Jahr drei, 01. Januar, Nachmittag VI

Professor Ethelston rekelte sich an seinem Schreibtisch.

Er hatte sich in einer Arztpraxis eingenistet, die, direkt am Nord-Ostsee-Kanal gelegen, sich in einer relativ luxuriösen Villa befand. Einen Katzensprung vom Friedhof entfernt lag der dreistöckige Bau aus der Gründerzeit, in dem ein Chiropraktiker früher mit seiner Familie gelebt hatte. Die Praxisräume waren großzügig gestaltet, darüber eine opulente Wohnung und vor allem ausreichend sichtgeschützte Kellergewölbe, in denen Ethelston problemlos sein Laboratorium aufbauen konnte.

Die Umgebung war nicht allzu dicht besiedelt, nach der Rückeroberung hatten die Ordnungskräfte der Stadt Rendsburg den Fokus der Neubesiedelung offenbar auf die weiter im Norden gelegenen zentralen Stadtteile gelegt. Dem Professor war es nur recht, dass er im Norden und im Westen nur den Friedhof als Nachbarn hatte, im Süden lag der Kanal und im Osten gab es zwar einige Häuser, doch die waren meist nicht bewohnt.

Die autonome Stadtverwaltung hatte seinem Antrag entsprochen, dieses Haus zu übernehmen und hier demnächst eine Arztpraxis zu eröffnen. Den ursprünglichen Besitzer hatte man für tot erklärt. Die Stromversorgung war hergestellt und hilfsbereite Gemeindemitglieder, die verschiedener Handwerke kundig waren, gingen dem Professor hier zur Hand.

Seinen ehemaligen Tarnnamen Doktor Arke Lindström, praktischer Arzt, führte er nicht länger, zu groß die Gefahr, enttarnt zu werden. Er hatte sich für den Namen Greg Stillson entschieden, Herkunft aus Hastings, Sussex, um seinen Akzent zu rechtfertigen. Er gab weiterhin vor, ein praktizierender Arzt zu sein.

Unter seinem tatsächlichen Namen würde er wohl nie wieder auftreten können nach all dem, was er getan hatte. Die Gefahr einer zufälligen Entdeckung erschien ihm zu groß. Seine Experimente mit den Zombies, die Erschaffung der Superstruggler, die der verrückte Marschall als Nephilim bezeichnet hatte, die Entwicklung des Z1V35 – das alles waren Dinge, die mit ärztlicher Ethik nicht in Einklang zu bringen waren.

Einen ersten, undokumentierten Versuch mit der Variante 35 des Zombievirus hatte es ja gegeben, und zwar in der Nacht, als die Feste Rungholt angegriffen worden war. Der Professor hatte den schwer verletzten Marschall mit dieser Virusform behandelt und ihn transformiert in … ›ja, in was eigentlich?‹, dachte sich Ethelston, als er sich die Ereignisse, die noch keine zwei Monate zurücklagen, ins Gedächtnis rief. Gärtner war auch zu einer Art Nephilim geworden, allerdings besaß er zu diesem Zeitpunkt noch seine sämtlichen Erinnerungen sowie einen starken Willen. Das unterschied ihn deutlich von den anderen Nephilim der Z1V34-Version.

Rein theoretisch besaß er nun also das Unsterblichkeitsserum, jetzt galt es, die Formel zu verifizieren und das Serum reproduzierbar zu machen. In Gedanken schwebte ihm durchaus Großes vor.

Ich kann zum Schöpfer einer neuen Rasse werden, der Homo Superior wird den Homo Inferior ablösen als die führende Art auf dem Planeten.

Doch zunächst galt es, diesen Ort, sein Laboratorium und seine eigentliche Intention vor den Augen der Profanen zu verbergen.

Bereits eine Woche nach seiner Ankunft hatte er mit den Helfern die Praxisräume weitestgehend wieder hergerichtet, und er besaß eine Genehmigung, aus leer stehenden Praxisräumen im Stadtgebiet Gegenstände und Verbrauchsmaterialien zu nehmen. Diese Erlaubnis wurde von den Leuten auch oft als Plünderschein bezeichnet.

Schwieriger würde es werden, die für seine weiteren Forschungen benötigten Laboreinrichtungen und Präzisionsgeräte zu besorgen, aber dazu würde ihm schon etwas einfallen. Einen diesbezüglichen Versuch hatte er beim Stadtrat bereits unternommen. Sein Plan war, der Verwaltung weitergehende Dienste anzubieten, wie zum Beispiel Blutuntersuchungen und Gentests. Die dafür nötige Ausrüstung konnte er genauso für seine eigenen Zwecke gebrauchen. Es galt, Schein und Sein in einen gewissen Einklang zu bringen, so dass niemand Verdacht schöpfte.

Der Professor stand auf der großen Terrasse im ersten Stock, die nach Südwesten ausgerichtet war. Der Anbau, der aus schweren Balken errichtet worden war, bot reichlich Platz. Hier wollte er es sich in besseren Zeiten im Sommer gemütlich machen, sein Frühstück genießen und den Tag beginnen.

Doch nun galt es zunächst, die Legende vom guten Doktor aufzubauen, um sich lästige Nachfragen vom Leibe zu halten. Schon seit dem Umsturz im November ließ er sich einen Bart stehen, trug lässige Kleidung und versuchte, sein Auftreten den örtlichen Gepflogenheiten etwas anzupassen. Man wusste ja nie genau, ob nicht doch irgendwo Spione des Militärs nach einem verrückten Wissenschaftler Ausschau hielten. Doch wider Erwarten blieb es ruhig um ihn, und so konnte er wahrscheinlich bald mit den neuen Forschungsreihen beginnen.

»Hallo, Doktor Stillson!«, schallte es zu ihm hinauf. Es war Henningsen, einer der Räteleute, die in der Stadt das Sagen hatten. Ethelston winkte ihm zu.

»Einen Moment, ich komme herunter!«

»Machen Sie sich keine Mühe, Doktor, ich komme zu Ihnen.«

Wenige Augenblicke später stand der kräftige und sportliche Stadtrat vor ihm auf der Terrasse.

»Ich grüße Sie, Herr Doktor. Schöne Terrasse haben Sie da, sehr schöner Ausblick.«

Ethelston bemühte sich, möglichst bescheiden zu wirken.

»Nun ja, Herr Henningsen, ich weiß auch gar nicht, womit ich das verdient habe. Ich habe zuletzt unter ganz anderen Umständen gelebt und praktiziert.«

»Ach ja, auf diesem Schiff, nicht wahr?«

»Ja, auf der Oasis of the Seas

»Hatten Sie keine Lust mehr auf das Schiff?«

»Na ja, ich bin kein maritimer Typ. Als die Veränderung kam, entschloss ich mich, aufs Festland zu gehen. Und hier unter diesen netten Menschen habe ich ein neues Zuhause gefunden.«

»Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt, Doktor.«

»Inwiefern?«

»Die Oasis ist gesunken. Mit Mann und Maus.«

»Um Gottes willen! Wie konnte das passieren?«

Henningsen berichtete von der Katastrophe, die in diesen Minuten über die Netzkanäle bekannt gemacht wurde.

Der Professor lauschte geschockt und zugleich gebannt der Schilderung des Stadtrates. Gerade eine Woche war es her, dass Ethelston das große Schiff in der Nordsee vor Helgoland verlassen hatte, und nun erreichte ihn die Nachricht, dass die Festung durch einen Vulkanausbruch zerstört worden war, sogar die Megacruiser auf der Reede hatte es erwischt. Ethelstons Flucht hätte nicht viel später stattfinden können.

Alle Menschen in der Festung waren ums Leben gekommen, was dem Professor letztlich nur recht war, denn sämtliche Beweise seines verwerflichen Wirkens in den geheimen Kellern und Labors der Festung waren mit dem riesigen Bau eingeschmolzen worden. Er konnte nun gewissermaßen neu anfangen und sich unter dem Deckmantel eines rechtschaffenen Allgemeinmediziners weiter der Verbesserung seines Serums widmen.

»Das ist ja furchtbar«, heuchelte der Professor schieres Entsetzen, »ein Vulkan, sagen Sie? Hier im Norden? Das ist doch ziemlich ungewöhnlich, oder?«

Und ob es das war. Der Professor zweifelte nicht eine Minute daran, dass dieser Katastrophenfall eine andere Ursache hatte als vulkanische Aktivität. Helgoland war schließlich nicht Island. Und er war in dem riesigen Festungsgebäude ganz gut herumgekommen und hatte Dinge gesehen, die er vorher für Science Fiction gehalten hätte. Vielleicht war den Militärs eine Atombombe unter dem Hinterteil hochgegangen oder so.

Egal, Hauptsache, ich bin in Sicherheit‹, dachte Ethelston gerade, als seine Freude einen Dämpfer aufgesetzt bekam.

»Der Generalstab konnte evakuiert werden«, erzählte Henningsen weiter, »das neue Kommandozentrum wird jetzt wahrscheinlich hier in Rendsburg und Umgebung entstehen.«

Ethelston fluchte innerlich. Ausgerechnet Rendsburg. Ausgerechnet hier mussten diese Generäle sich herumtreiben. Das erhöhte die Gefahr einer Entdeckung allerdings enorm. Der einzige Vorteil war, dass der Professor hier nicht gesucht wurde, so könnte er vielleicht durch die Maschen eines Netzes schlüpfen, dessen Ausmaß und Maschenstärke er nicht kannte. Unauffällig und natürlich bleiben, hieß die Devise. Der Professor fragte:

»Ist das der Grund Ihres Besuchs bei mir, oder kann ich etwas für Sie tun? Ich habe zwar noch nicht geöffnet, aber die Praxis ist schon so weit …«

»Nein, nein«, winkte Henningsen ab, »ich bin eher in offizieller Angelegenheit hier, Doktor. Es geht um die Geräte, die Sie beantragt haben. Wir haben mit dem Chefarzt der Klinik gesprochen. Er lässt Ihnen für das Unterstützungsangebot danken, aber er sieht zurzeit keinen Bedarf für externe Laborplätze, vielmehr würde er sich freuen, wenn Sie hier bald die reguläre allgemeinmedizinische Versorgung unterstützen könnten, um die Notaufnahme der Klinik zu entlasten. Leider kann er Ihnen die angefragten Geräte auch nicht zu Forschungszwecken überlassen, da diese in der Klinik stark ausgelastet seien. Er bittet Sie um Verständnis.«

Ethelston schäumte innerlich vor Wut, aber er ließ sich nichts anmerken. Mit dem Augenaufschlag eines braven Buben konterte er:

»Aber natürlich! Um Gottes willen, ich wollte dem Chefarzt nicht zur Last fallen, keinesfalls! Ich dachte nur, falls er Hilfe bräuchte … Ich bin sicher, dass die Ärzte im Klinikum dort gute Arbeit leisten. Ich bin ja schon froh, wenn ich meine Praxis hier einigermaßen zum Laufen bringe und bald mit der Behandlung von Patienten beginnen kann.«

Henningsen nickte.

»Oh, glauben Sie mir, Doktor, wir sind froh, dass wir Sie haben. Wegen der fehlenden Medikamente werde ich mich noch einmal mit unseren Lageristen in Verbindung setzen. Ihre Idee, Arztpraxis und Apotheke in einem Haus zu betreiben, finde ich sehr gut.«

»Das hatte ich in meiner Landarztpraxis in der Nähe von Hastings auch vor … nun ja … vor dieser schrecklichen Sache.«

Gerd Henningsen sah den Doktor an.

»Ja, das war wohl für alle Menschen schrecklich. Na ja, ich muss dann mal wieder. Wenn Sie noch etwas brauchen, dann scheuen Sie sich nicht, es mir zu sagen, Doktor!«

Damit wandte er sich um und stieg die Stufen hinab.

Was ich brauche? Ein Genetiklabor und ein paar Freiwillige, du Tropf!‹, dachte Ethelston und betrat sein Wohnzimmer.

Hinter dem voluminösen Wohnzimmerschrank verbarg sich eine Dachschrägenabseite, die über eine der großen Schubladen der unteren Schrankelemente zu erreichen war. Ethelston zog die Schublade heraus und entfernte die Sperrholzrückwand des Schubladenkastens. Dahinter lag der dreieckige Raum, in dem er die Proben und sein Forschungsmaterial vor neugierigen Augen verbarg.

Der Sicherheitskoffer besaß einen elektrischen Anschluss, der das Material konstant bei einer Temperatur von minus vierzig Grad verwahrte. In einer Außentasche befanden sich die Datenträger und einige Papiere. Nachdem der Professor sich davon überzeugt hatte, dass all seine Schätze in guter Verfassung waren, verschloss er sein Versteck wieder und begab sich nach unten, um mit den Aufräumarbeiten in der Praxis fortzufahren.

Was er nicht wusste, war, dass ein paar neugierige Augen ihn durch einen Feldstecher von einem Haus in der Friedhofsallee aus beobachtet hatten.