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Mrs. Elnora St. James hatte immer noch eine klare Stimme und einen ebenso klaren Verstand – und eine klare Meinung über die Parrishs von Glendale-Marsh. Dies war offensichtlich ein Thema, bei dem sie sich gut auskannte. Diane merkte, dass es einfacher war, sie einfach nach eigenem Gusto reden zu lassen und nur gelegentlich eine Frage einzuwerfen.
»Die beiden Brüder Luther und Henry hätten verschiedener nicht sein können«, begann Elnora. »Henry war klug und freundlich. Luther war dumm und gemein. Das Land gehörte Henry. Ihr Vater hatte es ihm hinterlassen. Luther musste dagegen in einem kleinen Häuschen in der Nähe der nördlichen Grundstücksgrenze leben und war darüber äußerst verbittert. Er versuchte deshalb, Henry das Leben zu vermiesen. Henry vererbte das Land seinem Sohn Leo Parrish, und Leo ließ es Luther bebauen, während er selbst ständig unterwegs war. Leontine, Leos Zwillingsschwester, heiratete dann und zog nach New York. Sagen Sie es mir bitte, wenn ich zu schnell für Sie bin.«
»Das geht schon in Ordnung«, sagte Diane. Sie war froh, dass Beth sie mit einem solch guten Stammbaum der Parrish-Familie ausgestattet hatte, sonst hätte sie Elnora wohl kaum folgen können.
»Leo Parrish soll angeblich irgendeinen Schatz gefunden haben. Ich nehme an, Ruby hat Ihnen davon erzählt?«, fragte sie.
»Ja, das hat sie. Aber ich bin mehr an der Familiengeschichte interessiert«, sagte Diane.
»Dann sind Sie so ziemlich die Einzige«, sagte Elnora. »Jetzt, wo war ich gerade?«
»Leontine zog nach New York«, sagte Diane.
»Stimmt. Leo wohnte eine Weile dort bei ihr, glaube ich. Er hasste es, zur Familienfarm zurückzukehren, und ich kann ihn da gut verstehen. Wir hatten Luther und seine Jungs auch nur sehr ungern als Nachbarn.«
»Vermachte Leo das Land dann Luther?«, fragte Diane.
»Aber nein. Leo vermachte es seiner Schwester Leontine. Luther hat es sich einfach unter den Nagel gerissen«, sagte Elnora.
»Unter den Nagel gerissen?«, wiederholte Diane.
»Gestohlen, um genau zu sein«, erklärte Elnora. »Er schrieb Leontine einfach einen Brief, dass dies sein Land sei, dass dies eigentlich schon immer sein Land hätte sein sollen, und wenn ihr das nicht passe, dann habe sie eben Pech gehabt. Seine Ausdrucksweise war wohl noch weit krasser.«
»Hat sie denn nichts dagegen unternommen?«, fragte Diane. Bisher hatte sie die Geschichte der Glendale-Marsh-Parrishs noch überhaupt nicht weitergebracht, aber sie hoffte immer noch, dass sich das änderte. Außerdem schien Elnora das Erzählen richtiggehend zu genießen.
»Nichts Konkretes, nein. Sie hatte Angst vor ihrem Onkel. Ist das nicht eine Schande, wenn man vor den eigenen Verwandten, sogar noch vor dem eigenen Onkel, Angst haben muss? Aber Luther war einfach nur gemein, genauso wie seine Söhne. Sie hätten sie wohl auch ohne Wimpernzucken aus dem Weg geräumt, wenn sie sich gewehrt hätte. Also übernahm Luther das Familienland, aber schließlich konnte dann doch Leontine als Letzte lachen.«
»Wieso denn das?«, fragte Diane.
»Leontine war ja laut Grundbuch weiterhin Eigentümerin dieses Landes. Deshalb wurden die Grundsteuerbescheide auch an sie nach New York geschickt, und die hat sie dann nie bezahlt. Das hat sie Luther aber nie mitgeteilt. Eigentlich hätte der alte Narr ja wissen müssen, dass für dieses Land Steuern zu zahlen waren. Vielleicht dachte er, dass Leontine so große Angst vor ihm hätte, dass sie diese Steuern weiterhin entrichten würde. Wie dem auch sei, mit den Jahren wurde diese Steuerschuld immer größer. Eines Tages, als Luther schon ein alter Mann war, kam dann der Sheriff vorbei und forderte sie auf, dieses Land zu verlassen. Er teilte ihnen mit, es sei im örtlichen Gerichtsgebäude zwangsversteigert worden, da sie ihre Steuern nie bezahlt hätten. Ich hätte damals gerne Mäuslein spielen und zuschauen mögen, wie der Sheriff an seiner Tür erschien und ihm das mitteilte. Ich habe gehört, der alte Luther habe einen regelrechten Tobsuchtsanfall bekommen. Ein Jahr später ist er dann gestorben, wohl, weil er es nicht verwinden konnte, dass man ihm dieses Land abgenommen hatte. Er und seine Söhne versuchten, rechtlich dagegen vorzugehen, aber die Steuerbehörde teilte ihm nur mit, dass dies ja nie sein Land gewesen sei und er deswegen auch keinen Protest einlegen könne. Ich nehme an, dass ihm dies endgültig den Rest gegeben hat.
Seine Söhne Martin und Owen lebten damals noch bei ihm. Sie hatten gedacht, sie würden das Land einmal erben, und jetzt hatten sie gar nichts mehr. Für Owen war das irgendwie traurig. Er hatte Familie.«
»Wissen Sie, was aus seiner Familie geworden ist?«, fragte Diane.
»Sie lebten noch eine Weile in Glendale-Marsh. Ab und zu hörte man, dass einer von ihnen wieder einmal in Schwierigkeiten geraten war. Vor allem Owens Sohn war ein Tunichtgut. Er schwängerte ein junges Mädchen und musste sie daraufhin heiraten. Ich weiß nicht, wie lange diese Ehe hielt. Schließlich starb der alte Luther, und seine beiden Jungs verließen die Stadt. Wir waren froh, dass sie weg waren. Sie waren eine wirklich üble Brut. Sie kamen immer mal wieder nachts auf unser Grundstück, um uns etwas zu stehlen, so als ob dies ihr gutes Recht wäre.«
»Haben sie jemals nach diesem Schatz gesucht?«, fragte Diane.
»Da bin ich mir sicher. Martin versuchte, zu Leontine Kontakt aufzunehmen, aber die wollte nichts von ihm wissen.« Elnora begann zu lachen. »Dieser Schatz war wie ein Fluch des verstorbenen Leo. Luther musste ständig Schatzsucher von seinem Land jagen. Ich glaube, er hatte auf seinem Grund und Boden mehr Löcher, als es im ganzen Staat Florida Schlaglöcher gibt.«
»Was halten Sie persönlich von dieser Schatzgeschichte?«, fragte Diane.
»Ich weiß nicht recht. Leo war ein kluger Bursche. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er irgendwo etwas vergraben hat. Zu schade, dass er nicht mehr aus dem Krieg heimkam. Viel zu viele junge Männer sind aus diesem Krieg nicht mehr heimgekommen. Das war eine schlimme Zeit.«
»Haben Sie je von einer Familie Llewellyn gehört?«, fragte Diane.
»Aber sicher, jeder hier kennt sie. James Llewellyn war der Gründer der Stadt Glendale-Marsh. Ihr Haus steht auf der Denkmalliste. Eigentlich ist es nur noch eine Ruine – es wurde aus dieser Mischung aus Muschelkalk und Naturzement gebaut. Wie nennt man das noch gleich?«
»Coquina«, sagte Diane.
»Das ist es. Coquina. Na ja, wenn Sie in einem Museum arbeiten, müssen Sie das ja wissen«, sagte Elnora.
»Wir haben eine Ausstellungsvitrine mit diesem Baustoff in unserer Muschelsammlung«, sagte Diane.
»Von diesem Haus stehen nur noch ein paar Wände. Ich habe es mir einmal angeschaut. Man kann die Ruine immer noch betreten. Die Räume waren wirklich winzig. Ich glaube, die Leute damals waren viel kleiner als wir. Ich könnte Ihnen noch viel mehr über Glendale-Marsh erzählen, aber Sie haben mich ja nur nach dieser Parrish-Familie gefragt. Konnte ich Ihnen denn irgendwie helfen?«
»Sie haben mir immens geholfen«, sagte Diane.
»Das war mir ein Vergnügen. Es war schön, dass sich jemand zur Abwechslung einmal für die Familie interessiert hat und nicht für den Schatz.«
»Haben Sie jemals von einer Familie namens Sebestyen gehört?«, fragte Diane weiter.
»Sebestyen? Das ist wirklich ein seltsamer Name. Warum klingt er mir irgendwie vertraut?« Sie schwieg ein paar Sekunden. »Jetzt weiß ich es – das war der Ehename von Leontines Tochter. Kennen Sie die etwa auch?«
»Ich habe nur von ihnen gehört«, sagte Diane.
»Ich glaube, ich habe vor langer Zeit einmal mit ihrem Sohn gesprochen. Wie hieß er noch gleich? Glen oder so? Lassen Sie mich nachdenken.«
Sie machte eine lange Pause. Einen Moment lang fürchtete Diane, dass man sie getrennt haben könnte.
»Sein Name war Quinn. Genau, so hieß er. Er war einmal hier. Ich glaube, er hat nach dem Schatz gesucht. Er hat mich auch nach den Llewellyns gefragt. Seine Frau sei Geschichtslehrerin, hat er mir erklärt, und sie wolle ein paar Bilder von dem Haus und dem Familienfriedhof machen. Ich erinnere mich, dass er Leo ziemlich ähnlich sah. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal daran gedacht habe.«
»Wissen Sie, wie lange das etwa her sein könnte?«, fragte Diane.
»Oh, das ist schwierig, fünfzehn oder zwanzig Jahre vielleicht. Aber das ist nur so eine Annahme. Auf jeden Fall war es vor recht langer Zeit«, sagte sie.
»Ich habe Sie jetzt schon lange genug aufgehalten. Noch einmal vielen Dank, Elnora«, sagte Diane.
»Gern geschehen. Es ist wirklich schön, dass Ruby Juliet einmal besucht. Sie hat sie so vermisst. Das Kind hat harte Zeiten durchgemacht. Ich nehme an, Sie wissen das.«
»Ja«, sagte Diane, »ich weiß Bescheid.«
»Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?«, fragte Ruby, als Diane aufgelegt hatte.
»Ich habe eine Menge erfahren. Ich weiß zwar noch nicht, ob uns das zu den Tätern führen wird, aber ich habe doch ein paar neue Ideen bekommen. Ich mache Fortschritte.«
Diane merkte, dass Ruby nur zu gerne gewusst hätte, was ihre Freundin Elnora ihr mitgeteilt hatte, deswegen erzählte sie ihr in Kurzfassung das ganze Gespräch.
»Was haben eigentlich Leos Angehörige und die Llewellyns mit Juliets Entführung zu tun?«
Diane fiel ein, dass Ruby und Juliet ja noch gar nichts von den bisherigen Untersuchungen wussten. Allerdings war die Geschichte viel zu lang und kompliziert, um sie hier und jetzt zu erzählen. Außerdem musste sie wieder zu Hause sein, bevor Frank herausfand, dass sie ausgeflogen war. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war eine seiner Standpauken, dass sie besser auf sich aufpassen müsse.
»Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie über alles aufkläre, sobald ich Zeit dazu habe. Für den Moment müssen Sie noch ein bisschen hierbleiben und mit Juliet zusammen das Bezahlfernsehen hier ausnutzen«, sagte Diane.
Als sie die Tür öffnete, rannte sie fast Juliet und ihrem Aufpasser von der Museumssicherheit in die Arme. Wenn Juliet morgens zur Arbeit ins Museum und abends zurück ins Hotel gebracht wurde, war das gleichzeitig auch der Schichtwechsel der Wachleute. Der neue Wachmann bezog dann das Nachbarzimmer, und der bisherige konnte endlich nach Hause fahren.
»Soll ich Sie zu Ihrem Wagen begleiten, Dr. Fallon?«, fragte dieser.
»Das wäre nett. Danke.« Sie befürchtete zwar keine Probleme, aber wenn er schon einmal hier war, wäre es töricht gewesen, seine Dienste nicht in Anspruch zu nehmen.
»Dr. Fallon«, sagte Juliet. »Wie geht es Ihnen? Im Museum haben wir heute nur über den Überfall auf Sie geredet.«
»Überfall?«, fragte Ruby nach. »Was für ein Überfall?«
Diane berichtete ihr kurz darüber.
»Es war nichts, wirklich. Nur ein paar Stiche.«
»Sie mussten immerhin über Nacht im Krankenhaus bleiben«, warf Juliet ein.
»Das war eine reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Diane. Sie bewegte sich zentimeterweise rückwärts durch die Tür, in der Hoffnung, endlich von den beiden wegzukommen.
»Sie sind also schon wieder beraubt worden?«, hakte Ruby unerbittlich nach. »Anscheinend ist dieses Museum ein äußerst gefährlicher Arbeitsplatz.«
»Oh nein, überhaupt nicht. Ich kann jetzt nur nicht in die Einzelheiten gehen. Sie und Juliet sollten jetzt den Rest des Abends genießen. Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen.«
Diane wollte ihnen noch nichts von dieser Geheimbotschaft erzählen. Sie wollte jetzt einfach nur noch heim. Als sie sich endlich losreißen konnte, führte sie der Wachmann zum Parkdeck und zu ihrem Wagen. Sie hatte eine tiefe Aversion gegen Parkhäuser. Sie waren normalerweise dunkel und menschenleer, ein Ort, an dem es kaum Zeugen gab. Sie war froh, als sie endlich in den Wagen steigen und nach Hause fahren konnte.
Als sie dort ankam, stand unglücklicherweise Franks Auto bereits vor dem Gebäude. Er hatte es also doch noch vor ihr geschafft.
Okay, das wird jetzt gar nicht lustig werden, dachte sie, als sie aus dem Wagen stieg.