Jahr zwei, 25. Dezember, Morgen III
»Wie sind die Strahlungswerte?«, fragte General Pjotrew den Copiloten.
Der Zielflugplatz von Krakau lag zwar außerhalb der durch den Einsatz nuklearer Sprengköpfe stark verstrahlten roten Zone, die Männer und Frauen des Einsatzteams würden jedoch trotzdem hohen Strahlendosen ausgesetzt sein. Der Copilot drehte sich nach hinten zu General Pjotrew und antwortete.
»Etwa fünfundfünfzig Millisievert pro Stunde, wenn alle Schutzanzüge tragen, Herr General. Ohne Anzüge das Zehnfache.«
»Gut. ETA?«
»Erwartete Ankunft um etwa fünfzehnhundert, Herr General.«
Pjotrew nickte und begab sich wieder in den Frachtraum der An-74, in dem vier Dutzend bestens ausgebildete und bis an die Zähne bewaffnete Mitglieder verschiedener Sondereinheiten des Heeres auf ihren Einsatz warteten. Falls der Struggler etwas Dummes versuchen würde, hätte er mit erheblicher Gegenwehr zu rechnen. Jeder Mann und jede Frau in dieser Einheit würde, ohne zu zögern, das eigene Leben für die Sicherheit des Generals geben.
»Soldaten!«, sagte der General mit erhobener, kraftvoller Stimme. »Wir erreichen in etwa fünfzehn Minuten unseren Einsatzort. Strahlenschutzkleidung ist anzulegen, Aufenthalt unter keinen Umständen länger als sechzig Minuten. Jeder erhält eine Dosis Jodtabletten und nach der Rückkehr ist vollständige Dekontamination angeordnet. Das bedeutet, niemand verlässt den Hangar ohne Befehl. Vor Ort wird, wie besprochen, zunächst ein Abwehrwall gebildet, fünf Mann der SpezNas-Einheiten A1 und A2 bilden das Vorauskommando. Wenn die Situation geklärt ist, öffnen wir den Kordon und ich beginne die Verhandlungen mit dem Gegner. Einheiten A3 und A4: Ihr sichert den Treffpunkt und den gesamten Weg zurück zur Maschine, die mit laufenden Triebwerken wartet. Feuer nur auf Befehl oder wenn ihr unzweifelhaft angegriffen werdet.«
Exakt achtzehn Minuten später berührten die Räder der Antonow die verschneite Landebahn. Die Maschine umrundete eine große Schneewehe am Ende der Piste und steuerte einen etwas zurückliegenden Hangar in der Nähe der Südpiste an. Der Pilot drehte und öffnete die Heckklappe, die zum Hangartor hin zeigte.
Die ersten Soldaten sprangen von der Rampe und sicherten die unmittelbare Umgebung. Hektisch ruckten die Läufe ihrer Waffen in alle Richtungen. Sie schwärmten aus und inspizierten jeden Winkel auf das Genaueste. Als alle Unklarheiten beseitigt waren, gaben die Männer das verabredete Zeichen.
General Pjotrew und seine Garde traten in Schutzanzügen aus dem Flugzeug und näherten sich dem Hangartor, das zu etwa einem Drittel offen stand.
In der Halle herrschte eine dämmrige Atmosphäre, durch eine Reihe von Oberlichtern fiel schummriges Licht in den Hangar. Das Vorauskommando betrat die Halle, vorsichtig, sichernd, aufmerksam.
»Position eins gesichert«, hörte Pjotrew im Schutzanzug über Funk, »Strahlungswerte bei siebzehn Millisievert pro Stunde, Stufe gelb.«
Pjotrew nickte und gab ein Handzeichen, das die übrige Truppe veranlasste, vorzurücken. Als die Gruppe von etwa zwei Dutzend Soldaten um den General herum in der Halle Aufstellung genommen hatte, öffnete dieser seine Schutzhaube und streifte sie wie eine Kapuze nach hinten ab. Die Strahlenwerte im Innern des Hangars waren erträglich, und Pjotrew wollte seinem Verhandlungspartner nicht in einer Verkleidung gegenübertreten, welche die eigene Verwundbarkeit so sehr demonstrierte wie ein Strahlenschutzanzug. Seine Männer trugen weiterhin ihre Schutzmasken, sie sollten dem Feind auch nicht Auge in Auge gegenüberstehen.
Im Hangar herrschte völlige Stille, lediglich das Knarzen der Funkgeräte war zu vernehmen. Im Raum breitete sich eine gähnende Leere aus, bis auf einen Haufen Blechteile, die im hinteren Bereich aufgestapelt lagen.
Mit einem Mal konnte man von dort eine Bewegung vernehmen, etwas flog durch die Luft und landete circa fünfzehn Meter vom General entfernt. Der Boden vibrierte, als der massige Körper des mächtigen Strugglers wummernd auf den Füßen landete. Sofort folgten mechanisches Klacken von Sturmgewehren und das seltsame statische Knistern der Kunststoffanzüge, gepaart mit hektischen Atemgeräuschen aus Gasmaskenfiltern.
Hektik, Aufregung und Nervosität machte sich in Pjotrews Garde breit, als der fast zweieinhalb Meter große Hüne sich aufrichtete und seine Deltamuskulatur wie Flügel aufstellte, eine Geste des Imponierens. Aus seiner Kehle rollte ein dumpfes, druckvolles Knurren.
Der General zeigte sich davon nicht sonderlich beeindruckt. Wachsam wanderten seine Blicke durch die Halle. Offensichtlich war der Struggler zumindest hier im Gebäude allein.
»Status: Grün!«, sprach er in das Mikrofon seines Headsets. Daraufhin fächerte die Phalanx der Soldaten sich auf und gab eine Öffnung nach vorn frei.
Pjotrew trat einige Schritte vor. Er musterte die Kreatur genau, die sich da vor ihm aufbaute. Unter wulstigen Brauen lag eine dicke Schädelplatte, darunter tiefe Höhlen, in denen rot unterlaufene Augen lagen. Der gesamte Kopf wirkte stark verbreitert und ein ausladendes Kinn verbarg Kiefer, welche die Kraft einer Hydraulikschere hatten, vermutete der General. Der restliche Körper, der nur in Teilen mit Fetzen von verschmutzter Kleidung bedeckt war, erweckte den Eindruck, als stelle er die Karikatur eines Bodybuilding-Süchtigen dar. Völlig übernatürlich proportionierte Muskeln überlagerten einander und Pjotrew fragte sich ernsthaft, wie viel Energie notwendig sein mochte, diese Muskelberge in derart schnelle Bewegung zu versetzen, wie man sie in den Videoaufzeichnungen von agierenden Strugglern beobachten konnte.
Kzu’ul stand angespannt, leicht vornüber gebeugt im hinteren Drittel des Hangars im fahlen Licht, das die beschlagenen Scheiben durchließen. Zahlreiche kleine Lichtlanzen der Sturmgewehre zeigten auf ihn. Seine Stimme donnerte durch den Raum.
»Ist der Anführer der Warmen derart voller Furcht, dass seine Gefolgsmänner Kzu’ul bedrohen müssen?«
War das ein Anflug von Sarkasmus? Pjotrew war erstaunt. Möglicherweise waren die Struggler, insbesondere ihr Führer, nicht gar so tumbe Tiere, wie viele im Führungsstab der Armee annahmen.
»Ich bin mutig, aber nicht dumm, Kzu’ul.«
»Kzu’ul ist allein. Du nicht.«
»Du bist allein. Natürlich. Und ich tanze nächste Woche in der Offiziersmesse den Schwanensee.«
Irgendwo hinter Pjotrew kicherte einer der Soldaten, verstummte jedoch sofort, als ein Kamerad ihm mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß versetzte. Pjotrew fuhr unbeirrt fort.
»Sollten deine Leute dort draußen meine Leute angreifen, werdet ihr überrascht sein. Leutnant Ilianow …«
Er machte ein lässig wirkendes Handzeichen und einer der Soldaten trat vor. Er hob seine Waffe und zielte demonstrativ an Kzu’ul vorbei auf den Blechhaufen hinten in der Halle. Pjotrew nickte und der Soldat schoss mit seiner Uranmunition einmal auf den Haufen. Nach dem Einschlag des Projektils begann der Haufen laut zu zischen und weiße Funken sprühten daraus hervor. Nach etwa dreißig Sekunden war alles vorüber und mit einem deutlich sichtbaren Glühen sackte der Haufen etwas zusammen.
»Meine Männer tragen alle diese Munition in ihren Waffen. Deine Gefolgschaft sollte also eine Auseinandersetzung tunlichst vermeiden. Verstehen wir uns richtig?«
Der Struggler schaute scheinbar nachdenklich auf den Haufen Schrott. Dann reckte er den Kopf in die Höhe und wirkte etwas geistesabwesend. Pjotrew kannte diese Geste von dem anderen Struggler. Sie zeigte, dass er seine mentale Kommunikation benutzte. Dann sah er Pjotrew wieder an.
»Deine Krieger können ihre Waffen senken. Es herrscht jetzt kein Kampf.«
Ein einziger Fingerzeig des Generals genügte, und alle Soldaten senkten gleichzeitig ihre Waffen. Die kleinen Lichtkegel der Zielscheinwerfer wanderten über den Boden der Halle, weg von dem Struggler.
»Also gut, Kzu’ul«, begann General Pjotrew, »da bin ich. Über was willst du mit mir verhandeln?«
»Deine Krieger müssen zuerst gehen. Unsere Worte sind nur für dich und Kzu’ul bestimmt. Dir wird kein Leid geschehen, Anführer der Warmen. Das ist ein Wort der Ehre für Kzu’ul.«
»Also gut.«
Pjotrew drehte sich um.
»Gruppen A1 und A2. Rückzug bis zum Tor.«
»Aber …«, kam es von hinten.
»Das war kein Vorschlag«, sagte der General und blickte seine Männer ernst an. Diese zogen sich bis zum Tor zurück. Der General bewegte sich bis in die Mitte der Halle, wo der Struggler jetzt in einem etwas helleren Bereich stand.
»Du besitzt Mut«, bemerkte Kzu’ul lapidar.
»Ich fürchte euch Struggler nicht.«
»Gap hat mir vom Mutanten berichtet, den du zerstört hast.«
»Der Marschall? Ja. Er sah noch ein bisschen mehr nach Schwarzeneggers Großmutter aus als du. Auch ihn fürchtete ich nicht.«
»Kzu’ul konnte seine Gedanken hören. Er war mächtig, aber auch sehr beschädigt. Im Fluss seiner Gedanken gab es viele Wirbel.«
Der General nickte.
»So kann man das auch sagen. Er war völlig wahnsinnig. Noch verrückter als du.«
»Kzu’ul ist nicht beschädigt im Inneren. Folgt lediglich der Bestimmung des Fleisches.«
»Das macht uns zu Feinden.«
»Ja.«
Der General schnalzte mit der Zunge und machte ein Geräusch, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Tja. Unsere Optionen sind begrenzt. Geht der Kampf weiter, wird eine Seite irgendwann gewinnen. Ist doch so, oder? Welche Seite das ist, steht in den Sternen.«
»Die Struggler sind mächtig und verfügen über viele, sehr viele niedere Wesen.«
»Die Menschen sind intelligent und verfügen über viele, sehr viele Atomwaffen.«
Kzu’ul hielt einen Moment inne.
»Was ist«, fragte Pjotrew, »brauchst du den Rat deiner Gefolgsleute?«
»Nein. Kzu’ul ist Führer und Höchstes Wesen. Kommuniziert nur mit dir im Moment. Teilt die Gedanken nicht.«
»Gut. Dann komme ich jetzt mal zur Sache. Du wirst diesen Krieg auf lange Sicht nicht gewinnen können, Kzu’ul. Und du wirst mein Volk nicht an deinesgleichen verfüttern. Hör mir genau zu. Ich biete dir jetzt eine Option, die du gut überlegen solltest …«