Jahr drei, 01. Januar, Nachmittag V

»Alv! Eckhardt! Kommt schnell!«, rief Katharina durch die Grand Rue. Die beiden waren gerade gemächlich in Richtung Villa Béthania unterwegs, als Katharina ihnen auf halbem Weg entgegengelaufen kam. Sie wirkte gehetzt und trug einen seltsam schockierten Gesichtsausdruck.

»Was ist los?«, fragte Alv. Die beiden Männer setzten sich in Trab und liefen an ihr vorbei.

»Es ist Oleg, im Computerraum!«, rief sie Alv hinterher und blieb stehen, um erst einmal Luft zu holen.

Die beiden beleibten Männer beeilten sich, so schnell wie möglich den Weg zur Villa hinter sich zu bringen und stürzten außer Atem in das als Operationszentrale eingerichtete Zimmer, in dem mehrere Computer liefen und ein gutes Dutzend Monitore alle möglichen Anzeigen präsentierten.

Über die Arbeitsplatte gebeugt lag ein schluchzendes, nach Luft japsendes Häuflein Elend. Oleg hyperventilierte und heulte wie ein Schlosshund, und als Alv ihn von der Platte zog und ihn im Bürostuhl aufzurichten versuchte, schüttelten ihn weitere Heulkrämpfe.

»He! Junge! Was ist los?«, sprach Alv ihn an.

Er reagierte nicht, blieb hysterisch, konnte kein Wort formulieren. Eckhardt trat hinzu und versetzte dem Jungen eine schallende Ohrfeige, was den hysterischen Ausbruch abrupt unterbrach.

»Was ist los?«, fragte Eckhardt, dessen Gesicht sich direkt vor dem von Oleg befand.

Alv drehte sich um und nahm die Anzeigen der Monitore etwas genauer in Augenschein. Auf einem der Nebenmonitore lief eine Videoaufzeichnung, die vier Bildfenster zeigte, offenbar Aufnahmen von Überwachungskameras. Sie ähnelten den Bildern, die Alv im Zuge der Veröffentlichung der geheimen Videos aus der Feste Rungholt kannte. Doch die Bilder, die es hier zu sehen gab, waren neu.

Ein weiterer Monitor daneben zeigte ebenfalls eine Videoaufzeichnung mit aktuellem Zeitstempel, aufgenommen vor nicht mehr als einer Stunde. Hier sah man Bilder, die offensichtlich von einem Helikopter aus gemacht worden waren.

»Mein Gott. Ich glaube es nicht.«

Oleg kam zur Besinnung und stammelte:

»Igor. Mein Geliebter ist tot.«

»Wie? Was? Ich dachte, er …«

Eckhardt bemerkte, wie Alv, der hinter ihm stand, an seiner Jacke herumfummelte und drehte sich um. Er schaute Alv fragend an und folgte seinem Blick auf die Monitore.

»Ach, du Scheiße …«, entfuhr es ihm.

Der größere Monitor zeigte aus der Vogelperspektive Bilder, die man sonst nur von der Entstehung der Insel Surtsey oder vom Ausbruch des Mount St. Helens kannte. Kochendes, glühendes Gestein, über dem gigantische Dampfwolken in allen nur erdenklichen Grauschattierungen aufstiegen.

Anhand der Schiffe, die auf den Bildern zu sehen waren, konnte Eckhardt die schmelzende Landmasse als die ehemalige Insel Helgoland identifizieren.

Eines der riesigen Kreuzfahrtschiffe wurde gerade in den glühenden Krater gerissen, es versank im Magma mit Mann und Maus. Der Krater erzeugte nun, da sich das Wasser der Nordsee in ihn hinein ergoss, noch gewaltigere Dampfschwaden, die sogar Felsen und flüssiges Gestein mit sich emporrissen.

Die völlige Vernichtung der Insel Helgoland spielte sich binnen weniger Minuten ab und es war nicht davon auszugehen, dass viele Menschen diese Katastrophe überlebt hatten, wenn der bestialische Schlund sogar Dreihundertsechzigmeterschiffe verschlang, als seien es Käsecracker.

Der benachbarte Monitor zeigte in einer Wiederholungsschleife eine technische Einrichtung, wahrscheinlich den Reaktorraum. Überall zuckten rote und gelbe Lichter und an diversen Stellen trat Dampf aus. Man konnte aus vier verschiedenen Perspektiven beobachten, wie das ringförmige Konstrukt zu vibrieren begann, dann immer heftiger hin und her schwang und schließlich barst. Die Bilder endeten jeweils mit einem starken violetten Leuchten, dann sprang die Aufzeichnung zurück zum Startzeitpunkt und wurde erneut abgespielt.

»Was geht denn da ab?«, fragte Katharina, die den Raum gerade betreten hatte.

»Das ist, vielmehr war die Insel Helgoland«, antwortete Alv ruhig. »Wahrscheinlich hatte ihr Fusionsreaktor eine Fehlfunktion und ist durchgebrannt.«

»Aber … aber … die ganze Insel ist …«, stotterte Katharina völlig fassungslos.

»… weg«, vollendete Eckhardt ihren Satz mit stoischer Miene.

Von Olegs Stuhl konnte man schon wieder seine japsende Atmung vernehmen, eine Sekunde später brach er erneut in Tränen aus.

»Armer Junge«, meinte Alv voller Mitgefühl, »nun hat er seinen Geliebten schon zum zweiten Mal verloren, diesmal jedoch endgültig.«

Katharina ging zu Oleg hin und umarmte ihn. Alv und Eckhardt setzten sich an die Computer und begannen, das Netz zu scannen.

»Einige der DHCP-Server sind ausgefallen«, stellte Eckhardt fest, »versuche zu kompensieren.«

Alv klapperte auf der Tastatur herum.

»Ich versuche, eine Sat-Verbindung zu General Pjotrew aufzubauen, sein Gerät wird als aktiv angezeigt. Durchwahl … erfolgt. Direktverbindung über Inmarsat erfolgt … jetzt. Leitung steht, nur Audio.«

Aus den Lautsprechern kam ein von Störgeräuschen begleitetes Freizeichen. Dann wurde das Gespräch angenommen.

»General Pjotrew? Hier Alv Bulvey. Ich bin froh, Ihre Stimme zu hören!«

»Ich sitze gerade im Flugzeug und befinde mich auf der Rückreise von der Ostfront. Ich vermute, Sie haben die Bilder im Netz gefunden?«

»Ja, General. Furchtbar. Können wir helfen?«

»Möglicherweise. Ich befinde mich auf dem Weg zum Notquartier, das wir in der Nähe der Stadt Rendsburg installiert haben, ETNH eins, der Flugplatz Hohn.«

»Ist mir bekannt, ja.«

»Bis wir ein neues Hauptquartier errichten können, brauchen wir Unterstützung bei der Neustrukturierung des Datennetzes. Sie haben doch so einen jungen Fachmann da, ich würde ihn gern mit unseren Technikern zusammenbringen, um eine große logistische Sache aufzubauen, die schnell umgesetzt werden muss.«

»Verstehe, General. Wir werden helfen, wo wir können.«

»Wenn die gröbsten Arbeiten im neuen Kommandozentrum erledigt sind, würde ich gern zu Gesprächen bei Ihnen vorbeikommen. Es gibt Dinge, die bespricht man besser Auge in Auge.«

»Sie sind uns jederzeit willkommen, General.«

»Gut, die Technikabteilung meldet sich wahrscheinlich morgen bei Ihnen. Danke erst einmal soweit. Und richten Sie bitte Tschertschinksi mein Beileid aus.«

Die Leitung wurde unterbrochen. Einige Sekunden lang geschah nichts in dem Raum. Die einzigen Geräusche rührten von den Lüftern der PCs her und vom Schluchzen des zu Tode betrübten Oleg.

»Okay«, raffte Alv sich auf, um etwas zu sagen, »das ist ziemlich starker Tobak. Die gesamte Festung weg und die militärische Führung der neuen Nation auf der Suche nach einem Zuhause.«

»Finden die denn da in Rendsburg überhaupt eine ausreichende Infrastruktur?«, wollte Eckhardt wissen.

Alv nickte.

»Strategisch gesehen nicht schlecht. Der Flugplatz liegt zwar einige Kilometer außerhalb, aber die Stadt hat durch den Kanal Verbindung zu Nord- und Ostsee, ein Wirtschaftshafen für Schiffe bis Panamax-Klasse ist vorhanden. Außerdem verläuft die Nord-Süd-Bahnlinie durch die Stadt, ebenso die A7. Datenleitungen sind ausreichend vorhanden, Rechnerkapazitäten dürften kein Problem sein, auch Verwaltungsgebäude gibt es reichlich. Es gibt zwei Kasernenkomplexe, die reaktiviert werden können. Die Umgebung eignet sich zur Nahrungsmittelerzeugung. Viele der Schiffe, die jetzt vor Helgoland der Katastrophe entkommen sind, können bis in das Stadtgebiet hinein verbracht werden. Alles in allem keine schlechte Wahl, würde ich sagen.«

»Aber es wird dauern, bis das alles rund läuft. Wollen wir mal hoffen, dass die Zeds das nicht spitzkriegen.«

»Das ist letztlich nicht unser Problem, Eckhardt. Unsere Aufgabe ist es, mit unseren Leuten weiter zu überleben. Ich schaue mal nach dem Jungen.«

»Okay, ich kümmere mich um die Arbeiten am Wall draußen. Bis später dann.«

Eckhardt nickte und verließ den Raum. Alv ging zu Oleg hinüber, der sich noch immer an Katharinas Schulter ausheulte. Alv ging in die Hocke und schaute Oleg an.

»Ich weiß, es geht dir schlecht, Oleg. Das kann hier auch keiner besser machen. Es tut mir leid wegen deines Verlustes. Dem General übrigens auch.«

»De-her ha-hat ja auch-ch gut re-den …«, schluchzte der junge Mann.

»Na ja, ich denke, er ist auch nicht glücklich darüber, dass die meisten seiner Offiziere, Soldaten und viele der ihm anvertrauten Leben verloren sind. Er meinte es ernst.«

»Ja-ha … ich wei-eiß …«

»Also, Oleg. So schwer es auch ist, wir brauchen dich und deine Fähigkeiten jetzt. Die Techniker der Union müssen auf den Trümmern nun eine komplett neue militärische Netzstruktur errichten, und der General hat mich gefragt, ob du ihnen dabei behilflich sein kannst. Kannst du das tun, Oleg?«

Der Junge hob den Kopf und sah Alv aus verheulten Augen an.

»Ja, ich kann das.«

»Gut, Oleg. Sobald die Unionstechniker sich melden, gehst du an die Arbeit, okay? Ich verlass’ mich auf dich.«

»Ja, ist in Ordnung, das kannst du.«

Alv erhob sich und schaute Katharina an.

»Bleibst du noch bei ihm?«

»Klar, mache ich. Wir sehen uns dann zum Abendessen.«

Alv nickte und verließ die Kommunikationszentrale. Er wollte Holger suchen, um ihn ebenfalls um Mithilfe zu bitten.