39
Dr. Fallon.«
Es war die Stimme einer Begleitperson, die mit einer Gruppe von Kindern in der Schlange stand. Verdammt. Sie wollte eigentlich jetzt nicht aufgehalten werden. Aber sie lächelte und ging hinüber.
»Dr. Thormond.«
Diane hielt dem Mann, der gerade auf etwa zwanzig Drittklässler aufpassen musste, die Hand hin. Martin Thormond war ein Geschichtsprofessor, den sie auf dem Campus bei einem ihrer Vorträge über das Museum kennengelernt hatte. Sie wusste, dass er gerne zu den Kuratoren gehört hätte, die sie an der Universität für ihr Museum engagierte, aber für sein Fachgebiet hatte sie keine Verwendung. Die Abteilung, die diesem am nächsten kam, war ja die Archäologie, deren Kurator Jonas Briggs ein alter Freund von ihr war.
Es war wirklich seltsam. Als sie den Universitätsprofessoren zum ersten Mal die Idee vorgetragen hatte, im Austausch gegen Büroräumlichkeiten und Forschungsgelegenheiten eine Kuratorenstelle im Museum zu übernehmen, war sie auf große Skepsis gestoßen. Manche hatten darauf sogar regelrecht hochnäsig reagiert. Inzwischen galt es augenscheinlich sogar als Auszeichnung, im RiverTrail-Museum als Kurator wirken zu können.
»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte Diane. »Dürfen Sie heute Aufsicht spielen? Ist einer von den Kleinen hier Ihrer?«
»Michael dort drüben.«
Er deutete auf einen blonden Jungen, der zwei kleine Mädchen durch Faxenmachen zu beeindrucken versuchte und dabei anscheinend ausprobieren wollte, wie weit er seinen Mund mit den Fingern auseinanderziehen konnte.
»Ja, das ist er, mein ganzer Stolz«, sagte er.
Er lachte und versuchte gleichzeitig, seine übrigen Schützlinge in der Schlange zu halten. Dabei konnte er gerade noch verhindern, dass ihm ein dunkelhaariger Junge durch die Lappen ging.
»Ich kann Ihnen sagen, seitdem ich das mache, habe ich bedeutend mehr Respekt vor Gänsemüttern.«
Diane erwiderte sein Lachen und machte einige Bemerkungen über die unerschöpfliche Energie dieser Rangen. Je mehr Kinder jetzt eintrafen, desto größer wurde der Lärm. Diane fragte sich, wo die Museumsführer blieben.
In der Nachbarschlange vertrieben sich ein paar kleine Mädchen die Zeit mit Zungenbrechern.
»Sagt mal das nach«, forderte eine die anderen auf. »Haifischschwanzflossenfleischsuppe.«
Ein kleines Mädchen sagte es tatsächlich ganz langsam in perfekter Aussprache nach.
»Und jetzt sag es ganz schnell.«
Diesmal verhaspelte sie sich heillos, was ein allgemeines Gelächter hervorrief.
»Und jetzt das: Schnecken erschrecken, wenn Schnecken an Schnecken schlecken.«
Niemand konnte das fehlerfrei aussprechen, was zu einem noch größeren Gelächter führte.
Jetzt mischte sich ein Lehrer ein: »Zwischen zwei spitzen Steinen saßen zwei zischelnde Zischelschlangen und zischten.«
Anscheinend haben sie einen Zungenbrecher für jede Abteilung des Museums, dachte Diane.
Ein Kind krähte dann: »Ich habe noch etwas: Die Post ist mit Paketen und Päckchen voll Packpapier bepackt.«
Schon wieder eine Alliteration mit p, dachte Diane. Woran erinnert mich das, verdammt.
»… völlig unerwartet, und jetzt dürfen wir seine Arbeit auch noch erledigen.«
Dr. Thormond hatte die ganze Zeit weitergeredet, und Diane hatte keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach. Sie nickte. Nicken war immer gut.
»Keiner von uns wusste, dass Dr. Keith unsere Universität verlässt«, fuhr er fort.
Dr. Keith … Geschichte.
»Reden Sie über Shawn Keith?«, fragte Diane.
»Ja. Er hat uns zur ungünstigsten Zeit verlassen. Jetzt muss ich seine ganzen Seminare übernehmen«, sagte Dr. Thormond.
»Er wohnt im Untergeschoss meines Apartmenthauses«, sagte Diane. »Ich wusste gar nicht, dass er auszieht.«
»Das hat alle überrascht. Ich kann gar nicht glauben, dass er die ganze Zeit eine neue Stelle gesucht hat, und keiner von uns hat etwas davon mitbekommen«, sagte er.
Während Dr. Thormond sich über Dr. Shawn Keiths plötzlichen Abgang beklagte, erinnerte sich Diane daran, wie Blake Stanton seine Pistole auf Professor Keiths Auto gerichtet hatte. Bisher hatte sie immer angenommen, dass Blake rein zufällig vor ihrem Haus aufgetaucht war. Vielleicht war das gar nicht so. Vielleicht war Blake zu jemandem geflüchtet, den er kannte, und sie hatten Streit bekommen, woraufhin Blake Keith mit der Waffe bedroht hatte. Eigentlich musste es ja auch an der Universität jemanden gegeben haben, der Stanton die Gelegenheiten zu seinen Diebstählen verschaffte. Könnte dieser »jemand« nicht Keith gewesen sein?
In diesem Moment trafen die Museumsführer ein, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Diane winkte Thormond noch einmal zu, als dieser mit seinen Gänslein die Ausstellungsräume betrat, und fuhr dann mit dem Aufzug hinauf in ihr Kriminallabor.
Ihr Team war bereits da. David saß am Computer. Diane wusste nicht, ob er an einem Fall arbeitete, irgendwelche Datenbanken durchforschte oder Algorithmen zum Auffinden von Gegenständen in diesen Datenbanken entwickelte. Neva betrachtete etwas unter dem Mikroskop, während Jin einfach so dasaß und vor sich hinbrütete.
»Diese verdammten Zigarettenstummel. Ich hätte mein DNS-Labor haben können«, stöhnte er.
»Jin«, sagte Diane in scharfem Ton, »hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden, und gehen Sie zurück an die Arbeit. Hightech ist nicht alles.«
Jin sprang auf, als er ihre Stimme hörte. »Was meinen Sie damit, Boss?«
»Sie haben doch die Zigarettenstummel fotografiert, bevor Sie sie aufhoben, oder?«, fragte sie.
»Natürlich habe ich das«, sagte er und wirkte dabei leicht beleidigt.
»Schauen Sie sich die Fotos einfach noch einmal an, und finden Sie heraus, um welche Zigarettenmarke es sich dabei handelt.« Diane stand direkt vor ihm und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
»Was soll uns das bringen? Sie können keinen Einzeltäter aufgrund seiner bevorzugten Zigarettenmarke überführen. Hunderte … Tausende, vielleicht Millionen von Menschen rauchen doch die gleiche Marke.«
»Jin, mit diesem Denkvermögen bin ich mir nicht sicher, ob Sie ein DNS-Labor verdienen.«
»Boss!«, schrie er laut auf.
»Bis jetzt besitzen wir ja nicht einmal eine Verdächtigenliste – Sie brauchen sich also über eine perfekte Übereinstimmung überhaupt noch keine Gedanken zu machen. Es genügt also, wenn Sie eine Liste von möglichen Verdächtigen erstellen, auf deren Grundlage wir dann weiterarbeiten können.«
»Ich finde also heraus, was für Zigarettenstummel das sind, und dann lege ich eine Liste mit allen Menschen in Rosewood an, die diese Marke rauchen?«
»Jin, ich habe Sie noch nie derartig wehleidig erlebt«, sagte Diane.
»Ich habe mich von so einem Typen übertölpeln lassen«, lamentierte er.
»Woher sollten Sie wissen, dass dort oben jemand herumschleichen würde? Wir müssen eine Gruppe von Verdächtigen finden, die wir dann allmählich einengen. Wir nehmen doch zum Beispiel an, dass das Motiv für McNairs Ermordung Rache für alle diese getöteten Studenten sein könnte. Und wen haben diese Tode am meisten getroffen?«
»Die Eltern«, sagte er.
»Wen noch?«
Jin dachte eine Minute nach. »Die Leute, die direkt damit zu tun hatten. Uns.«
»Und da gibt es bestimmt noch mehr. Wo haben sich wohl diese möglichen Verdächtigen in der letzten Zeit länger aufgehalten – und Zigaretten geraucht?«
Jin dachte erneut nach. »In der Nähe des Tatorts. In der Zeltstadt«, sagte er dann.
»Warum bewegen Sie sich also mit Ihrem ganzen Selbstmitleid nicht dorthin, wo diese Zeltstadt stand, und suchen dort nach Zigarettenstummeln?«, sagte sie. »In dem Zelt, in dem wir waren, gab es etliche Leute, die immer mal wieder nach draußen gegangen sind, um zu rauchen. Das war im Kaffeezelt sowie dort, wo die Schaulustigen standen, und in den Pressezelten bestimmt nicht anders. Wenn Sie Glück haben, gehören die Zigarettenstummel, die Sie in der Nähe des Lagerhauses gefunden haben, zu einer seltenen Marke oder zeichnen sich durch sonst etwas Besonderes aus. Wenn Sie dann die gleichen am Platz der ehemaligen Zeltstadt finden, ist das vielleicht der Anfang einer neuen Indizienkette.«
»Boss, das ist eine wirklich gute Idee. Aber man ist auf ihnen inzwischen wahrscheinlich hundertmal herumgetrampelt, die DNS-Spuren auf ihnen sind nicht mehr verwertbar, und manche stammen vielleicht auch von den Leuten, die die Zeltstadt hinterher abgebaut haben.«
»Im Moment suchen wir ja nur nach Spuren, die in irgendeine Richtung weisen, und nicht unbedingt nach gerichtsverwertbaren Beweismitteln.«
»Ich verstehe, was Sie meinen, Boss, aber es besteht immer noch die Möglichkeit, dass alle die gleiche Marke geraucht haben.«
»Nicht unbedingt«, mischte sich David ein. »Nur wenn es Marlboros sind, bist du in Schwierigkeiten, da die ja etwa die Hälfte der US-amerikanischen Raucher qualmt. Dieser Prozentsatz vermindert sich allerdings mit zunehmendem Alter. Bei der Gruppe der über Sechsundzwanzigjährigen ist er schon deutlich geringer. Schau dir die Fotos genau an und versuche herauszufinden, mit welcher Marke du es hier zu tun hast, und richte deine weitere Vorgehensweise danach. Diane hat recht. Bewege deinen selbstmitleidigen Hintern und erledige ein bisschen ganz altmodische Detektivarbeit.«
Alle starrten David an. Neva sprach als Erste.
»Du hast eine Zigarettendatenbank, oder?«
»Natürlich habe ich die. Weißt du eigentlich, wie viele Verbrecher rauchen?«, sagte David.
»Aber du hast die ganzen Daten auswendig gelernt«, fragte Neva weiter.
»Nein, ich habe sie nachgeschaut, während sich Diane und Jin unterhielten.«
Jin sprang auf, holte seine Fotos und setzte sich neben David. Dann nahm er eine Lupe und begann, die Bilder genauer zu untersuchen.
»Hier ist etwas. Ist das ein Logo?«, fragte Jin.
David sah sich die Abbildung an.
»Okay«, sagte er und klickte durch die Bilder seiner Datenbank. »Die habe ich mir vorhin schon angeschaut. Du hast Glück. Das sind Dorals. Das ist keine Premium-Zigarette, eher eine Billigmarke. Sie wird hauptsächlich von der Altersgruppe der über Sechsundzwanzigjährigen geraucht, allerdings nur von etwa fünf Komma vier Prozent unter ihnen. In der Zeltstadt findest du bestimmt einzelne Doral-Raucher, und die sollte man sich genauer anschauen. Die Person, die dich angegriffen hat, muss außerdem körperlich ziemlich fit sein. Vielleicht ist sie sogar ein Kettenraucher. Es wird auch jemand sein, dem nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen oder der einfach von Natur aus sparsam ist, beides allerdings nicht so sehr, dass er zu noch billigeren Discount-Zigaretten greifen würde. Außerdem ist er höchstwahrscheinlich weiß.«
»Woher um alles in der Welt willst du das alles wissen?«, fragte Neva.
»Sowohl die Tabakindustrie als auch die Antiraucherorganisationen haben eine ungeheure Fülle von demographischen Daten über Raucher gesammelt«, sagte David.
»Ich bin beeindruckt«, sagte Jin. »Das könnte gehen. Ich ziehe mir meine Sherlock-Holmes-Mütze auf und sammle ein paar weitere Zigarettenkippen ein.«
»Ich helfe dir«, sagte Neva.
Beide verließen das Labor. Jins Stimmung hatte sich augenscheinlich bedeutend verbessert.
»Gute Idee«, sagte David. »Vielleicht kommt wirklich etwas dabei heraus.«
»Wenigstens bringt es Jin wieder auf Trab. Er hasst es, wenn er seiner Meinung nach einen Fehler gemacht hat«, sagte Diane. »Jetzt muss ich aber mit Garnett telefonieren. Ich habe gerade etwas erfahren, das unsere Theorien wieder ziemlich verändern könnte.«
Diane rief Garnett von Davids Laborplatz aus an. David hörte ihr zu, als sie den Kripochef über Shawn Keith und seinen überstürzten Arbeitsplatzwechsel informierte.
»Ich kann ihn nicht einfach verhaften, weil er seinen Job wechselt«, sagte Garnett. »Er hat immerhin den Notruf benachrichtigt, als Sie von Stanton angegriffen wurden. Wir haben ihn danach als Zeugen befragt. Ich könnte ihn einfach unter dem Vorwand, dass wir eine weitere Zeugenaussage brauchen, noch einmal auf das Kommissariat laden.«
»Ich weiß, dass es weit hergeholt ist, aber wenn er Blake Stanton bei seinen Diebstählen auf dem Universitätscampus geholfen hat, hatte er auch ein gutes Motiv, ihn umzubringen.«
»Würde Shawn Keith wirklich diesen Stanton wegen ein paar Kleindiebstählen ermorden?«, fragte Garnett.
»Keith war Ordinarius der Geschichtsfakultät. Wenn herauskäme, dass er in Diebereien auf dem Campus verwickelt ist, wäre seine Karriere beendet. Er würde nie mehr an irgendeinem College oder einer Uni eine Anstellung finden. Er hatte also eine Menge zu verlieren.«
»Damit haben Sie wohl recht. Sie haben also Ihre Theorie über unsere Verbrechen wieder einmal geändert?«, fragte Garnett.
»Ich ändere überhaupt nichts. Das Ganze ist ein Prozess. Ich berücksichtige nur alle Möglichkeiten«, entgegnete Diane.
»Okay. Ich schaue mal, ob ich ihn finde. Er wohnt in Ihrem Apartmenthaus?«
»Im Untergeschoss.«
»Also wirklich«, sagte David, nachdem sie das Gespräch mit Garnett beendet hatte, »das ist ja alles höchst interessant.«
»Das kann man wohl sagen. Wir werden sehen, was Garnett herausbekommt. In der Zwischenzeit gehe ich hinüber in die Wassertierabteilung.«
Diane stand schon in der Tür, als sie sich plötzlich noch einmal umdrehte. »Kannst du herauskriegen, ob es im Sommer oder Herbst 1987 entweder in Glendale-Marsh, Florida, oder in Scottsdale, Arizona, einen Massenmord gegeben hat? Die Opfer hat man vielleicht in Plastikplanen eingewickelt.«
»Was ist das denn nun wieder?«, fragte David verblüfft. »Ein neuer Fall?«
»Etwas Privates, an dem ich gerade arbeite«, sagte Diane.
»Wird erledigt«, sagte er.
Diane verließ das Kriminallabor, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und ging zur Abteilung für Wassertiere hinüber. Als sie dort eintraf, herrschte dort eine kleine Aufregung. Eine dünne ältere Frau mit einer Haut wie braunes Leder und blondbraunen Haaren, die sie zu einem Dutt hochgebunden hatte, stritt sich mit einem Wachmann, der vor der Fischausstellung stand. Glücklicherweise befanden sich gerade nur wenige Besucher in diesem Raum.
»Ich gebe Ihnen dieses Päckchen nicht, junger Mann. Ich kenne Sie ja nicht einmal.«
Diane erkannte ihre Stimme.
»Ma’am. Ich muss es mir nur einmal anschauen.«
»Mrs. Torkel?«, sprach sie Diane an. »Sind Sie Ruby Torkel?«
Die Frau und der Wachmann drehten sich um, als sie Dianes Stimme hörten. Der Sicherheitsmann schien sichtlich erleichtert.
»Ja. Und wer sind Sie? Wieso kennen Sie meinen Namen?«, fragte sie.
»Ich bin Diane Fallon. Wir haben gestern miteinander telefoniert. Sind Sie den ganzen Weg von Florida hierhergekommen?«
»Ich stehe doch hier vor Ihnen, oder nicht? Sie meinten doch, Sie wollten diese Puppe einmal sehen.«
Diane gab dem Wachmann durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er jetzt gehen könne. »Ist das die Puppe?«, fragte sie dann und deutete auf das Päckchen.
»Mein Essen ist es jedenfalls nicht«, antwortete Mrs. Torkel.
»Ich hatte nicht erwartet, dass Sie die Puppe selbst vorbeibringen«, sagte Diane.
»Wenn ich sie mit der Post geschickt hätte, hätte das doch ewig gedauert. Außerdem habe ich Juliet schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, deshalb entschloss ich mich, selbst zu kommen. Aber das ist wirklich ein riesiges Gebäude hier.«
»Das stimmt. Ich war gerade auf dem Weg zu Juliet. Sie ist wahrscheinlich in dem Labor dort drüben.«
»Großmutter, bist du das?« Juliet kam gerade aus der Muschelsammlung. »Was machst du denn hier?«
»Ich wollte dich besuchen. Und diese Frau – Diane Fallon – möchte sich die Puppe anschauen.«
»Welche Puppe?«, fragte Juliet verwirrt.
»Du weißt doch, als du ein kleines Mädchen warst. Die Puppe, die ich dir abgenommen habe«, antwortete ihre Großmutter.
»Deswegen bist du extra von Florida hierhergekommen?«, rief Juliet aus. Sie führte ihre Großmutter weg von den Touristen in eine ruhige Ecke des Raums.
»Natürlich aus Florida. Woher denn sonst? Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«
»Natürlich tue ich das.« Juliet drückte ihre Großmutter an sich. »Ich bin nur überrascht, das ist alles. Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem Bus. Das war gar nicht so schlimm. Ich habe die meiste Zeit geschlafen. Nur das Umsteigen in Atlanta war ziemlich lästig.«
»Ich bin wirklich froh, dich zu sehen«, sagte Juliet. »Hast du schon etwas gegessen?«
»Nicht viel«, sagte sie.
»Warum führen Sie Ihre Großmutter nicht in unser Restaurant?«, schlug Diane vor.
Juliet nickte. »Das ist eine gute Idee.«
»Zuerst wollte ich Sie aber noch etwas fragen«, sagte Diane. »Eigentlich wollte ich Ihnen ja nur erzählen, dass ich Ihre Großmutter gebeten habe, mir diese Puppe zu schicken. Aber da gibt es noch etwas anderes, was ich Sie schon seit einiger Zeit fragen will. Als wir neulich zusammen aßen, haben Sie mir erzählt, dass Sie vor einigen Dingen wie neuen Puppen und ganz bestimmten Wörtern Angst hätten. Was sind das für Wörter?«
»Das Ganze ist eigentlich ziemlich albern. Einem Wort, das mir fürchterlich Angst macht, bin ich neulich ganz zufällig bei meiner Museumsarbeit begegnet. Es ist das Wort Palim… Palim… Es tut mir leid, ich schaffe es nicht einmal, es auszusprechen. Es ist das Wort … Palimpsest. Ganz schön verrückt, oder?« Juliet ließ ein nervöses Lachen hören.
»Palimpseste. Das ist das zweite Mal, dass ich dieses Wort in letzter Zeit gehört habe – wo war das noch gleich?«, sagte Diane. Plötzlich erinnerte sie sich: die Bibliothek. Und jetzt wusste sie auch, warum ihr diese p-Alliterationen ständig im Kopf herumgegangen waren. »Jetzt fällt es mir wieder ein: Palimpseste wurden hauptsächlich aus Pergament oder Papyrus hergestellt.«
Juliets Gesicht drückte nacktes Entsetzen aus. Sie wurde leichenblass, torkelte gegen die Wand und schrie. Dann sank sie zusammen und umklammerte schluchzend ihre Knie.