Jahr drei, 01. Januar, Nachmittag II

»Aktivieren sie die Notabschaltung! Sofort!«

»Notabschaltung reagiert nicht!«

»Panzersicherungen entfernen!«

»Die Sicherungen sind festgebrannt! Die Konverter laufen mit unverminderter Intensität! Ich kann die Reaktion nicht unterbrechen!«

Im zentralen Leitstand des Fusionsreaktors in der Feste Rungholt herrschte Alarmstimmung. Der Tokamak-T7-Reaktor geriet langsam außer Kontrolle. Die Magnetfeldkonverter liefen asynchron und die spiralförmig verdrehten Magnetfelder verloren ihre Integrität. Die Dämmung des etwa einhundert Millionen Grad heißen Plasmastroms ließ schrittweise nach. Die Toroidalkammer begann bereits zu zittern, in Kürze würde sie beben und möglicherweise brechen. Der im Plasma selbst fließende Strom, der die verdrillten Magnetfelder speiste, zeigte Interferenzen und der GAU war längst keine theoretische Angelegenheit mehr.

Der auf einem russischen Prototypen basierende Fusionsreaktor stellte eigentlich eine technische Weiterentwicklung des französischen ITER-Projekts dar, er galt als zuverlässig und, im Gegensatz zu Forschungsreaktoren, durchaus als Nettoenergie erzeugend.

Die gewaltige Anlage, die tief unter den offiziellen Bereichen der Feste Rungholt verborgen seit nunmehr über drei Jahren ihren Dienst verrichtete, lief seit dem Beginn der Zombieapokalypse nicht mehr im Minimalbetrieb, sondern permanent am Limit. Sie sollte zeigen, dass Kernfusion als Energiekonzept für die Zukunft taugte und der Menschheit dienlich sein würde.

Man hatte die Probleme der Supraleiterkühlung und der intermittierenden Zündungen weitgehend gelöst, nur schien es, als sei der andauernde Hochleistungsbetrieb der Anlage nun zum Verhängnis geworden. Durch austretendes Plasma in Mikrolecks waren die Verbindungen der Stromzuleitungen jetzt untrennbar mit der Fusionskammer verschmolzen und der Reaktor fütterte sich im Grunde selbst, wobei die Plasmatemperatur stets zunahm, was eine unkontrollierte Helium-3-Deuterium-Reaktion immer wahrscheinlicher werden ließ.

Wenn aber das Plasma mit dem Kühlmittel der Supraleiter reagierte, würde sich die Plasmatemperatur mindestens verdoppeln, vielleicht sogar verdreifachen. Das wiederum würde den Reaktor in eine kleine Sonne verwandeln. Der leitende Ingenieur Hans Meyrink musste dies verbittert zur Kenntnis nehmen.

»Raus! Alle raus hier!«, brüllte er und griff zum Hörer des Fernsprechers, der ihn mit dem Generalstab in der Operationszentrale verband.

Mittlerweile war das sonore Brummen des Reaktors zu einem wummernden, auf- und abschwellenden Dröhnen geworden, so dass Meyrink in den Hörer brüllte.

»Hier L. I. Meyrink – T7! Alarm Rot! Der Reaktor brennt durch! Evakuieren Sie sofort die gesamte Festung!

*

Am anderen Ende sprach General Thorsson.

»Was genau ist los, Meyrink?«

»Unsere Magnetfelder kollabieren! Plasmatemperatur steigt unaufhörlich! Wir sind bereits bei einhundertachtzig Millionen Grad und im roten Bereich. Notabschaltung hat versagt. Wir verlieren die Kontrolle. Sie müssen verdammt noch mal die Leute von der Insel schaffen!«

»Wie lange haben wir noch, L.I.?«

»Keine Ahnung, vielleicht fünfzehn Minuten, etwas mehr, wer weiß?«

»Also gut, wir geben den Evakuierungsbefehl. Was ist mit Ihnen?«

»Meine Leute sind auf dem Weg nach oben. Für mich ist es zu spät. Ich versuche, was ich kann, um den Burnout so lange wie möglich hinauszuzögern!«

»Ich danke Ihnen, Meyrink. Gott sei mit Ihnen.«

Der General legte auf und Sekunden später dröhnten die Alarmsirenen durch die gesamte Festung. Auf allen Ebenen wurde es hektisch. Die meisten hielten dies für eine Übung, wie sie alle paar Monate einmal angesetzt wurde. Die Letzte lag gute acht Wochen zurück, und das gesamte Personal hatte sich draußen auf dem Eis eingefunden, wo man scherzte und lachte.

Ein Adjutant trat an die Generäle heran und forderte sie auf, gemäß der Evakuierungsvorschrift ihre Plätze in den Helikoptern auf dem Helipad drei einzunehmen. Hier standen zwei Black-Hawk-Hubschrauber bereit, um die Befehlshaber im Falle einer Evakuierung schnell in Sicherheit bringen zu können. Ruetli, Thorsson, Duginow, Rainiers und ihre Adjutanten verließen die OPZ und bestiegen kurz darauf die beiden Helikopter, deren Piloten angehalten waren, im Falle einer Übung mit laufenden Rotoren die Kommandeure aufzunehmen. Am Ende der Übung stieg man wieder aus und die Maschinen wurden abgeschaltet. Alles Routine.

*

General Ruetli nahm auf dem Copilotensitz des einen Hubschraubers Platz und befahl dem Piloten:

»Starten sie.«

»Aber …«

»Das ist ein Befehl.«

»Jawohl, Herr General.«

Er gab dem Kameraden, der den zweiten Helikopter fliegen sollte, ein kreisendes Handzeichen und beide Fluggeräte erhöhten sofort die Drehzahl ihrer Rotoren.

*

Alle Fluggäste trugen mittlerweile Headsets und General Thorsson befahl im zweiten Hubschrauber, eine Verbindung mit General Pjotrews Satellitentelefon herzustellen. Als die Verbindung stand, hatte Thorsson einen Leutnant der SpezNas-Truppe am anderen Ende der Leitung.

»General Thorsson hier. Geben Sie mir General Pjotrew, Soldat. Sofort!«

Einen Moment dauerte es, bis der General am Apparat war. Der Norweger informierte Pjotrew kurz und bündig über den Stand der Dinge.

»Thorsson. General, wir haben eine Notlage am Reaktor. Der L. I. kann die Anlage nicht mehr halten, ein Burnout ist unabwendbar. Evakuieren die Feste.«

Er wartete die Antwort ab, dann sprach er weiter.

»Zweifelsfrei, General. Die Feste Rungholt ist verloren. Schlage vor, Sie fliegen direkt zum Ausweichpunkt ETNH eins, wir starten gerade dorthin. Wir erwarten Sie dort! Thorsson Ende.«

Hinter dem IACO-Code verbarg sich der Flugplatz in Hohn bei Rendsburg, wobei das E für Nordeuropa stand, das T für militärische Nutzung, N für Luftwaffe und H für Heeresflieger. Die Nummer eins bedeutete, dass dies der erste Ausweichflugplatz war, der im Falle einer Rungholt-Evakuierung angeflogen würde.

Die Helikopter hoben ab und gewannen schnell an Höhe, General Ruetli ordnete an, noch einen Moment in Sichtweite der Insel zu schweben. In den aufsteigenden Dampfschwaden des schmelzenden Eises offenbarte sich schemenhaft das volle Ausmaß der Katastrophe.

*

Im Innern der Festung, auf einer der untersten dokumentierten Ebenen, kämpfte der leitende Ingenieur Meyrink um jede Sekunde. Mittlerweile hatte er einen der Thermo- und Strahlenschutzanzüge angelegt, auf dessen silbriger Oberfläche sich zahlreiche zuckende Rundumlichter und blinkende Warnleuchten spiegelten.

Die Temperatur im Leitstand hatte die Marke von einhundert Grad Celsius längst überschritten, und auf der Anlage begannen die Plexiglasabdeckungen der Anzeigen und Bedienknöpfe langsam zu schmelzen. Immer wieder versuchte Meyrink, die Zuleitung von Heliumkühlmitteln zu regulieren, doch mehr und mehr mikroskopisch feine Risse bildeten sich auf atomarer Basis in der Panzerung der Hauptspindel.

Der eigentliche Reaktor hatte die Form eines riesigen Donuts, in dessen Innerem regulär das etwa einhundert Millionen Grad heiße Plasma durch die Spiralmagnetfelder in Rotation versetzt wurde. In der Deuterium-Plasma-Mischung kam es dann zur Kernfusion, aus der die verwertbare Energie über ein komplexes Turbinensystem gewonnen wurde.

Im Grunde nutzte man noch immer das Prinzip der Dampfmaschine, nur dass bei dieser der Heizkessel durchzubrennen drohte. Besonders unangenehm war, dass in diesem Kessel nicht eintausend Grad herrschten, sondern mittlerweile etwa zweihundert Millionen Grad, mit rasant steigender Tendenz.

Ein gewaltiges, die Fundamente erschütterndes Rumpeln kündigte an, dass in den Reaktorhalterungen die Synchronschwingung erreicht war. Der riesige Donut von mehr als dreißig Metern Durchmesser gebärdete sich wie eine unwuchtig laufende Waschmaschine im Schleudergang. Die Konstruktion hob und senkte sich in kurzen, heftigen Stößen, während sich die Mikrorisse in der Außenhülle sprunghaft erweiterten. Erste sichtbare Mengen Plasma und Helium traten aus und ein violetter Schleier bildete sich an der Reaktorhülle.

Im Inneren des Reaktors überschritt die Temperatur jetzt zweihundertfünfzig Millionen Grad, im Kontrollstand stieg sie auf fast achthundert Grad und die Lackierung der Schaltschränke verschmorte. Direkt über der riesigen Maschine, wo die Temperatur exorbitant anstieg, begannen die vier Meter dicken Stahlbetonwände zu schmelzen, große Brocken fielen auf den Ring hinunter und beschädigten ihn weiter.

Das Letzte, was Meyrink durch seine von der Hitze milchig werdenden Pupillen noch sehen konnte, war, wie sich ein gleißend heller Riss über die gesamte Ringkonstruktion zog, der sich schnell erweiterte. Dann verglühte der leitende Ingenieur mitsamt der Einrichtung des Reaktorraumes in der Zündung einer Sonne.