35
Diane öffnete den Transporter, schob die Schachtel mit den Knochen hinein und rannte den Hügel hinauf. Sie rutschte im Schnee aus und schürfte sich ihre Knie durch die Hosen hindurch auf. »Verdammt!«, rief sie, rappelte sich wieder auf und rannte weiter.
Oben auf dem Kamm sah sie, dass die Taschenlampe an einem Stein lehnte. Sie suchte im Licht ihrer eigenen Lampe den Boden in der Umgebung ab. Gerade als das Licht von einem polierten Wanderstiefel am Fuße einer kleinen Böschung auf der anderen Seite des Hügels widergespiegelt wurde, hörte sie ein Stöhnen.
»Jin!«, schrie sie aus vollem Hals.
Sie rannte die Böschung hinunter – eigentlich schlitterte sie über die Felsen und den Schnee – und hatte Glück, sich dabei nicht selbst den Hals zu brechen.
Sie kniete sich neben ihn, während er versuchte, seinen Oberkörper aufzurichten. »Jin, was ist passiert?«, fragte sie. »Sind Sie gefallen?«
»Gefallen?«, sagte er noch leicht verwirrt. »Nein. Ich glaube nicht.« Es gelang ihm, sich aufzusetzen. »Verdammt, mein Kopf tut weh.« Er rieb sich mit der Hand am Hinterkopf. »Au!« Danach schaute er seine Hand an. »Sie ist nass«, sagte er.
»Lassen Sie mich sehen.« Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf seinen Hinterkopf und teilte sein Haar. »Sie haben eine Schnittwunde, und Sie werden wohl eine ordentliche Beule bekommen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht gefallen sind? Woran erinnern Sie sich als Letztes?«
Jin versuchte aufzustehen.
»Bleiben Sie einfach einen Moment lang ruhig sitzen, und erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern.«
»Ich kniete mich gerade hin, um etwas aufzuheben, was ich gefunden hatte«, sagte Jin.
»Weitere Spuren?«
Jin schüttelte den Kopf. »Eine Pfeilspitze.«
»Eine Pfeilspitze?«
»Ja, aus Milchquarz. Jonas Briggs nennt das, glaube ich, die ›Alte Quarzkultur‹. Sie müsste also etwa achttausend Jahre alt sein. Die findet man in Georgia ja oft. Besuchen Sie eigentlich nie Ihr eigenes Museum?«
»Doch, ich weiß durchaus, was die ›Alte Quarzkultur‹ ist. Dass Sie diese Pfeilspitze ausgegraben haben, ist also das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«
»Genau.«
»Jemand hat Ihnen einen Schlag versetzt«, sagte sie.
»Man hat mich niedergeschlagen?« Jin richtete sich plötzlich auf und griff in seine Taschen. »Die Zigarettenstummel sind weg. Jemand hat meine Zigarettenstummel gestohlen. Das war bestimmt der Mörder. Er war hier in meiner Umgebung, und ich habe ihn entkommen lassen.«
»Wir wissen nicht, ob es tatsächlich der Mörder war …«, gab Diane zu bedenken.
»Wer sonst würde sich für diese alten Zigarettenkippen interessieren? Verdammt, ich glaube das einfach nicht.« Jin begann, die Umgebung abzusuchen.
»Alles in Ordnung dort unten?«
Diane schaute nach oben zum Kamm des Hügels hinauf. Es war Izzy Wallace.
Hinter ihm standen Archie, der Polizist aus dem Leichenzelt, und ein weiterer Polizeibeamter, den Diane sofort erkannte. Es war einer der beiden Streifenpolizisten, die ihr geholfen hatten, als Blake Stanton in ihrem Auto eingeschlossen war. Die drei stiegen jetzt den Abhang hinunter.
»Wir haben gesehen, wie Sie wie von der Tarantel gestochen die Böschung hinaufgestürmt sind«, sagte Izzy. »Was ist passiert?«
»Anscheinend hat jemand Jin niedergeschlagen und dann einige Beweisstücke gestohlen.«
»Hier?«, fragte Archie. »Während wir alle unten im Lagerhaus waren? Jemand war hier oben?«
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Diane.
Izzy sah Jin den Boden absuchen. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«, fragte er.
»Ich suche nach einem Beweisbeutel mit Zigarettenstummeln«, sagte Jin. »Vielleicht bin ich einfach gestolpert, und er ist mir dabei aus der Tasche gefallen.«
»Nach der Beule an Ihrem Hinterkopf zu schließen, bin ich mir sicher, dass man Sie niedergeschlagen hat«, sagte Diane. »Sie waren dann eine Weile ohnmächtig. Sie müssen unbedingt einen Arzt aufsuchen.«
»Es geht mir gut.«
»Sie sollten tun, was sie sagt, junger Mann«, sagte Archie. »Wir übernehmen die Suche hier oben. Wenn es hier irgendwas zu finden gibt, werden wir es finden.«
»Sie sollten ihr Angebot annehmen, Jin.« Sie sah etwas auf dem Boden liegen und hob es auf. Es war die Pfeilspitze aus Quarz. Sie reichte sie Jin.
»Das Ganze tut mir leid, Boss«, sagte er.
»Das ist schon in Ordnung. Keiner von uns hätte gedacht, dass sich hier oben jemand herumtreiben würde, während es unten von Polizisten nur so wimmelt.«
»Hier in der Nähe gibt es eine Menge Wege und Sträßchen, die er benutzt haben könnte«, sagte der Streifenpolizist. »Hierherzukommen und dann wieder zu verschwinden, ist gar nicht so schwer.«
»Aber er muss ziemlich leise gewesen sein«, sagte Jin.
»Es ist dieser Schnee«, sagte Archie. »Er dämpft die Schritte.«
»Auf geht’s, Jin«, sprach Diane jetzt ein Machtwort. »Ich muss meine Knochen untersuchen, und Sie brauchen einen Arzt.«
»Wirklich, Boss …«
»Das ist ein Befehl, Jin«, bekräftigte Diane.
Sie, Jin und Izzy stiegen im Licht ihrer Taschenlampen den Hügel hinunter.
»Ich komme nachher zurück und helfe dir, Archie«, rief Izzy zum Abschied.
»Kein Problem, Izzy«, rief dieser zurück.
»Sind Sie und Archie jetzt Partner?«, fragte Diane.
»Ja, aber nur für den Moment. Offiziell habe ich ja eigentlich noch Urlaub, und Archie arbeitet gewöhnlich in der Beweismittelstelle. Wir sind halt einfach nur zwei alte Männer, die auf ihre Pensionierung warten und in der Zwischenzeit gerne noch etwas Sinnvolles erledigen wollen.«
Tatsächlich waren weder Izzy noch Archie besonders alt. Beide waren höchstens Anfang fünfzig, aber Diane nahm an, dass Izzy sich im Augenblick wirklich uralt vorkam. Nach dem Tod des eigenen Kindes fühlt man ja die ganze Last der Welt auf den eigenen Schultern ruhen.
Diane ließ Jin vorne einsteigen, während sie selbst auf dem Rücksitz Platz nahm.
»Wie geht es Ihnen und Ihrer Frau, Izzy?«, fragte sie, als sie durch die Dunkelheit fuhren.
»Nicht gut. Ihre Schwester ist gekommen, um sich eine Weile um sie zu kümmern. Ich muss einfach herausfinden, wer das getan hat. Meine Aufgabe ist es, die Bürger dieser Stadt zu beschützen, und dann kann ich nicht einmal meinen eigenen Sohn vor den Leuten schützen, die ich eigentlich zur Strecke bringen sollte.«
Diane konnte ihn gut verstehen. Sie selbst hatte ihre Tochter nicht vor dem Mann beschützen können, den sie wegen seiner Greueltaten vor Gericht zu bringen versuchte. Zu sagen, dass man sich in einem solchen Fall als totaler Versager fühlt, wäre sogar noch eine Untertreibung.
»Bobby Colemans Mutter hat versucht, sich umzubringen«, fuhr Izzy fort. »Sie behaupten, es sei eine unabsichtliche Überdosis gewesen, aber wir wissen es alle besser. Es ist einfach gegen die Natur, die eigenen Kinder zu überleben. Es ist einfach zu schrecklich.«
Das stimmt, gab ihm Diane innerlich recht. Es ist entsetzlich.
Izzy ließ Diane und Jin vor dem Museum aussteigen, und sie fuhr Jin danach in die Krankenhausambulanz. Sie setzte sich ins Wartezimmer, bis er verarztet war.
»Nichts Schlimmes passiert«, sagte er, als er zurückkam. »Der Arzt hat die Kopfwunde mit drei Stichen genäht und mich aufgefordert anzurufen, wenn ich Schmerzen, Übelkeit oder Schwindelgefühle verspüre – das Übliche eben.«
»Hat er nicht auch gesagt, Sie sollten heimgehen und sich hinlegen?«, fragte Diane.
»Na ja, schon, aber das sagen sie doch immer. Das ist einfach eine Rückversicherung für sie. Mir geht es gut.«
Diane fuhr ihn heim und schaute ihm nach, bis er in seinem Apartmenthaus verschwunden war. Sie fuhr los, bog um die Kurve – und sah, wie sein Wagen aus seiner Tiefgarage herauspreschte und in Richtung des Lagerhauses davonjagte. Sie schüttelte den Kopf, griff zu ihrem Handy und rief David an.
»Wie geht es Jin?«, fragte sie dieser.
»Ganz gut. Man hat seine Kopfwunde mit drei Stichen genäht. Ich rufe nur an, weil ich glaube, dass er zu euch unterwegs ist. Passt ein wenig auf ihn auf«, sagte Diane.
»Machen wir. Neva wird sich um ihn kümmern. Das hilft gewöhnlich.«
»Habt ihr noch etwas Interessantes gefunden?«, fragte Diane.
»In dem Kellergeschoss des Apartmenthauses gab es eine Küche, deswegen haben wir eine Menge Metall gefunden. Wir suchen immer noch nach etwas, das man einer Person zuschreiben könnte, aber das meiste sind einfach Teile dieses Hauses. Allerdings haben wir auch noch ein paar Knochen entdeckt. Einer sieht wie das Stück eines Röhrenknochens aus. Aber er ist ziemlich dünn. Und er hat einen beinahe ovalen Querschnitt.«
»Das könnte eine Speiche sein.«
»Wir bringen alle Knochen zu dir ins Labor. Das restliche Beweismaterial werden wir wohl erst einmal hier unter Bewachung zurücklassen. Garnett lässt es dann von einem Brandermittler untersuchen, den er gut kennt und dem er vertraut.«
»Haltet mich bitte auf dem Laufenden.« Diane steckte das Handy weg und fuhr ins Museum. Sie parkte vor dem Außenaufzug, mit dem man direkt ins Kriminallabor hochfahren konnte.
Sie sprach kurz mit dem Nachtwächter, der den Zugang zum Aufzug überwachte, fuhr ins Kriminallabor hinauf, tippte ihren Code ein und ging mit der Knochenschachtel unter dem Arm hinein.
Das Handy vibrierte in ihrer Tasche, als sie gerade die Schachtel auf den Tisch stellte. Auf dem Display stand LAURA HILLARD.
»Hallo, Laura«, meldete sich Diane.
»Ich wollte dir nur etwas ausrichten. Juliets Großmutter heißt Ruby Torkel. Sie lebt noch und wohnt in Glendale-Marsh in Florida, wo sie auch ihr ganzes Leben verbracht hat.«
»Einen Moment, bitte, ich hole mir nur etwas zum Schreiben.«
Diane fischte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche und schaute sich dann nach einem Stück Papier um. Sie fand in einer Schublade einen kleinen Notizblock.
»Ich nehme nicht an, dass du ihre Telefonnummer hast.«
»Aber klar doch.« Laura gab Diane die Nummer durch. »Juliet meint, sie sei etwas verschroben.«
»Mit verschrobenen Leuten habe ich es hier jeden Tag zu tun. Wie geht es Juliet?«
»Ganz gut in Anbetracht dieser Verbrechensserie. Ich bekomme ständig Anrufe von Leuten, die Schwierigkeiten haben, mit ihrem Kummer fertig zu werden, und mich um Hilfe bitten. Die arme Juliet versucht auch ganz tapfer, sich nicht von dem Mord verrückt machen zu lassen, der in ihrem Apartmentkomplex passiert ist.«
»Ihrem Apartmentkomplex? Wo wohnt sie denn?«, fragte Diane.
»Im Briarwood-Apartmentkomplex. Dort, wo diese Joana Cipriano umgebracht wurde.«
»Juliet wohnt im Briarwood? Das arme Mädchen. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte.«
»Das stimmt. Sie hat mir erzählt, dass sich alle in diesem Komplex neue Sicherheitsschlösser haben einbauen lassen. Vor allem die Leute mit einer 131er Adresse, die ja der des Mordopfers ähnelt, sind ziemlich beunruhigt. Juliet gehört übrigens auch dazu. Sie wohnt in 131 H. Das ist zwar mehrere Blocks von der Mordwohnung, der 131 C, entfernt, aber es ist doch ziemlich unheimlich, eine Adresse zu haben, die einen immer an diesen Mord erinnert.«
»Was für ein seltsamer Zufall«, sagte Diane.
»Das habe ich Juliet auch gesagt. Als den Bauherren die Buchstaben des Alphabets ausgingen, bezeichneten sie die neu gebauten Apartments als AA, BB, CC und so weiter. Stell dir nur einmal vor, wie sich jetzt die Bewohner von 131 CC fühlen müssen! Wie dem auch sei, ich weiß, du hast viel zu tun. Ich wollte dir nur die Adresse ihrer Großmutter mitteilen.«
»Vielen Dank. Ich werde versuchen, sie morgen zu erreichen«, sagte Diane. Sie klappte ihr Handy zu und stand ein paar Momente regungslos da. Das ist wirklich eigenartig, dachte sie. Sie zog sich ein paar Latexhandschuhe an. Dann fiel ihr ein, dass auch Joana Cipriano blonde Haare und blaue Augen hatte. Sie waren zwar nicht so hell wie die von Juliet, trotzdem war diese Übereinstimmung schon recht seltsam. Diane fühlte eine unterschwellige Beklommenheit, als sie die Knochen auf dem Tisch auszulegen begann.