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Diane hatte bereits bei der ersten flüchtigen Untersuchung im Lagerhaus festgestellt, dass die Knochen aus dem Keller von zwei Individuen stammten. Allerdings hatten die Explosion, das anschließende Feuer und danach McNairs Versuch, missliebige Beweismittel zu unterdrücken, dafür gesorgt, dass viele Knochen fehlten und die meisten noch vorhandenen zerbrochen waren. So gab es keine Handwurzel- und Fußwurzelknochen mehr. Ebenso fehlten die Endglieder der Finger und der Zehen. Tatsächlich waren alle kleineren Knochen der Skelette verschwunden.
Da es zwei Skelette waren, gab es mehrere Knochen doppelt.
Diane fand zwei linke Oberschenkelknochen, zwei Exemplare des ersten, neunten und elften Brustwirbels, zwei rechte Ellen, vier Hüftknochen und drei Schulterblätter. Sie versuchte gar nicht erst, die Skelettknochen zu trennen, sondern legte doppelt vorhandene Knochen einfach nebeneinander. Ergebnis war ein unvollständiges, seltsames Doppelskelett, das aus den Überresten von zwei Opfern dieser Explosion bestand.
Diane holte aus ihrem Sicherheitsgewölbe die Knochen, die ihre eigenen Leute aus dem Kellergeschoss des Gebäudes geborgen hatten und die sie bereits früher untersucht hatte, und legte sie auf einem anderen Tisch aus. Dabei verwendete sie nur diejenigen Knochenteile, deren Fundstelle definitiv feststand. Als Nächstes holte sie den teilweise rekonstruierten Schädel, da sie sich sicher war, unter den neuen Knochen weitere fehlende Teile zu finden.
Sie suchte aus den Lagerhausknochen alle Schädelfragmente heraus und begann, sie zusammenzusetzen. Dies war ein langer, mühseliger Prozess, von dem sie aber hoffte, dass er das Gesamtbild zu klären half. Als sie den hinteren Teil des zweiten Schädels zusammengefügt hatte, sah sie auf der Uhr an der Wand, dass es bereits früher Morgen war. Höchste Zeit aufzuhören. Sie ließ alles stehen und liegen und schloss die Tür ihres Labors hinter sich ab.
Sie entschied sich, den kurzen Rest der Nacht in ihrem Museumsbüro zu verbringen. Sie hatte schon öfter auf ihrer Couch geschlafen und hatte für solche Zwecke Decken und Kissen vorrätig. Neben ihrem Bürotrakt gab es auch eine Toilette, ein Badezimmer und einen Schrank mit Ersatzkleidung und Wäsche zum Wechseln.
Auf dem Weg in ihr Büro machte sie im Mitarbeiterzimmer halt und ließ aus dem Automaten einige Schokoriegel und Tütchen mit Erdnüssen heraus, die das ausgefallene Abendessen ersetzen sollten.
»Was machen Sie denn noch hier, Dr. Fallon?«, fragte sie der für den ersten Stock zuständige Nachtwächter.
»Arbeiten. Ich glaube, ich verbringe den Rest der Nacht in meinem Büro«, sagte sie.
»Das ist eine gute Idee. Es ist schon viel zu spät, um jetzt noch heimzufahren«, sagte er.
Diane ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Als sie ihr Büro betreten hatte, schloss sie von innen die Türen ab; für deren Schloss besaß nur sie einen Schlüssel.
Dabei musste sie die ganze Zeit an Izzy Wallace denken. Sie waren nie sehr gut miteinander ausgekommen, aber jetzt empfand sie großes Mitgefühl für ihn und seine Frau. Über den Verlust eines Kindes kam man niemals hinweg. Diese ganze Geschichte war eine einzige große Tragödie.
Als sie ihre Schokoriegel und Erdnüsse gegessen und deren Verpackung in den Papierkorb geworfen hatte, nahm in ihr plötzlich ein Gedanke Gestalt an, der bisher tief in ihrem Geist begraben gewesen sein musste. Die ganze Zeit hatten sie und Garnett angenommen, dass die Morde höchstwahrscheinlich begangen wurden, um Stanton und McNair zum Schweigen zu bringen und den geheimen Hintermann und Betreiber des Meth-Labors zu schützen. Jeder vermutete, dass Blake Stanton etwas mit dem Meth-Labor zu tun haben müsse, weil er offensichtlich vom Schauplatz der Explosion floh, als er Dianes Wagen zu rauben versuchte. Als dann die Museumsdiebstähle ans Licht kamen, änderte sich das wahrscheinliche Motiv für den Mord an Stanton. Jetzt schien er etwas mit seinen Diebereien zu tun zu haben.
Aber da gab es noch ein anderes, zwingenderes Motiv, das sie ernsthaft in Erwägung ziehen sollten: Rache für den Tod all dieser Studenten.
Die Explosion hatte in das Leben vieler Menschen auf eine Weise eingegriffen, über die sie niemals hinwegkommen würden. Sie konnte die tiefe Wut durchaus verstehen, die jemanden dazu bringen konnte, die Leute, die hinter dem Ganzen standen, auszulöschen.
Jin hatte recht, es waren wahrscheinlich die Zigarettenstummel des Mörders. Er – oder sie, wahrscheinlich allerdings er – hatte McNair verdächtigt und deswegen überwacht. Er hatte dann McNair in diesem Lagerhaus ausgespäht und gesehen, dass er Beweismittel vernichtete. Dies hatte ihn endgültig von dessen Schuld überzeugt.
Aber warum hatte der Mörder McNair überhaupt zu verdächtigen begonnen? Weil er mehr Geld ausgegeben hatte, als es sich ein Brandermittler eigentlich leisten konnte? Wenn aber jedermann wusste, dass seine Frau vermögend war, warum sollte das dann bei jemandem Verdacht erregen? Es musste also noch mehr Dinge geben, die auf ihn hinwiesen. Jemand wusste mehr über McNair, als die polizeilichen Ermittlungen bisher ergeben hatten. Anstatt allerdings diese Informationen den zuständigen Behörden mitzuteilen, hatte er ihn getötet.
Diane richtete ihre Couch her, schlüpfte in einen Trainingsanzug und kuschelte sich unter die Decke. Sie versank in einen unruhigen Schlaf und wachte am Morgen mit einem eigenartigen Angstgefühl auf. Unter der Dusche wurde ihr bewusst, dass es der Mord an Joana Cipriano war, der sie beunruhigte – und die seltsame Übereinstimmung der Hausnummern. Und obwohl Joana und Juliet sich, aus der Nähe betrachtet, gar nicht einmal gleichsahen, waren ihre bezeichnenden Ähnlichkeiten – das gleiche Alter, blonde Haare, blaue Augen – doch irgendwie beunruhigend. Aus der Entfernung sahen sie sich dann doch recht ähnlich. Allerdings gab es in dieser Stadt viele blonde, blauäugige junge Frauen. Und die Hälfte von ihnen arbeitet in meinem Museum, musste Diane denken. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, aber es wollte einfach nicht verschwinden, vor allem da sie nicht an solche Zufälligkeiten glaubte.
Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich ab und zog sich die Kleider an, die in ihrem Schrank hingen: ein brauner Leinenhosenanzug und eine cremefarbene Seidenbluse. Das war eigentlich für die Jahreszeit nicht warm genug, aber sie hatte vergessen, sie zu Beginn der kalten Jahreszeit gegen wärmere Kleidung auszutauschen. Sie faltete die Bettwäsche zusammen und schloss die Bürotüren auf. Sie saß bereits an ihrem Schreibtisch, als Andie Garnett ins Büro führte.
Garnett zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Es dauerte einige Sekunden, bis er zu sprechen begann. Diane bemerkte, dass er sehr viel ausgeruhter aussah, als sie sich fühlte.
»Das GBI wird Stadtrat Adler unter die Lupe nehmen und von jetzt an alle Untersuchungen im Meth-Labor-Fall durchführen«, sagte Garnett. »Der gute Mann ist total außer sich und geifert, dass das Ganze eine politische Intrige gegen ihn sei. Wenigstens ist er jetzt für die nächste Zeit beschäftigt und muss uns in Ruhe lassen.«
»Haben Sie das Gesicht des ersten Kelleropfers identifizieren können?«, fragte Diane.
Garnett nickte. »Einer unserer früheren Drogenermittler hat ihn erkannt. Sein Name war Albert Collier. Er wurde schon öfter wegen des Besitzes, des Handels und der Einnahme von Drogen verurteilt. Er war auch ein ehemaliger Bartram-Student. Wir vernehmen gerade seine ehemaligen Komplizen und versuchen herauszubekommen, wer die zweite Person in diesem Keller war. Ich hoffe, wir können Adler als Hintermann der ganzen Sache entlarven und damit diesen Hundesohn ein für alle Mal loswerden.«
»Und wie nimmt der Polizeichef dies alles auf?«, fragte Diane. Sie sah ihn noch vor sich, wie er da mit seinem schwarzen, pelzgefütterten Überziehmantel im Schnee stand und versuchte, es mit seinen Entscheidungen allen Beteiligten recht zu machen.
»Ich habe ihm gesagt, dass er bei seinem nächsten Museumsbesuch in Sack und Asche gehen und die Eingangsstufen auf den Knien hinaufkriechen sollte. Im Moment ist er hauptsächlich um seine Wiederwahl besorgt.«
Meine Stimme hat er bestimmt verloren, dachte Diane. »Um auf die Morde zurückzukommen …« Sie wollte auf keinen Fall, dass die wirkliche menschliche Tragödie hinter diesen ganzen politischen Winkelzügen verlorenging. »Kann es nicht sein, dass deren Motiv Rache für den Tod all dieser Studenten ist?«
»Morde im Plural? Sie schließen also den an Blake Stanton mit ein?«, fragte Garnett. »Wir glauben mittlerweile, dass er nichts mit dem Meth-Labor zu tun hatte und nur wie der Rest der Studenten ein unschuldig Betroffener war. Der Universitätsbibliothek fehlen ein paar wertvolle Bücher, und einige Fakultäten haben uns mitgeteilt, dass bei ihnen in letzter Zeit mehrere kleinere Gelddiebstähle vorgekommen sind. Soweit wir feststellen können, war dabei immer Stanton in der Nähe. Er hat also sein Geld mit diesen Diebereien verdient. Wieso glauben Sie dann immer noch, dass McNairs Mörder auch ihn umgebracht hat?«
»Wir haben doch auch aus seinem Versuch, mein Auto zu rauben, geschlossen, dass er in diese Meth-Labor-Sache verwickelt ist. Sein Mörder könnte dieselbe Vermutung angestellt haben. Als Stanton ermordet wurde, wussten wir noch nichts von seiner Rolle in den Museumsdiebstählen.«
»Wie sind Sie überhaupt zu dem Schluss gekommen, dass es ein Fall von Selbstjustiz gewesen sein könnte?«
»Als ich beobachtete, wie tief diese Tragödie alle Menschen in dieser Stadt erschütterte. Eine Mutter hat sogar versucht, Selbstmord zu begehen, aber auch alle anderen waren am Boden zerstört. Es war deshalb für mich leicht vorstellbar, dass jemand den Wunsch – den überwältigenden Wunsch – verspürte, die dafür Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die meisten wollen, dass auch in einem solchen Fall schließlich Gerechtigkeit geschieht. Und dann hat vielleicht jemand immer mehr den Eindruck bekommen, dass die Untersuchung behindert wurde und deshalb die Schuldigen straflos davonkommen könnten.«
Garnett seufzte und starrte auf den Schieferboden zwischen seinen Füßen. »Es wäre dann so eine Art Fememord. Ich muss zugeben, dass auch ich schon an so etwas gedacht habe. Ich kann allerdings nicht sagen, dass ich das mag. Ich würde ungern jemanden für etwas verhaften müssen, das ich unter bestimmten Umständen vielleicht selbst getan hätte«, sagte Garnett.
»Ich weiß«, sagte Diane. »Mir geht es ähnlich. Deshalb habe ich mich entschieden, nur noch Beweismaterial zu sammeln und es dann Ihnen zu übergeben. Aber eines sollten wir auch nicht vergessen. Wenn ich recht habe und die Rachegelüste eines Unbekannten hinter diesen Morden stecken, hat er sich bei Blake Stanton getäuscht. Der war wahrscheinlich an diesen Todesfällen unschuldig. Er war nur ein einfacher Dieb, der einen solchen Tod dann doch nicht verdient hatte.«
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Garnett.
»Ich rekonstruiere gerade den Schädel des zweiten Kelleropfers aus den Knochen, die wir in diesem Lagerhaus gefunden haben. Ich lasse es Sie wissen, wenn wir dessen Gesicht haben.«
Garnett nickte. »Ich war in letzter Zeit so damit beschäftigt, diesen Adler festzunageln, dass ich –« Er stand auf und zuckte die Achseln. »Ich muss zurück an die Arbeit. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Sie wollte ihn gerade bitten, das nicht zu tun, als sie dann doch darauf verzichtete. Nachdem er gegangen war, ging sie ins Kriminallabor. Nur David war da.
»Wie ging es gestern Nacht weiter? Habt ihr etwas schlafen können?«, fragte sie. Die Antwort darauf gaben die schweren Säcke unter seinen Augen.
»Nein«, sagte er. »Neva hat Jin heute Morgen heimgebracht. Sie meinte, sie werde dafür sorgen, dass er sich ein wenig ausruht.«
»Wie hat er die Nacht überstanden?«
»Gut. Er scheint okay zu sein. Er ist nur total sauer wegen dieser Zigarettenstummel, die man ihm gestohlen hat. Er ist überzeugt, dass sie den Fall gelöst hätten«, sagte David.
»Anscheinend glaubte der Täter das auch.«
David nickte und gähnte.
»Warum gehst du nicht heim und schläfst etwas?«, sagte Diane.
»Du hast doch auch nicht geschlafen. Ich habe den Schädel gesehen, den du gestern Nacht in deinem Labor rekonstruiert hast.«
»Tatsächlich habe ich ein paar Stunden geschlafen, und zwar in meinem Museumsbüro. Es war schön bequem. Ich lade dich jetzt zum Frühstück ins Restaurant ein und schicke dich dann nach Hause.«
»Das klingt großartig. Das ist eine gute Idee. Ich habe dir übrigens noch ein paar Knochen in dein Labor gelegt. Wir haben gestern Nacht vor allem die Knochen herausgesucht, da wir glaubten, dass diese im Moment wohl die besten Resultate erbringen. Frühmorgens hat uns dann Garnett mitgeteilt, dass von jetzt an das GBI das Beweismaterial untersuchen wird. Da hatten wir also die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin froh, dass sie sich von nun an damit herumschlagen müssen. Ich war wirklich nicht wild darauf, mich durch diesen ganzen Schutt hindurchzuwühlen.«
»Ja, es ist gut, dass sie das jetzt übernehmen«, stimmte Diane zu. »Ich widme mich heute diesem Schädel. Ich habe das Gefühl, dass Jin sein DNS-Labor bekommen wird.«
»Da ist etwas, was er wissen möchte, aber Angst hat, dich zu fragen«, sagte David.
»Was denn?«, erkundigte sich Diane.
»Bekommt er das Labor auch, wenn die Polizei den Fall löst?«
»Sie lösen ihn dann wahrscheinlich auf der Grundlage der von uns gelieferten Indizien. Also ja«, sagte Diane.
»Du hast dich schon entschieden, das Labor einzurichten, nicht wahr?«, fragte David.
»Wenn du das Jin erzählst, darfst du für den Rest deines Lebens nur noch Speckkäfer züchten.«
»Von mir wird er nichts erfahren«, sagte David.
Im Restaurant bestellte Diane für David und sich ein Riesenfrühstück. Es wurde langsam Zeit, dass sie sich nicht mehr nur zwischen Essen und Schlafen entscheiden konnte. Sie hatte zum Beispiel seit über anderthalb Wochen nicht mehr gejoggt. Vielleicht bot sich dafür an diesem Abend Gelegenheit.
Nach dem Frühstück schickte sie David nach Hause und ging in ihr Museumsbüro, um Juliets Großmutter anzurufen.