22
Was geht hier vor? Wo ist meine Frau? Was ist passiert?«
Das muss Gil Cipriano sein, dachte Diane. Sie ging ins Wohnzimmer hinüber und stellte sich neben David, der gerade einen CD-Player nach Fingerabdrücken absuchte. Ein junger Mann versuchte, in die Wohnung zu gelangen, wurde aber von Garnett und zwei Polizisten daran gehindert.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Garnett.
»Mich beruhigen. Wenn Sie heimkommen und so etwas vorfinden, bleiben Sie dann etwa ruhig?«, protestierte der Mann.
»Soviel ich weiß, sind Sie und Mrs. Cipriano geschieden«, sagte Garnett.
»Ja, wir wurden … wir sind geschieden, aber wir sind gerade dabei, wieder zusammenzukommen.«
Diane musterte ihn. Gil Cipriano war eher der dunkle Typ und sah ausnehmend gut aus – pechschwarze Haare, schwarze Augen, olivfarbene Haut. Er war offensichtlich italienischer Abstammung und Ende zwanzig. Er schien wirklich überrascht zu sein, aber das konnte auch täuschen.
»Wo ist Joana?«, fragte er. »Ist ihr etwas passiert?« In diesem Augenblick fiel sein Blick auf den großen Blutfleck an der Stelle, wo Joanas Kopf gelegen hatte. »Oh Gott, stammt das von ihr? Verdammt, wo ist sie?« Er versuchte, Garnett wegzudrücken, aber die beiden Polizisten hielten ihn auf.
»Beruhigen Sie sich bitte, Mr. Cipriano«, wiederholte Garnett.
»Sie sagen immer nur: ›Beruhigen Sie sich‹, aber Sie wollen mir nichts erzählen, und dann finde ich das in meinem Wohnzimmer vor. Erzählen Sie mir endlich, was mit Joana passiert ist, verdammt.«
»Wo sind Sie den ganzen Tag gewesen?«, fragte Garnett.
»An der Uni. Ich arbeite an meiner Dissertation.« Er machte eine kleine Pause. »Ich war den ganzen Tag in der Bibliothek. Die Leute dort kennen mich. Und jetzt möchte ich wissen, was hier passiert ist. Geht es Joana gut? Ist sie im Krankenhaus?«
»Nein, sie ist nicht im Krankenhaus«, sagte Garnett. »Sie wurde ermordet.«
Cipriano starrte ihn ungläubig an.
»Mein Beileid«, fügte Garnett etwas unbeholfen hinzu.
»Ihr Beileid? Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, dass Joana tot ist? Sie kann nicht tot sein. Wir sind doch gerade dabei, wieder zusammenzukommen. Sie gibt in zwei Tagen ein Konzert. Wir haben Pläne.« Er schaute jetzt Diane und David an, als ob er sie gerade erst bemerkt hätte. »Wer sind Sie denn? Was ist mit Joanas Büchern passiert? Sie mag es nicht, wenn Leute ihre Sachen in Unordnung bringen.«
Diane ging in Richtung Tür, wobei sie versuchte, in dem Bereich zu bleiben, den sie bereits abgesucht hatten. Als sie an David vorbeikam, fragte sie ihn: »Gibt es einen fertig untersuchten Raum in der Wohnung, wo wir uns mit ihm unterhalten können?«
David nickte und deutete über seine Schulter. »Mit der Frühstücksecke dort hinten bin ich bereits fertig.«
»Warum lassen wir ihn dann nicht herein?«, schlug Diane Garnett vor. »Bringen Sie ihn dort hinüber.«
Garnett nickte. Er führte Cipriano zu einer kleinen Sitzecke neben der Küche, wo dieser sich an einen eichenen Frühstückstisch setzte und den Kopf auf die Arme legte.
»Vielleicht kann er uns sagen, ob irgendwelche Bücher fehlen«, meinte Diane, als sie und Garnett sich zu Cipriano an den Tisch setzten.
»Gil – ich darf Sie doch Gil nennen?«, fragte Garnett.
»So heiße ich, ja.« Er hob den Kopf. »Wie ist sie … gestorben? Hat sie gelitten?«
Wahrscheinlich, dachte Diane und sah dabei ihr Gesicht vor sich. Sie konnten ihm das natürlich jetzt noch nicht sagen.
Garnett erzählte ihm nur, dass es einen Kampf gegeben habe, in dessen Verlauf sie wohl gestürzt und dabei mit dem Kopf gegen den Kaffeetisch geprallt sei.
Cipriano schwieg einen Moment. »Was hat sie vorhin über Joanas Bücher gesagt?«, fragte er dann und nickte in Dianes Richtung.
»Könnten Sie uns vielleicht sagen, ob eines ihrer Bücher fehlt?«
Er starrte die beiden an. »Sie machen Witze, oder? Wer hat eine Liste aller seiner Bücher?«
»Besaß sie irgendwelche besonderen oder seltenen Bücher oder Bücher, die in Wirklichkeit Safes waren?«, fragte Diane.
»Selten? Nein. Joana liest meistens diese Buchklub-Bestseller. Und Gedichte. Die mag sie auch. Wir beide mögen sie. Und was meinten Sie mit Büchern, die Safes sind?«
»Nun«, erklärte Garnett, »sie sehen wie ein Buch aus, aber in ihrem Inneren ist ein kleiner Stahlbehälter, in dem man Geld oder Schmuck aufbewahren kann.«
»Schmuck? Joana besitzt keinen wertvollen Schmuck. Und wenn sie welchen hätte, würde sie ihn in einem Schließfach aufbewahren und nicht in einem Buch.«
»Im Wohnzimmer gibt es eine Menge Bücher über Musik und Geschichte, außerdem viele Biographien. Gehören einige von denen Ihnen?«
»Die Geschichtsbücher und Biographien gehören mir. Warum stellen Sie mir alle diese Fragen über Bücher? Wir besitzen keine besonders wertvollen Bücher. Es sind einfach nur ganz normale Bücher.«
»Hat man Ihnen zuvor schon jemals Fragen über sie gestellt?«, wollte Diane wissen.
»Nein. Ich sage Ihnen noch einmal, es sind einfach nur Bücher. Worum geht es hier eigentlich? Wollen Sie mir weismachen, jemand hätte Joana wegen eines Buches überfallen? Vielleicht wegen eines überfälligen Buches, das sie nicht rechtzeitig zurückgegeben hat? Ich weiß, dass Prüfungskandidaten manchmal beinahe durchdrehen, aber …«
Gil schaute von einem zum anderen, als ob sie alle total verrückt wären.
Vielleicht hatte der Mann ja gar nicht nach einem »Buch« gefragt, überlegte sich Diane. Vielleicht hat sich Jere Bowden verhört. Aber was könnte er dann gemeint haben? Kaum ein anderes Wort, was hier in Frage käme, klingt wie »Buch«. Tuch? Fluch? Oder vielleicht sogar Koch? Koch wie in Meth-Koch? Könnte das Ganze etwas mit der Explosion des Meth-Labors zu tun haben? Vielleicht war das doch etwas weit hergeholt.
Während Diane diesen Gedanken nachging, befasste sich Garnett mit Gils Alibi. Die Bibliothek war für ein wasserdichtes Alibi nicht sehr geeignet. Zwar mochten ihn dort eine Menge Leute gesehen haben, aber es war ziemlich leicht, sie für kürzere oder längere Zeit zu verlassen und danach wieder zurückzukommen.
»Hatte Joana jemals etwas mit Drogen zu tun?«, fragte Diane.
»Drogen? Nein, natürlich nicht. Sie verabscheut Drogen.«
»Kannte sie jemanden, der bei der Explosion vor ein paar Tagen ums Leben kam?«
»Ich glaube, einer ihrer Studenten. Ich kann mich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern. Bobby irgendwas.«
»Kannte sie jemanden, der in dem Apartmenthaus lebte, das in die Luft flog?«, fragte Diane.
»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Also, ich verstehe keine Ihrer Fragen.«
»Reine Routinefragen«, sagte Garnett. »Hatte sie irgendwelche Feinde?«
»Joana? Nein. Sie hat keine Feinde. Alle ihre Studenten mögen sie, ebenso wie ihre Kollegen an der Uni.«
»Und in ihrem Sozialleben?«
»Feinde in ihrem Sozialleben? So etwas wie eifersüchtige Ehefrauen oder Liebhaber? Das gab es bei Joana nicht. Sie ist hübsch, aber sie erregt keine Eifersucht in anderen Menschen. Sie ist nett. Jeder mag sie. Schauen Sie, wir sind ganz normale Leute. Sie lehrt Musik, und ich promoviere in Geschichte. Niemand hätte einen Grund, sie umzubringen.«
»Und wie ist es mit Ihnen? Kennen Sie jemanden, der aus irgendeinem Grund mit Ihnen abrechnen möchte?«
»Mit mir? Nein. Ich sagte Ihnen doch, ich bin nur ein Student. Nein, ich kenne niemanden, der mir so etwas antun würde.«
»Warum ließen Sie und Ihre Frau sich scheiden?«, fragte Garnett.
Er zuckte mit den Achseln. »Sie glaubte, ich hätte eine Affäre.«
»Hatten Sie?«, hakte Garnett nach.
»Nicht direkt.«
»Affären sind wie Schwangerschaften«, sagte Garnett. »Entweder man hat eine, oder man hat keine. Hatten Sie eine Affäre?«
»Ich würde es nicht so nennen. Es war eine reine Internet-Beziehung, in einem Chat-Room. Wir haben uns nie persönlich getroffen. Also, Sie wollen doch jetzt nicht weitere Einzelheiten wissen, oder?« Er warf Diane einen kurzen Blick zu.
»Ich brauche den Namen der Dame, mit der Sie gechattet haben«, blieb Garnett eisern.
»Muss ich den preisgeben? Ich meine … Ich kenne nicht einmal ihren richtigen Namen. Sie nannte sich Justforkicks. Das war alles. Und außerdem ist es jetzt vorbei.«
»Ich verstehe«, sagte Garnett. »Hatten Sie noch andere derartige Internet-Freundschaften?«
Er zuckte erneut mit den Achseln. »Gelegentlich. Nichts Ernstes. Das ist wie Safer Sex. Man ist dabei sowieso eine Zeichentrickfigur.«
»Zeichentrickfigur?«, fragte Garnett verdutzt. Auch Diane hatte keine Ahnung, was er damit meinte.
»Webcam. Es ist eine Software, die einen wie eine Zeichentrickfigur aussehen lässt. Wie in einem Anime – Sie wissen schon, dieses japanische Zeugs.«
Diane verstand kein Wort, und sie vermutete, dass es Garnett ähnlich ging.
»Ich schlage vor«, sagte Garnett, »Sie lassen uns einen Blick auf Ihren Computer werfen.«
»Ich weiß nicht recht. Das sind ziemlich private Dinge. Ich verlasse dabei nicht einmal mein Zimmer. Ich treffe nie jemanden persönlich.«
»Vielleicht hat Sie jemand ernst genommen und hielt Ihre Frau für eine Konkurrentin.«
»Das ist verrückt. Es ist doch nur …« Er warf Diane erneut einen Blick zu. »Es ist doch nur eine Art Spiel. Die Leute, mit denen ich spreche, wissen doch nicht einmal, wer ich bin.«
»Wie lautet Ihr Webname?«, fragte Diane.
»Muss ich das wirklich sagen?«, fragte er Garnett.
»Wo wohnen Sie im Augenblick?«, fragte Garnett.
»In einem Apartment in der Applewood Street 472, das ich mit zwei Kommilitonen teile. Die beiden sind nach den Semesterprüfungen heimgefahren.«
»Sie bleiben in den Semesterferien hier?«
»Ja.«
»Wir werden vielleicht noch einmal mit Ihnen reden müssen«, sagte Garnett.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Gil. »Kann ich sie sehen?«
»Sie ist im Moment bei der Gerichtsmedizin«, sagte Garnett. »Sie müssen sie auch noch offiziell identifizieren. Ein Polizeibeamter kann Sie hinbringen, wenn Sie wollen.«
Er nickte, wobei seinem Gesicht plötzlich anzusehen war, um was man ihn da bat.
Garnett wies einen der Polizisten an, Gil Cipriano ins Leichenschauhaus zu fahren. Diane und Garnett konnten durch das Fenster der Frühstücksecke beobachten, wie er mit hängenden Schultern, den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf den Beamten zum Streifenwagen begleitete.
»Was denken Sie?«, fragte Garnett.
»Er spricht von ihr immer im Präsens«, sagte Diane.
»Ja. Das ist mir auch aufgefallen«, bestätigte er.
»Seine Knöchel waren sauber und wiesen keinerlei Verletzungen auf«, fuhr sie fort.
»Auch das habe ich bemerkt«, sagte er. »Was sollten eigentlich diese Fragen, ob sie etwas mit Drogen zu tun gehabt habe? Sind Sie auf irgendeine Verbindung zur Explosion der Meth-Küche gestoßen?«
»Nein, eigentlich nicht, das war nur so ein Gedanke.« Diane erzählte ihm von ihrer Idee, dass es sich um ein Wort gehandelt haben könnte, das sich auf »Buch« reimte. »Etwas weit hergeholt, ich weiß. Aber man sollte der Möglichkeit immerhin nachgehen.«
Garnett ließ ein leises Lachen hören. »Nicht gerade naheliegend, das stimmt. Aber Mrs. Bowden könnte sich tatsächlich verhört haben.«
In diesem Moment klingelte Garnetts Handy. Diane stand auf, um David wieder bei der Untersuchung des Tatorts zu helfen. Da legte Garnett eine Hand auf ihren Arm.
»Sie ist schon ein paar Stunden hier am Tatort«, sagte er. Dann hörte er einige Augenblicke zu. »Ja, das kann ich. Ich war auch die ganze Zeit hier.« Pause. »Ich verstehe. Wir können andere Leute hinschicken.« Wieder machte er eine Pause.
Diane hätte gerne den anderen Teilnehmer dieses Gesprächs gehört. Sie hatte zunehmend das Gefühl, dass sie die sie war, über die hier gesprochen wurde.
»Natürlich werden wir uns um größte Sorgfalt bemühen.« Wieder hörte er ein paar Sekunden zu.
Diane hörte jemanden am anderen Ende der Leitung reden, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sie merkte nur, dass er äußerst aufgeregt war.
»Es ist mir scheißegal, was sie will.« Garnett klappte sein Handy zu und wandte sich an Diane. »Das Ganze wird immer schlimmer.«
»Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht fragen, aber was ist denn Schlimmes passiert?«
»Jemand hat gerade Blake Stanton ermordet, den Jungen, der neulich Ihr Auto rauben wollte. Die Mutter glaubt, dass Sie das waren.«