24

Okay, ich muss herausfinden, wer den jungen Stanton umgebracht hat«, sagte Diane, als sie das Kriminallabor betrat.

David schaute von seinem Computer und Jin von seinem Mikroskop auf; Neva war nicht da. Diane hoffte, dass sie gerade wieder einmal ihr Auto untersuchte. Sie sah allerdings eine Zeichnung auf Nevas Arbeitsplatz liegen, die den Rücken eines Mannes zeigte. Der Cipriano-Fall, nahm Diane an.

Sie fragte sich dann allerdings, wie nützlich eine Rückenansicht sein konnte, aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht hatte ihn vorher jemand in dem Wohnkomplex herumlungern sehen.

»Hat Garnett wirklich angeordnet, dass der Stanton-Fall Vorrang haben soll?«, fragte David. »Wahrscheinlich, weil seine Eltern reich sind. Ich meine, nur weil Joana Cipriano nicht wohlhabend war …«

»Garnett hat kein Wort gesagt«, unterbrach ihn Diane. »Ich war das.« Sie erzählte ihnen von Patrice Stanton und ihrer neuen Lebensaufgabe.

»Die gleiche Frau, die Sie im Krankenhaus angegriffen hat?«, sagte Jin. »Wie nervig.«

»Die Frau ist mehr als eine Nervensäge«, sagte Diane. »Sie treibt mich jetzt schon zum Wahnsinn, und dabei hat sie noch gar nicht richtig angefangen. Ich will, dass sie mich in Ruhe lässt. Und vor allem, dass sie das Museum in Ruhe lässt. Erzählt mir, was ihr bisher herausgefunden habt.«

»Wir sollten eigentlich mit Ihnen nicht darüber sprechen«, sagte Jin. »Garnett hat uns das verboten. Aber ich werde Sie informieren, wenn Sie das verlangen.«

»Nein, so etwas würde ich nie tun. Garnett möchte nur die Beweisaufnahme nicht gefährden.«

Nur schade, dass er sich nicht auch so für die Beweisspuren der Explosion eingesetzt hat, dachte sie.

»Hat er Sie auch angewiesen, David nichts zu erzählen?«, fragte sie weiter.

»Nein, hat er nicht«, sagte Jin.

»Gut. Informieren Sie David. Ich werde jetzt meine Berichte über die Explosionsopfer fertigstellen. Sind schon irgendwelche DNA-Analysen zurückgekommen?«

»Nein«, sagte er. »Das wird noch eine Weile dauern. Also, wenn wir es selbst …«

»Ich weiß«, sagte Diane. »Wir brauchen unser eigenes Labor. Finden Sie mir Blakes Mörder, und ich werde mich bei Garnett für ein DNA-Labor einsetzen.«

Jin schaute sie mit großen Augen an. »Im Ernst, Boss?«

»Ja.«

Jin rieb sich die Hände. »Okay, David. Fangen wir an«, sagte er dann.

»Du meinst es wirklich ernst, oder?«, versicherte sich David.

»Todernst«, bestätigte Diane.

Diane zog sich in ihr Osteologielabor zurück und begann, alle Forensik-Berichte noch einmal zu überprüfen, um sie dann mit den dazugehörenden Knochenstücken im Sicherheitsgewölbe zu verstauen.

Das einzige Skelett, das sie noch nicht untersucht hatte, war das des Toten, den man vor langer Zeit in den Kopf geschossen hatte. Diane brachte seine Knochen auf einem Labortisch in die anatomisch richtige Position. Den Schädel legte sie auf einen Haltering. Sie betrachtete einen Augenblick lang die braunen und schwarzen Knochen, bevor sie jeden einzelnen zu untersuchen begann.

Die meisten Knochen waren noch vorhanden, nur ein paar ganz kleine fehlten. Nicht mehr vorhanden waren die Fingerspitzen der linken Hand, außer denen des Daumens und Zeigefingers, alle distalen Fingerknochen der rechten Hand, drei Handwurzelknochen der linken und einer der rechten Hand. Alle Fußknochen waren noch vorhanden. Diane hielt das unter den gegebenen Umständen für ziemlich erstaunlich.

Außerdem fehlte das Zungenbein, dieser kleine gebogene Knochen am Mundboden unterhalb der Zunge. Auch alle Röhrenknochen waren noch vorhanden. Natürlich gingen diese nicht so leicht verloren, wenn man Knochen in einer Kiste oder Schachtel aufbewahrte. Das menschliche Skelett hat auf jeder Seite zwölf Rippen. Hier fehlten die elfte und die zwölfte – die sogenannten »fliehenden« oder »Fleischrippen«, da sie frei in der Bauchwand enden – der linken und die zwölfte der rechten Seite.

Sie suchte alle Rippen nach Kerben oder Einschnitten ab, die von einem Messer oder einer Kugel stammen könnten. Nichts. Sie vermaß die Röhrenknochen mit Hilfe eines Knochenmessbretts. Die linken Beinknochen – der Oberschenkel-, der Schienbein- und der Wadenbeinknochen – waren zusammengenommen etwa 1,5 Zentimeter kürzer als die auf der rechten Seite. Er musste also leicht gehinkt haben. Darüber hinaus war an den Röhrenknochen nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

Weiterhin fehlten zwei Brustwirbel. Das Steißbein wies einen kleinen verheilten Bruch auf. Er musste irgendwann gefallen sein und sich dabei das Steißbein angebrochen haben. Es bereitete ihm wahrscheinlich für den Rest seines kurzen Lebens Probleme. Diane untersuchte jeden einzelnen Wirbel. Es gab keine anderen verheilten Brüche und keinerlei Anzeichen für eine Wulstbildung oder irgendwelche Abnutzungskrankheiten. Abgesehen von seinen Zähnen, war er im Wesentlichen gesund.

Mitten in der Untersuchung kam David herein, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.

»Neva ist gerade zurückgekommen. Sie hat uns von deinem Wagen erzählt. Anscheinend ist kein Auto sicher, in das du dich einmal gesetzt hast.«

»Offensichtlich«, sagte Diane, ohne von den Knochen aufzublicken.

»Ich hatte ein langes Gespräch mit Neva und Jin«, sagte er dann. »Ich nehme an, dass du gerne auf dem Laufenden bleiben würdest. Und da Garnett ihnen nicht verboten hat, mit mir über diesen Fall zu sprechen, und er mir auch nicht untersagt hat, dich zu informieren, bin ich jetzt hier.«

Er warf einen Blick auf das Skelett auf dem Tisch. »Ist das der Typ, der unter dem Bett lag?«

»Genau der. Ich dachte mir, ich untersuche einmal seine Knochen. Es ist eine angenehme Abwechslung.«

»Was hast du über ihn herausgefunden?«, fragte David.

»Außer dass es sich um einen Mann von Anfang zwanzig handelt? Nach dem Aussehen seines Schädels und seinen Proportionen zu schließen, war er ein Weißer. Er hatte einen angeborenen Gehfehler. Er war ziemlich gesund. Einmal hat er sich das Steißbein gebrochen. Er war etwa ein Meter siebzig groß und Linkshänder. Ich werde eine stabile Isotopenanalyse einer Knochenprobe machen lassen. Danach sollten wir wissen, wo er aufgewachsen ist und was er gewöhnlich gegessen hat.«

»Garnett wird für eine solch teure Analyse aber kaum Geld lockermachen wollen«, gab David zu bedenken.

»Unser Primatenlabor schon«, sagte Diane. »Wozu bin ich denn Museumsdirektorin und Kuratorin des Primatenlabors, wenn ich nicht ab und zu eine SIA-Analyse anordnen kann?«

»Wer, glaubst du, ist er?«, fragte David.

»Wer er ist? Ich habe keine Ahnung.«

»Wie lange ist er schon tot?«

»Seine Knochen fühlen sich recht trocken an. Deshalb würde ich auf mehr als hundert Jahre tippen. Nach ein paar Tests mit diesen Knochen wissen wir mehr. Vielleicht war er ein Bürgerkriegssoldat. Aber das ist eine reine Vermutung. Wahrscheinlich hat jemand zufällig den Sarg gefunden und es für cool gehalten, die Knochen herauszunehmen, und dann sind sie irgendwie bei einem Collegestudenten gelandet.«

»Interessant«, sagte David. »Der arme Kerl fällt einem Kopfschuss zum Opfer und gerät dann hundert Jahre später in eine Explosion und ein mörderisches Feuer. Der Junge hatte nicht viel Glück im Leben wie im Tod.«

»Da wir gerade von glücklosen Typen sprechen«, sagte Diane, »erzähl mir von Blake.« Sie zog ihre Handschuhe aus, wusch sich die Hände, holte sich einen Stuhl, setzte sich zu David und beugte sich erwartungsvoll vor.

»Blake«, seufzte David. »Glücklos ist das richtige Wort. Eigentlich sollte es ein Vorteil sein, wenn man reich geboren wird, aber in seinem Fall würde ich das nicht sagen. Ich hätte so reich geboren werden sollen, ich wäre nicht so ein kleiner Scheißkerl geworden.«

»Wärest du doch, wenn du seine Eltern gehabt hättest«, sagte Diane. »Eigentlich tut er mir sogar leid.«

»Mir geht es genauso. Okay, ich erzähle dir, was wir bisher wissen. Als Blake aus dem Krankenhaus kam, hatte er einen Termin vor dem Richter. Der erhob zwar Anklage, entließ ihn aber in die Obhut seiner Eltern, obwohl er schon volljährig war. Geld kann in unserer Gegend immer noch viel bewirken. Auf jeden Fall konnte er mit ihnen heimgehen. Irgendwann in der folgenden Nacht wachte sein Vater auf. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Seine Mutter hatte Schlaftabletten genommen und bekam überhaupt nichts mit. Der Vater ging in Blakes Zimmer, aber der war nicht mehr da. Dann legte er sich wieder ins Bett.«

»Er hat nicht nach ihm gesucht?«, fragte Diane.

»Er sagte, sein Sohn sei ja schon erwachsen gewesen.«

»Er war aber in ihre Obhut entlassen worden«, sagte Diane.

»Ich habe nicht behauptet, dass seine Eltern sich durch besondere Konsequenz auszeichnen.« David rieb sich die Glatze. »Also diese Stühle sind wirklich nicht sehr bequem. Kann ich mich nicht auf die Couch in deinem Büro setzen?«

»Klar.« Diane stand auf und streckte sich, um ihr Kreuz zu entlasten. Danach ging sie mit David in ihr Osteologielabor.

»Das ist doch viel netter hier«, sagte er und ließ sich auf ihr Polstersofa fallen. »Wo war ich? Ach ja, der Vogel war gerade ausgeflogen. Der Vater meinte nun, ihn habe das Geräusch aufgeweckt, das sein Sohn beim Hinausgehen gemacht hatte, deshalb legte er sich wieder schlafen. Er dachte wohl, dass ein gerade aus dem Krankenhaus entlassener einhändiger Junge mitten in der Nacht schon auf sich selbst aufpassen könne.«

»Wohin ging sein Sohn?«, fragte Diane.

»Er kam nicht weit. Er wurde vom Hausmädchen im Bootshaus gefunden. Man hatte ihn in den Kopf geschossen. Es gibt keine Schmauchspuren.«

»Was für eine Waffe?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Kugel gefunden. Es gibt auch keine Austrittswunde, also steckt sie noch in seinem Kopf.«

»Ich frage mich, ob sein Vater den Schuss gehört haben könnte? Hat er ihn vielleicht sogar aufgeweckt?«, fragte Diane.

»Warum hat er dann nicht die gesamte Nachbarschaft aufgeweckt? Schusswaffenlärm ist gerade übers Wasser sehr weit zu hören. Wir vermuten, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt hat.«

»Ein Schalldämpfer. Okay. Dann war es ein geplanter Mord. Vielleicht eine Falle?«

»Das könnte gut sein. Jemand, den er kannte, hat ihn mitten in der Nacht aus dem Haus gelockt und im Bootshaus erschossen. Das ist zum Wasser hin offen. Der Mörder könnte also mit dem Boot gekommen sein, ihn umgebracht haben und dann mit diesem Boot geflohen sein.«

»Aber hätte nicht das Motorengeräusch alle Leute aufwecken müssen?«

»Eigentlich schon. Die Polizei befragt gerade alle Nachbarn.«

»War an seinem Körper irgendetwas zu bemerken? Was hatte er überhaupt an?«

»Er trug eine Jogginghose, ein Sweatshirt und einen Mantel. In seiner Manteltasche fanden wir die Haustür- und die Autoschlüssel. Er hatte kein Geld, kein Portemonnaie und keine Kreditkarten dabei. All das lag noch in seinem Zimmer. Neva fand einen silbernen Anhänger in Form eines Ballerina-Schuhs auf der Bootsanlegestelle. Seine Eltern kannten ihn nicht. Ich glaube nicht, dass er tatsächlich weglaufen wollte. Er erwartete wohl, nicht mehr als ein oder zwei Minuten draußen zu bleiben. Er trug Schuhe ohne Socken, und dies bei dieser Kälte.«

»Das sieht wirklich wie ein Mordanschlag aus. Ich würde wetten, dass es etwas mit diesem Meth-Labor zu tun hat«, sagte Diane.

»Garnett glaubt das auch. Natürlich hält seine Mutter dich für die Mörderin.«

»Warum?«, fragte Diane.

»Neva meint, sie möchte einfach, dass du es warst.«

»Noch etwas?«

»Sein Vater hatte ihm vor kurzem alle finanziellen Zuwendungen gestrichen, nachdem der Junge den Wagen seines Vaters – einen Jaguar, Baujahr 1965! – zu Schrott gefahren hatte. Ich hätte ihm dafür die Nase abgeschnitten. Trotzdem scheint Blake weiterhin einen Haufen Geld ausgegeben zu haben.«

»Hatte er einen Job?«

»Machst du Witze? Nein. Er war der klassische ewige Student. Er hatte sogar gute Noten, wechselte aber ständig das Studienfach und hatte nie genug Seminare absolviert, um irgendwo ein Examen ablegen zu können. Er scheint das Collegeleben genossen zu haben.«

»Das klingt so, als ob er Drogen an Studenten verkauft hätte.«

»Den Gedanken hatte ich auch, ebenso wie Garnett. Allerdings haben sie bisher dafür keinerlei Beweise gefunden.«

»Und was sagt die Drogenfahndung dazu?«

»Nicht viel. Die Leute dort sind alle ganz neu. Unser geschätzter Stadtrat hat die Rauschgiftabteilung unserer Polizei auf den Kopf gestellt, so wie er es auch bei allen anderen Abteilungen gerne machen würde. Die meisten altgedienten Drogenfahnder haben sich eine andere Stelle gesucht, so dass es dort fast nur noch unerfahrene Neulinge gibt.«

»Das wird ja immer seltsamer«, sagte Diane. »Okay. Zurück zu unserem Fall. Es ist also anzunehmen, dass es sich um einen Mordanschlag mit Drogenhintergrund gehandelt hat.«

David wollte gerade antworten, als Neva, die aussah, als ob sie ein paar Tage nicht geschlafen hätte, Chief Garnett hereinführte. Das Osteologielabor war tatsächlich ein Teil des Museums und hatte deshalb ein Digitalschloss an der Eingangstür. Dianes Tatortteam kannte die Zahlenkombination, aber fremde Besucher mussten von einem Mitarbeiter hineinbegleitet werden. Dianes Bürotür stand offen, und Garnett trat ein. Neva winkte nur kurz und ging dann wieder zu ihrer Arbeit zurück.

Garnett setzte sich in einen Ledersessel, der zu der Couch passte, auf der David saß.

»Ich hatte nicht erwartet, Sie heute zu sehen«, sagte Diane. »Gibt es in einem der Fälle einen Durchbruch?«

Er räusperte sich und sagte dann: »Diane, könnten Sie mir bitte Punkt für Punkt berichten, was Sie heute Morgen alles gemacht haben?«