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Diane starrte auf das rekonstruierte Gesicht auf dem Computerbildschirm.
War es das, was Marcus McNair sie nicht hatte finden lassen wollen? Ein Verwandter? Warum war er nicht als vermisst gemeldet? Hatte er keine anderen Familienangehörigen, die ihn vermisst hätten? Eltern, Frau, Kinder, Freundin, Freunde?
Sie hob den Hörer ab und rief Garnett an.
»Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, meldete sich dieser. »Wir haben den Wagen in einer Schlucht fünfzehn Kilometer vor der Stadt gefunden. Er ist ausgebrannt. Keine Leichen.«
»Ich schicke David hin«, sagte Diane. »Vielleicht findet er doch noch etwas Brauchbares.«
Sie war enttäuscht, aber nicht überrascht, dass die Täter diesen Wagen entsorgt hatten. Sie hätte darauf gewettet, dass er sowieso gestohlen war. Sie ließ sich den Weg zu der Schlucht beschreiben, bevor sie sich dem Grund ihres Anrufs zuwandte.
»Hatte McNair einen Bruder oder Vetter, etwa Mitte dreißig, dem man einmal in die Schulter geschossen hat und der ihm sehr ähnlich sah?«
Garnett schwieg ein paar Sekunden. »Er hat einen Vetter, Eric McNair, auf den diese Beschreibung passt. Warum fragen Sie?«
»Ich habe gerade die Rekonstruktion des zweiten Schädels beendet, den wir im Keller gefunden haben. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich das computergenerierte Gesicht anschaute und McNairs Ebenbild erblickte.«
»Mm. Das wirft ja ein völlig neues Licht auf die ganze Angelegenheit«, sagte Garnett. »Ich kann mir vorstellen, dass das ein Schock für Sie war. Also dort ist Eric gelandet.«
»Wer ist er, und was ist seine Geschichte? Und warum hat ihn niemand als vermisst gemeldet?«, fragte Diane. Sie starrte auf das Gesicht auf dem Bildschirm, während sie mit Garnett sprach.
»Eric gehört zu der Sorte von Familienmitgliedern, von denen man hofft, dass sie eines Tages verschwinden und dann nie mehr wiederkehren. Er steckte immer in Schwierigkeiten. Er saß wegen Drogenhandel, gefährlicher Körperverletzung, Misshandlung seiner Ehefrau und noch ein paar anderen Sachen mehrmals im Gefängnis. Einmal wurde er bei einem misslungenen Drogengeschäft angeschossen. Seine Familie hatte gehofft, dies habe ihn geheilt, aber er war ein harter Brocken. Ich nehme an, jetzt ist er wohl endgültig geheilt.«
»Das war es wohl, was McNair vor der Welt verbergen wollte«, sagte Diane.
»Höchstwahrscheinlich. Wenn man Erics Verbindung zu diesem Meth-Labor aufgedeckt hätte, hätte das bestimmt auch Marcus in Mitleidenschaft gezogen. Sie hatten eine enge Beziehung. Marcus war der einzige Verwandte, der Eric nahestand.«
»Wie gelang es Marcus eigentlich, öffentlicher Brandermittler zu werden?«, fragte Diane.
»Marcus selbst hat sich immer aus allen Schwierigkeiten herausgehalten. Außerdem hatte er einen Förderer«, sagte Garnett.
»Wen?«, fragte Diane.
»Dreimal dürfen Sie raten.«
»Adler?«, sagte Diane.
»Richtig! Für Adler sieht es immer schlechter aus. Je mehr wir über McNair herausfinden, desto mehr haben wir gegen Adler in der Hand. Ich weiß nicht, ob Sie sich in den letzten Tagen die Nachrichten angesehen haben. Er versucht, sich jetzt von McNair zu distanzieren. Aber seine politische Karriere kann er wohl abschreiben. Oh, wie gerne würde ich diesen Bastard verhaften. Das wäre dann die Sahne auf dem Kaffee.«
David hatte recht: Rache ist wirklich süß, dachte Diane. Adler hatte jetzt keinen einzigen Freund bei der Polizei mehr. Daran hätte er vorher denken sollen. Eigentlich hätte man das von einem Politiker sogar erwartet.
»Könnte ich Eric McNairs Zahnschema oder Röntgenaufnahmen von seiner Schulter bekommen?«, fragte Diane.
»Der Junge ist vielleicht nie beim Zahnarzt gewesen. Aber das Krankenhaus müsste noch Röntgenbilder seiner Schussverletzung haben. Ich lasse sie Ihnen zukommen.«
»Das wird dann die Identifizierung bestätigen«, sagte Diane. »Ich nehme an, dass niemand weiß, wohin die Insassen des Impala verschwunden sind«, wechselte Diane das Thema.
»Nein. Sie haben offensichtlich den Wagen selbst angezündet. Inzwischen haben sie sich bestimmt schon ein neues Fahrzeug beschafft und sind damit über alle Berge.«
»Das glaube ich nicht. Sie bleiben erst einmal in der Gegend«, widersprach Diane.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil sie nicht das bekommen haben, was sie wirklich wollten«, antwortete Diane.
»Sie meinen dieses Geheimschriftzeug, von dem Sie gesprochen haben?«, fragte Garnett.
An dem Ton seiner Stimme und der Abschätzigkeit, mit der er über dieses Geheimschriftzeug sprach, konnte Diane erkennen, dass Garnett nicht an eine Schatzsuche als Mordmotiv glaubte. Das war aber auch egal. Sie glaubte daran. Und sie wusste, sie würden zurückkehren, um sich diese Geheimbotschaft zu beschaffen.
»Sie benachrichtigen mich doch, wenn er irgendwo gesichtet wird?«, fragte sie.
»Das wissen Sie doch«, antwortete Garnett. »Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.«
Sie legte auf. Eric McNairs Kopf rotierte immer noch dreidimensional auf ihrem Bildschirm. Was für ein trauriges Leben. Immerhin war er bereits Mitte dreißig, und trotzdem gab es keinen, der ihn vermisst hätte. Sie ließ sich die beiden Gesichtsdarstellungen ausdrucken und lud sie dann außerdem auf einen Speicherstift.
Jin, David und Neva hatten beim Sortieren der Zigarettenstummel bedeutende Fortschritte gemacht. Der Plan war jetzt voller kleiner Kreuzchen, wobei jedes x eine gefundene Doral bedeutete. Allerdings mochte sie nicht, was sie da sah. Die bei weitem meisten Kreuzchen befanden sich in der Nähe des Leichen- und des Kaffeezelts.
»Das sieht nicht gut aus, oder?«, sagte David.
Sie sah auf und merkte, dass er sie beobachtete.
»Wir müssen herausfinden, was die Leute in der Zeltstadt so rauchen«, sagte Jin.
Was die Leute in der Zeltstadt so rauchen, dachte Diane. Keiner von ihnen wollte laut aussprechen, dass der Mordverdächtige unter den Gerichtsmedizinern, ihren Assistenten oder den Polizisten zu suchen war. Niemand sonst hatte Zutritt zu diesen Bereichen gehabt.
»Ich mache das zwar nur äußerst ungern«, sagte Neva, »aber ich werde herausfinden, was die Polizisten gewöhnlich rauchen.«
»Ich werde das machen«, widersprach ihr David. »Das sind ja deine Freunde.«
»Keiner von euch wird das tun«, sagte Diane. »Wir werden Garnett informieren, und der wird dann die nötigen Untersuchungen anstellen. Das ist der übliche Weg: Wir beschaffen ihm verlässliche, objektive Informationen über den Tatort und seine Umgebung, und er benutzt diese, um die entsprechenden Verbrechen aufzuklären.«
»Seit wann denn das?«, fragte Jin etwas vorlaut.
»Ich möchte die Polizisten von Rosewood nicht mehr gegen mich aufbringen als unbedingt nötig. In diesem Fall spiele ich den Feigling. Jetzt muss Garnett übernehmen.«
»Mir ist das recht«, sagte Neva.
Auch Jin und David erhoben keine Einwände. Gut, dachte Diane.
»Hier habe ich etwas für euch, worüber ihr euch den Kopf zerbrechen könnt«, sagte sie dann und legte die Abbildung des rekonstruierten Gesichts auf den Tisch.
»Warum haben Sie den Computer denn Marcus McNair zeichnen lassen?«, fragte Neva und schaute Diane verwundert an.
»Probieren Sie Ihre Computerprogramme aus, Boss?«, meldete sich jetzt Jin.
»Ist das McNair?«, fragte David, nahm den Computerausdruck in die Hand und betrachtete die Abbildung genau.
»Wir warten noch auf die Bestätigung, aber dies hier ist wahrscheinlich Eric McNair, Marcus McNairs Vetter«, sagte Diane.
Jin riss David das Papier aus der Hand, um es sich noch einmal anzuschauen. »Sein Vetter? War er der zweite Typ im Keller?«
»Ja, genau. Ich habe Röntgenaufnahmen angefordert, mit deren Hilfe wir das endgültig bestätigen können«, sagte Diane.
»Und was bedeutet das nun genau?«, fragte David.
»Garnett glaubt, dass es auf eine Verbindung zwischen Marcus McNair und der Drogenküche hindeutet. Er hofft, dass er durch den Beweis, dass McNair etwas damit zu tun hatte, auch beweisen kann, dass Adler in das Ganze verwickelt ist. Garnett hofft wohl, dass allein die Unterstellung, dass Adler damit etwas zu tun haben könnte, dessen politische Karriere auch ohne gerichtsfeste Beweise beenden wird«, sagte Diane.
»Sie scheinen das anscheinend nicht ganz zu billigen«, sagte Jin. »Ich würde mein Mitgefühl nicht an Adler verschwenden.«
»Das tue ich auch nicht«, entgegnete Diane. »Ich … Es ist nur so, dass …«
»… du einen sauberen Abschuss möchtest«, ergänzte David.
»Das ist zwar eine etwas martialische Art, es auszudrücken, aber du hast wohl nicht ganz unrecht. Andererseits ist das ja nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es, die Beweisspuren aller Tatorte so gut und professionell zu untersuchen wie möglich. Wo wir gerade davon sprechen, David, Garnett wartet an einem weiteren Tatort auf dich. Ich gebe dir die Wegbeschreibung. Er hat den Chevrolet Impala gefunden. Er lag ausgebrannt in einer Schlucht.«
»Waren die Täter noch drin?«, fragte David.
»Nein, anscheinend wollten sie nur das Auto loswerden. Sie haben sich bestimmt schon längst ein anderes beschafft. Ich habe das Gefühl, dass sie immer noch in der Stadt sind.«
»Warum sollten sie noch hier herumhängen?«, fragte Neva.
»Weil sie hinter der Geheimbotschaft her waren, und die hatte ich ja bereits aus der Puppe herausgeholt, bevor sie mir diese abnahmen.«
Ihre drei Mitarbeiter schauten sie verständnislos an. »Geheimbotschaft?«, fragte dann Jin.
»Ich glaube, du hast hier ein Kapitel übersprungen«, sagte David.
»Das habe ich wohl. In der Puppe steckte etwas, das eine verschlüsselte Botschaft sein könnte.« Sie erzählte ihnen ganz kurz die Geschichte von Leo Parrish und seinem verlorengegangenen Schatz.
»Und diese Typen suchen jetzt danach?«, sagte Jin.
»Ich nehme es an«, sagte Diane. »Ich weiß es aber nicht sicher.«
»Das ist eine wirklich verrückte Geschichte«, sagte David in einem Ton, als ob sie eine Beleidigung seiner Vernunft wäre. »Und wie wurde Juliet darin verwickelt?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe da nur vage Vermutungen.« Diane wollte ihnen Juliets Lebensgeschichte jetzt noch nicht preisgeben. Sie wandte sich an Jin. »Ich habe eine Aufgabe für Sie. Ich weiß ja, wie gerne Sie Puzzles lösen.« Diane zog die Kopie der Geheimbotschaft, die sie sich hatte ausdrucken lassen, aus der Tasche und reichte sie ihm.
»Das da war in der Puppe?«, fragte David. »Wie kamst du überhaupt darauf, in ihrem Inneren nachzusehen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Diane.
»Das muss sie wohl sein«, entgegnete er. »Sie wird ständig länger.«
»Das sieht für mich wie ein Kryptogramm aus«, sagte Jin. »Die schaffe ich im Schlaf. Man muss dazu nur die Häufigkeit kennen, mit der jeder Buchstabe des Alphabets in der Alltagssprache auftaucht. Na ja, ein paar andere Dinge auch, aber grundsätzlich ist das recht einfach.«
»Gut. Dann lösen Sie das Ganze bitte heute Abend bei sich zu Hause. Jetzt sollten Sie und Neva das Ergebnis Ihrer Zigarettenzählaktion für Garnett zusammenfassen. Und David …«
»Ich weiß. Ich bin schon am Gehen«, sagte er. Er schnappte sich seinen Tatortkoffer und ging in Richtung Aufzug.
»Ich treffe dich dann dort draußen«, rief sie ihm nach. »Ich muss nur zuvor hier noch einige Dinge erledigen.«
»Ich schaffe das auch alleine«, sagte er.
»Es geht schneller, wenn ich dir helfe«, sagte sie.
Die Aufzugtür öffnete sich, und David verschwand.
»Wenn Sie beide mit Ihrem Bericht fertig sind, können Sie heimgehen«, sagte sie zu Jin und Neva. »Ich sehe Sie dann morgen.«
Diane verließ sie und ging die Treppe hinunter ins Konservierungslabor. Sie traf Korey am Überblick über den Pleistozän-Saal in der Nähe seines Labors.
Er grinste, und seine Augen funkelten, als er sie sah. »Ich habe Ihre Fälschung, Dr. F.«, sagte er.
»Das ist ja großartig. Ich wollte sie mir gerade holen. Ich gehe jetzt angeln und brauche einen Köder für meinen Angelhaken.« Er hatte sie in eine Klarsichthülle gesteckt. Sie nahm sie heraus, um sie in Augenschein zu nehmen.
»Das sieht ja genau wie das Original aus«, sagte Diane.
»Ich habe mir in einem Trödelladen in der Innenstadt ein paar alte Bücher gekauft«, sagte er. »Sie haben kaum etwas gekostet, und sie waren auch kaum etwas wert, das habe ich überprüft. Dann habe ich aus einem von ihnen ein Stück herausgerissen und die veränderte Botschaft mit Pflanzentinte daraufgeschrieben. Das Ganze sieht jetzt wirklich ganz schön alt aus.«
»Vielen Dank, Korey«, sagte Diane. »Ausgezeichnete Arbeit. Wenn ich mich einmal für eine Verbrecherkarriere entscheiden sollte, sind Sie mein Mann.« Sie legte die Fälschung wieder in die Klarsichthülle zurück und steckte diese in die Tasche.
»Ich bin froh zu hören, dass wir uns immer noch auf dem Boden des Gesetzes bewegen«, sagte er lächelnd. »Haben eigentlich die Jobs, um die Sie Kendel und Beth gebeten haben, auch etwas damit zu tun?« Er deutete auf ihre Tasche.
»Ja«, sagte Diane und erwiderte sein Lächeln.
»Ich kann es kaum erwarten, die Hintergründe zu erfahren«, sagte er.
»Ich erzähle sie Ihnen dreien, wenn alles vorbei ist«, sagte sie und fuhr mit dem Aufzug neben der Überblickstribüne in die Eingangshalle hinunter.
Sie schaute auf die Uhr. Bald würde die Nachtbeleuchtung eingeschaltet werden. Andie war wahrscheinlich schon heimgegangen. Sie winkte dem Wachmann am Informationsschalter zu und ging in ihr Büro hinüber.
Korey hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet, dachte sie, als sie die Tür des Safes öffnete. Dann wurde es schwarz um sie.