15

Als Diane zum Labor hinüberging, bemerkte sie, dass dessen Tür nur angelehnt war. Tatsächlich war nur eine laute Stimme zu vernehmen. Diane erkannte sie als die von Whitney Lester, der neuen Sammlungsleiterin der Wassertierabteilung.

»Ich weiß, dass Sie die Muscheln gestohlen haben. Es wäre für uns beide besser, wenn Sie das hier und jetzt zugeben würden.«

Diane konnte die Antwort nicht verstehen. Nur ein leises Murmeln drang durch die Tür.

»Ich habe es satt, mit Ihnen meine Zeit zu vergeuden. Sie werden Ihren Job verlieren. Das steht fest. Ob wir es zur Anzeige bringen, hängt jetzt ganz von Ihnen ab. Wo sind diese verdammten Muscheln? Ich werde es nicht zulassen, dass in meinem Verantwortungsbereich wertvolle Ausstellungsstücke abhandenkommen, verstanden?«

Als Diane das Labor betrat, bot sich ihr eine seltsame Szene. Whitney Lester hatte ein kleines Persönchen regelrecht in die Ecke gedrängt. Es war Juliet Price, deren Gesicht nacktes Entsetzen ausdrückte.

»Ich habe Ihre verdruckste Art satt. Antworten Sie mir endlich, verdammt!«, schrie sie Lester an.

»Was geht hier vor?«, ließ sich jetzt Diane vernehmen und versuchte, dabei so ruhig wie möglich zu klingen.

Whitney schaute verärgert in Dianes Richtung, bereit, jede Störung abzuwehren. Als sie Diane erkannte, zeigte ihr Gesicht eine gewisse Verblüffung, die dann einem gequälten Lächeln wich.

»Dr. Fallon, ich habe Sie gar nicht hereinkommen hören.«

Wie denn auch, bei diesem Gebrüll, dachte Diane. »Was geht hier vor?«, wiederholte sie.

»Miss Price hat mehrere wertvolle Muscheln aus unserer Sammlung gestohlen. Ich versuche sie gerade dazu zu bringen, sie zurückzugeben.«

Diane schaute Juliet Price an. Diese hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt und stand nach vorne gebeugt da. Ihre blonden Haare waren nach vorne gefallen und hingen ihr jetzt ins Gesicht.

»Dr. Price, geht es Ihnen gut?«, fragte Diane.

»Die hat nichts. Die simuliert nur.«

Diane ignorierte Whitney. »Juliet, geht es Ihnen gut?« Diane ging auf sie zu und führte sie zu einem Stuhl.

»Ich habe diese Muscheln nicht gestohlen«, flüsterte sie. »Ich brauche diesen Job.«

Diane hörte Whitney verächtlich schnauben. »Daran hätten Sie früher denken sollen …«

»Genug jetzt«, sagte Diane energisch. »Juliet, Sie werden Ihren Job nicht verlieren. Bleiben Sie kurz hier sitzen, und versuchen Sie, sich zu beruhigen. Ich bin gleich zurück.«

»Mrs. Lester, bitte kommen Sie mit in Ihr Büro«, sagte sie dann.

Whitney Lester sah aus, als ob man ihr einen Hieb zwischen die Augen versetzt hätte. »Sie lassen sie hier doch nicht ohne Aufsicht zurück, oder?«

»Mrs. Lester, bitte!« Diane ging in das Büro der Sammlungsleiterin und setzte sich hinter deren Schreibtisch.

Whitney Lester folgte ihr und stand ein paar Sekunden unschlüssig da, als ob sie warten würde, bis Diane von ihrem Schreibtisch aufstand. Nach einiger Zeit setzte sie sich auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand, und glättete ihren braunen Wildlederrock. Dann setzte sie sich kerzengerade auf und versuchte, durch ihren Gesichtsausdruck ihre ganze Missbilligung auszudrücken – wenigstens vermutete dies Diane, als Lesters Ausdruck von Überraschung und Verwirrung zu einer Art von Trotz hinüberwechselte. Schließlich strich sie sich über ihr graumeliertes Haar.

»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Diane.

»Juliet hat ein paar wertvolle Meerestierschalen gestohlen. Ich versuche sie gerade zurückzubekommen.« Sie streckte das Kinn vor, was wohl ihre Tatkraft und Entschlossenheit betonen sollte.

»Was fehlt denn?«, fragte Diane.

Whitney lehnte sich zurück und schien ihre Selbstsicherheit mehr und mehr zurückzugewinnen. »Ein zwanzig Zentimeter langer Conus gloriamaris im Wert von viertausend Dollar und acht Cypraea aurantium, von denen jede dreihundert Dollar kostet.« Dabei zählte sie die fehlenden Gegenstände mit den Fingern ab, als ob sie dadurch den Verlust noch betonen wollte. »Und eine Riesenwellhornschnecke im Wert von zweihundertfünfzig Dollar. Alles in allem ein Wert von über sechstausend Dollar.«

»Haben Sie schon unsere Sicherheitsabteilung informiert?«

»Nein, ich versuche, alles, was in meinem Verantwortungsbereich passiert, selbst zu regeln«, sagte sie.

»Haben Sie beobachtet, wie Dr. Price sie an sich genommen hat?«, fragte Diane weiter.

»Nein, aber sie kommt als Einzige in Frage. Letzte Woche lagen sie noch hier im Sicherheitsgewölbe. Ich habe sie selbst dort gesehen. Sie ist fast immer hier und hat auch Zutritt zu diesem Tresorraum.«

»Sie haben also versucht, sie einzuschüchtern. Haben Sie nicht gesehen, wie verängstigt sie war?«

»Klar habe ich das bemerkt. Ich versuchte ja gerade, ihr ein Geständnis zu entlocken. Sie sollten das zu schätzen wissen.«

»Dies ist kein Verhörzimmer, und Dr. Price ist auch nicht irgendeine Kriminelle, die Sie auf der Straße aufgelesen haben. Sie ist eine Mitarbeiterin dieses Museums, und niemand, der hier arbeitet, darf auf diese Weise bedrängt werden. Ich hoffe, dass das jetzt klar ist.«

»Mein Führungsstil …«, begann Whitney.

»Ist so nicht akzeptabel«, unterbrach sie Diane.

Whitney schaute über die Schulter auf die offene Tür, als ob sie sehen wollte, ob Juliet Price mithörte. Diane sah, dass diese immer noch dort saß, wo sie sie zurückgelassen hatte, und ihre verschränkten Arme vor den Bauch presste. Diane war sich sicher, dass sie jedes einzelne Wort gehört hatte. Offensichtlich hatte sie das Gespräch aber noch nicht beruhigt. Juliet war eine der wenigen Mitarbeiter, mit denen sie noch nicht im Restaurant gegessen hatte – hauptsächlich, weil Juliet immer wieder Gründe gefunden hatte, einer entsprechenden Einladung auszuweichen.

Diane erinnerte sich noch gut an ihr Einstellungsgespräch. Sie trug damals ein konservatives Tweedkostüm und hatte ihre hellblonden Haare hinten hochgesteckt. Das war einer der wenigen Fälle gewesen, wo sie ihr Gesicht gesehen hatte. Ihr strohblondes Haar, ihre helle Haut und ihre himmelblauen Augen machten sie fast zu einer ätherischen Erscheinung, ja, sie wirkte fast wie ein Engel. Wenn sie es darauf anlegen würde, könnte sie sich wohl vor Verehrern kaum retten. Stattdessen machte sie sich normalerweise fast unsichtbar. Meist legte sie es darauf an, immer in Deckung zu bleiben.

Diane und Kendel hätten sie wegen ihrer extremen Schüchternheit beinahe nicht eingestellt. Am Ende hatten ihre exzellenten Kenntnisse über das maritime Tierleben und speziell über Mollusken den Ausschlag gegeben. Mit ihrem Doktor in Meeresbiologie hätte sie eigentlich die Kuratorlaufbahn einschlagen müssen. Stattdessen zog sie es vor, Muschelschalen zu katalogisieren und Lehrmaterial für Schulen zusammenzustellen, beides Arbeiten, die man ganz allein erledigen konnte. Das Museum hatte also mit ihrer Einstellung ein gutes Geschäft gemacht.

Bis jetzt hatte es auch nur ein einziges seltsames Ereignis gegeben. Für Juliets ersten Arbeitstag hatte Andie einen Geschenkkorb zusammengestellt, wie sie es für alle neuen Mitarbeiter machte. Andie erstellte dabei jedes Mal regelrechte Kompositionen, deren Thema das Fachgebiet des Museumsneulings war, in Juliets Fall wählte sie Ozeane und Muscheln. Sie hatte also den Korb mit tropischen Früchten, muschelförmigen Schokoladenplätzchen, Austerndosen und farbigen Muschelschalen gefüllt und in dessen Zentrum inmitten von grünem Zelluloidgras und künstlichen Pflanzen, die wie Seetang aussahen, eine Puppe der kleinen Meerjungfrau Arielle aus dem Disney-Film plaziert. Es war ein wunderschöner Korb. Andie hatte ihn kurz vor Juliets Eintreffen auf deren Schreibtisch gestellt. Allerdings erzielte dieses Geschenk nicht die gewünschte Wirkung. Als Juliet es erblickte, schrie sie laut auf und wäre fast in Ohnmacht gefallen.

Hinterher war ihr diese Reaktion schrecklich peinlich. Kendel tröstete sie und erzählte ihr, dass sie selbst an ihrem ersten Arbeitstag so laut geschrien habe, dass selbst die Museumsmitarbeiter zwei Stockwerke höher erschrocken seien. Allerdings hatte Kendel geschrien, weil sie eine zusammengerollte große Schlange in ihrer Schreibtischschublade gefunden hatte, wohingegen das Objekt der Angst in Juliets Fall ein Geschenkkorb war.

Andie fühlte sich irgendwie schuldig, während alle anderen ganz einfach verblüfft waren. Diane fragte sich, ob Juliet vielleicht ein Stalker verfolgte, der ihr immer wieder ungebetene Geschenke machte. Sie fragte Juliet, ob sie vielleicht deswegen einen Job haben wolle, der keine große Aufmerksamkeit errege. Juliet versicherte ihr aber, dass dies nicht der Fall sei und dass sie nur einfach Angst vor neuen Puppen habe. Das war allerdings keine sehr befriedigende Erklärung. Diane vermutete, dass sie deshalb all die Zeit ein Essen mit ihr vermieden hatte.

Whitney Lester saß immer noch steif auf ihrem Stuhl. Es war ein einfacher ungepolsterter Holzstuhl, der nicht sehr bequem aussah. Diane fragte sich, ob Whitney ihn extra für ihre Untergebenen ausgesucht hatte. Jetzt nicht überinterpretieren, wies Diane sich selbst zurecht.

»An meinen bisherigen Arbeitsstellen war mein Führungsstil immer sehr effektiv«, sagte Lester mit vorgerecktem Kinn, bereit, ihren Status hier zu verteidigen.

»Das Bedrängen und Schikanieren von Mitarbeitern gehört nicht zu der Arbeitskultur, die wir in diesem Museum hier fördern wollen.«

Whitney Lester gab noch nicht auf. »Die Muscheln sind verschwunden, und kein anderer in dieser Abteilung hatte Zugang zu ihnen. Wer sonst könnte sie also gestohlen haben?«

»Sie«, sagte Diane.

Das hatte sie kalt erwischt. Sie atmete hörbar ein. Ihre Augen wurden so groß, dass Diane den gesamten weißen Ring um ihre Iris sehen konnte.

»Ich? Ich?«, stotterte sie.

»Sie haben selbst zugegeben, dass Sie die letzte Person waren, die sie im Tresorraum gesehen hat. Sie kennen den exakten Wert von jedem dieser Gegenstände. Sie haben es nicht der Sicherheitsabteilung gemeldet, und Sie wollten es augenscheinlich auch nicht der Museumsleitung mitteilen. Und Sie waren nicht ganz ehrlich, als Sie mir erzählten, nur Juliet habe Zugang zum Sicherheitsgewölbe, da Sie den ja ebenfalls haben.«

»Aber ich habe es nicht getan«, sagte sie. Sie hielt dabei die Armlehne ihres Stuhls so fest umklammert, dass ihre Knöchel ganz weiß wurden.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte Diane. »Ihre Beschuldigungen gegen Juliet Price könnten ja auch ein Ablenkungsmanöver sein.«

»Sie können doch nicht mich beschuldigen!«, rief sie aus und betonte dabei das Wort mich, als ob sie wie Cäsars Frau über alle Zweifel erhaben sei.

»Tatsächlich haben Sie Dr. Price diesen Diebstahl aufgrund von weit weniger Anhaltspunkten unterstellt, als ich gerade gegen Sie vorgebracht habe. Das könnte den Eindruck erwecken, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben.«

»Ich bin die Leiterin dieser Sammlung. Es ist Teil meines Jobs, alle Sammlungsstücke zu kennen. Deshalb kenne ich auch ihren Wert.«

»Und es gehört zu Dr. Price’ Aufgaben, diese Stücke zu erfassen, weswegen sie auch Zugang zum Tresorraum haben muss.«

»Aber ich weiß, dass ich diese Muscheln nicht entwendet habe«, legte Lester nach.

»Auch Dr. Price behauptet, sie nicht genommen zu haben«, konterte Diane.

»Das ist nicht richtig«, sagte Lester schließlich.

»Nein, es ist nicht richtig. Und es ist auch nicht richtig, Juliet Price zu bedrängen und zu beschuldigen. Ich sage Ihnen jetzt, wie wir weiter vorgehen werden. Sie verschaffen mir Fotos der vermissten Gegenstände, die ich dann an die Sicherheitsabteilung weiterleite. Deren Mitarbeiter werden dann jeden hier befragen. Das heißt aber nicht, dass irgendjemand Bestimmtes unter Verdacht steht. Und ich werde Andie bitten, Sie zu einem Managementkurs anzumelden. Dort werden Sie den Führungsstil kennenlernen, den wir hier in unserem Museum erwarten.«

»Managementkurs?«

»Ja. Sie haben vielleicht andere Vorstellungen über Menschenführung, aber solange Sie hier arbeiten, werden Sie sich unserer Arbeitsphilosophie anpassen müssen. Und jetzt holen Sie mir bitte diese Fotos.«

Whitney Lester stand auf und schien erst einmal nicht zu wissen, was sie jetzt tun sollte, so als ob sie ihre Niederlage eingestehen würde, wenn sie Dianes Anweisung folgte. Diane hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie sie so hart angefasst hatte, aber sie hatte sich so auf eine friedliche Zeit in der Muschelsammlung gefreut, und die hatte ihr Whitney Lester jetzt gründlich verdorben.

Diane stand nun ebenfalls auf und ging ins Nebenzimmer zu Juliet Price hinüber, die sich inzwischen nicht mehr den Bauch hielt. Stattdessen stand sie mitten im Raum, strich sich ihren grauen Cordrock glatt und versuchte, weder in Dianes noch in Whitney Lesters Richtung zu schauen. Diane sprach sie direkt an:

»Ihr Job ist sicher. Die Sicherheitsleute werden mit Ihnen sprechen wollen, also versuchen Sie, sich bitte an alles zu erinnern, was Sie über die fehlenden Gegenstände wissen.«

Juliet nickte. »Ja, Ma’am.«

»Haben Sie schon etwas gegessen?«

Juliet schüttelte den Kopf.

»Dann gehen wir jetzt ins Restaurant und holen unser Dinner nach, das wir schon so oft verschoben haben.«