen dürfen allenfalls das letzte Mittel bleiben und nicht das erstbeste Mittel der Wahl sein.«
»Da stimme ich dem Admiral unumwunden zu«, schloss Pjotrew sich an, »und deshalb bin ich dafür, dass wir uns anhören, über was der Struggler mit uns verhandeln will. Mein Vorschlag wäre, mit ihm auszuhandeln, dass er und seinesgleichen jenseits des großen Zaunes sicher vor Verfolgung sind und bleiben, er dafür im Gegenzug darauf verzichtet, erneut die Grenze zu überschreiten. Wir hätten dann Zeit gewonnen, um unsere Defensivmaßnahmen an der Ostgrenze erheblich zu verstärken. Und wir müssen auch darüber nachdenken, das Schwarze Meer und das Mittelmeer abzusichern, denn zumindest die Struggler sind fähig, sich unter Wasser fortzubewegen.«
Die Generäle nickten zustimmend. Charles Rainiers, der Befehlshaber der Instandsetzungsarmee, brachte einen weiteren Punkt ins Spiel.
»Wenn wir dadurch Zeit gewinnen könnten«, führte er aus, »sollten wir unsere Bemühungen eventuell darauf ausrichten, neue Waffen gegen die Zeds in Stellung zu bringen. Vielleicht gelingt es uns, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.«
»Sie meinen B- und C-Waffen?«, fragte General Thorsson.
»Schwierig bis aussichtslos«, erwiderte Pjotrew. »Aus den Versuchen von Weyrich und Fischer wissen wir, dass die Zeds gegen so ziemlich jedes Gift resistent sind, das wir herzustellen vermögen. Und das Z1V33-Virus schützt den Struggler gegen jedwede Infektion mit Viren und Keimen. Die Selbstheilungskräfte dieser Kreaturen sind märchenhaft.«
»Gleichwohl gelingt es dem Struggler, aus vergleichsweise simplen Zeds wie zum Beispiel Huntern, durch eine Reinfektion Struggler zu machen. Also schützen das V31 und V32 nicht gegen jede Intrusion, oder sehe ich das falsch?«
»Das sehen Sie natürlich richtig, General Thorsson, aber um das Z1V33 der Struggler zu überschreiben, bräuchte es ein komplett neu organisiertes Virus aus demselben Stamm.«
»Gab es das nicht vor ein paar Wochen bereits?«
»Das stimmt insofern, als dass Gärtner mit seinen Topwissenschaftlern in einem Geheimlabor die Versionen vierunddreißig und fünfunddreißig kreierte, um seine eigene Zombiearmee aufzustellen, die Nephilim. Und für seine Getreuen wollte er eine Art Unsterblichkeitsserum entwickeln.«
»Vielleicht können wir uns da einhängen«, sagte der Norweger mit fragender Miene.
»Das wird schwierig. Sowohl Professor Ethelston als auch sämtliche Forschungsergebnisse und alle Proben seiner Arbeit sind seit dem Umsturz verschwunden. Wir suchen nach ihm, haben aber keine Anhaltspunkte, wo er sich versteckt hält. Er wird sich irgendwo in der Wasserwelt bedeckt halten und vielleicht versuchen, irgendwann unerkannt zu entkommen. Aber wir besitzen nicht die Kapazitäten, um dort draußen jede Eisscholle umzudrehen.«
Thorsson nickte.
»Das ist verständlich, ja. Aber dennoch sollten wir General Rainiers Vorschlag im Auge behalten und uns im gesamten Siedlungsgebiet nach Fachkräften umsehen, mit denen wir ein entsprechendes Programm initiieren können. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Und bis wir so etwas aufgestellt haben, sollten wir versuchen, mit den Zeds einen Weg zu finden, der uns die Konsolidierung ermöglicht.«
»Sind wir uns also einig?«, fragte Pjotrew in die Runde. Alle nickten.
»Wie weit kann ich in den Verhandlungen gehen?«
Ruetli antwortete ihm.
»Ich denke, Sie haben freie Hand, General Pjotrew. Tun Sie, was immer nötig ist und was am besten für unsere Leute ist. Ich vertraue Ihnen da voll und ganz.«
Zur Bestätigung klopften alle leise auf die Tischplatte. General Pjotrew nickte und setzte seine Mütze auf. Alle Generäle erhoben sich.
»Dann werde ich jetzt alle nötigen Vorbereitungen für meine Abreise treffen. Meine Herren …«
Er salutierte. Die anderen taten es ihm gleich. Kurz darauf war der General unterwegs zum Hangar AIII-B, dem Ort, an dem alles begonnen hatte.