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Laura hatte es die Sprache verschlagen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und starrte Diane an.

Diane holte die Tonkassette, die Laura ihr geschickt hatte, aus der Tasche. »Hier, höre dir nur noch einmal den Teil des Gesprächs an, in dem sie dir über ihre Erinnerungen erzählte, und stelle dir dann immer, wenn sie von einem Raum voller Puppen spricht, den Schauplatz eines Massenmords vor.«

Laura schob die Kassette in ihren Rekorder, suchte die entsprechende Stelle auf dem Band und hörte dann aufmerksam zu. Am Ende dieser Sequenz stoppte sie das Band.

»Wenn man das unter diesem Gesichtspunkt anhört, dann klingt das wirklich unheimlich. Das muss ich zugeben«, sagte Laura.

»Und das Ganze ergibt mehr Sinn«, sagte Diane. »Man versteht dann die Angst, die sie in diesem Raum verspürte, und warum sie unbedingt davonlaufen wollte.«

»Das stimmt«, sagte Laura. »Aber …«

»Ich weiß. Ich habe ja gesagt, dass ich mich hier auf dünnem Eis bewege. Aber man sollte dem zumindest nachgehen.«

»Was hat dich überhaupt an Mordopfer denken lassen?«, fragte Laura.

»Eine Reihe von Dingen. In dem Leichenzelt gingen uns eine Zeitlang die Leichensäcke aus, und wir mussten die Opfer mit durchsichtigen Plastikplanen bedecken, bis neue Leichensäcke eintrafen. Wenn man dann diese verkohlten Leichen durch dieses Plastik ansah, war das, gelinde gesagt, eine grausige Erfahrung. Es erinnerte mich an einen Mord, der vor kurzem in Atlanta geschah. Der Täter hatte dort das Opfer in eine Plastikplane eingewickelt und dann eingemauert. Viele Mörder mögen Plastik, weil kein Blut heraussickern kann, wenn sie ihre Opfer richtig einpacken.«

»Mein Gott.« Laura schüttelte den Kopf, als wollte sie dadurch dieses schreckliche Bild vertreiben. »Kannst du das Ganze nach all den Jahren noch untersuchen?«, fragte sie. »Wüsstest du überhaupt, wo du anfangen musst? Ich möchte Juliet damit noch nicht belasten, vor allem da es im Moment ja noch reine Spekulationen sind.«

»Da stimme ich dir zu. Und, ja, ich kann es untersuchen. Zuerst gibt es da einige Fragen zu klären. Wir wissen, dass sie aus dem Garten ihres Elternhauses in Arizona entführt wurde, aber was machte sie in den Wochen vor dieser Entführung? Hielt sie sich daheim in Arizona oder woanders auf? Das kannst du sie doch fragen, oder nicht?«, sagte Diane.

»Wo sie war?«, wiederholte Laura die Frage. »Wieso glaubst du, dass sie eventuell nicht zu Hause war?«

»Wegen einer anderen Sache, die mir auf diesem Band aufgefallen ist«, sagte Diane.

»Ich muss zugeben, Diane, dass du aus diesem kurzen Gespräch viel mehr herausgeholt hast als ich«, sagte Laura. »Was ist dir noch aufgefallen?«

»Die Meerjungfraupuppe in Andies Geschenkkorb hat sicher Juliets Angstattacke ausgelöst, aber in diesem Korb lagen auch eine Menge bunter Meerestierschalen. Obwohl Juliet diese ja mag – sie ist eine Expertin für Mollusken –, könnte das Zusammentreffen dieser beiden Erinnerungsspuren Folgen gehabt haben.«

»Wieso das denn?«

»Weißt du, wo ihre Großmutter lebt?«, fragte Diane.

»Nein. Ist das wichtig?«

»Neben ihren angstbesetzten Erinnerungen hatte sie doch auch gute Erinnerungen an ihre Großmutter und daran, wie sie mit ihr am Strand Muscheln gesammelt hat. Sie kann aber keine Muscheln an einem Strand in Arizona gesammelt haben, da es dort ja überhaupt keinen gibt«, sagte Diane.

»Du glaubst also, dass alle diese Erinnerungen zeitlich zusammengehören«, sagte Laura.

Sie stand auf und holte aus einem kleinen Eisschrank zwei Dr. Pepper-Dosen und gab eine davon Diane. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich muss etwas trinken.« Sie schaute auf ihre Uhr.

»Hast du bald einen Termin?«, fragte Diane.

»In etwa fünfzehn Minuten. Mach weiter«, sagte Laura.

Diane öffnete die Dose und nahm einen Schluck. Das Getränk war eiskalt. »Zumindest werden die Erinnerungen durch Angst zusammengehalten.« Diane nahm noch einen Schluck.

»Schau, Laura«, fuhr sie dann fort. »Ich stelle hier keine unumstößlichen Behauptungen auf. Man sollte dem Ganzen nur einmal nachgehen. Ich stimme mit dir darin überein, dass man Juliet nichts davon erzählen sollte. Bisher sind das ja nur einige Ideen von mir, die sich erst noch erhärten müssen.«

»Also, ich muss zugeben, dass du mich ganz schön überrascht hast«, sagte Laura.

»Ich könnte mich aber immer noch irren und tue das wahrscheinlich sogar. Bei den anderen Fällen, die ich gerade bearbeite, habe ich auch noch kaum Fortschritte erzielt«, sagte Diane.

»Und warum bearbeitest du sie überhaupt? Ich dachte, dein Job sei das Untersuchen von Knochen und das Sammeln von Tatortspuren. Gibt es in Rosewood etwa einen Mangel an Kriminalpolizisten? Andererseits würde mich das auch kaum überraschen, wenn ich an Adlers Angriffe gegen unsere Polizei denke.«

»Ich begann, mich für die Lösung dieser Verbrechen zu interessieren, als Patrice Stanton meinen Wagen beschmierte«, sagte Diane.

»Diese Frau ist ganz offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf. Glaubt sie wirklich, dass du ihren Sohn getötet hast? Ich weiß, dass sie das behauptet, aber ich dachte, sie wolle dich nur anschwärzen, weil du diesen kleinen Autoräuber aus dem Verkehr gezogen hast.«

»Nein, sie glaubt wirklich, dass ich ihn umgebracht habe. Das einzig Gute ist, dass sie jetzt ihre Schmähanrufe eingestellt hat, weil sie denkt, ich hätte auch McNair getötet und sie sei nun als Nächste dran.«

Laura warf den Kopf zurück und lachte aus vollem Hals.

 

Draußen war es noch kälter geworden. Diane war froh, wieder in ihrem warmen Büro zu sein. Sie wollte gerade Garnett anrufen, als Andie an die Tür klopfte und den Kopf hereinstreckte.

»Sie haben ein paar Besucher von der dunklen Seite«, sagte Andie.

»Schicken Sie diese fremden Wesen herein«, sagte Diane.

David, Jin und Neva betraten ihr Büro, holten sich jeder einen Stuhl und setzten sich. Jin drehte seinen Stuhl herum, nahm ihn zwischen die Beine und lehnte seine Arme auf die Rückenlehne.

»Ist dies hier eine Art Protestdemonstration?«, fragte Diane. »Habe ich euch zu hart arbeiten lassen?«

»Wir sind gekommen, um uns den Schädel anzuschauen«, sagte David.

»Okay.« Diane nahm den Kristallschädel von ihrem Schreibtisch und reichte ihn David.

»Wow«, rief er aus. »Nicht schlecht.« Er drehte den Schädel in seiner Hand und streichelte dessen Oberfläche. »Ist er alt?«

»Das kann man nicht sagen«, antwortete Diane. »Bergkristall ist immer alt, deshalb lässt sich hier keine Altersbestimmung vornehmen. Auch die Bearbeitungsspuren lassen sich nicht analysieren. Sie könnten vor einem Jahrtausend entstanden sein, oder erst gestern, wenn jemand Kopien antiker Werkzeuge benutzt hat. Das ist Teil des Geheimnisses dieser Kristallschädel.«

»So etwas Schönes«, sagte David, bevor er den Schädel an Neva weiterreichte.

»Er würde besonders schön aussehen, wenn er von unten beleuchtet würde«, sagte sie. »Das wäre dann wirklich geheimnisvoll.«

»Das stimmt«, sagte Diane. »Wolltet ihr euch nur den Schädel ansehen, oder habt ihr noch etwas anderes auf dem Herzen?«

Neva gab Jin den Schädel, der ihn von allen Seiten betrachtete. Dann hielt er ihn gegen das Licht und schaute lange hinein.

»Wir stecken fest, Boss«, sagte er schließlich. »Wir dachten, dass uns vielleicht die Aura dieses Schädels beflügeln könnte …«

»Das stimmt doch überhaupt nicht«, protestierte Neva. »Wir wollten nur für kurze Zeit an etwas ganz anderes denken. Vielleicht haben wir dann hinterher eine Idee.«

»Mir geht es genauso«, sagte Diane. »Ich wollte gerade Garnett anrufen, als ihr hereinkamt.«

Sie hob den Hörer ab und wählte seine Nummer.

»Garnett«, meldete er sich.

»Hier ist Diane. Gibt es bei Ihnen etwas Neues? Wie geht es mit dem Stanton- und dem McNair-Fall voran?«

»Ich muss Ihnen etwas gestehen. Die Beweisspuren von der Explosion des Meth-Labors haben es nie ins Brandermittlungslabor geschafft, ich weiß nicht, wo sie sind.«

»Was? Hat McNair sie gestohlen? Glaubte er wirklich, dass er damit durchkommt?«

»Vielleicht hätte er uns erzählt, man habe seinen Lastwagen gestohlen. Jemand sei nachts in die Garage seines Labors eingedrungen und habe ihn dann weggefahren.«

»Er hat die Beweisspuren im Lastwagen liegen lassen? Warum hat sie keiner ausgeladen?«, fragte Diane. Ihre drei Kriminalisten beobachteten sie aufmerksam.

»Die Beweisspuren sind verschwunden?«, fragte David lautlos nur durch die Bewegung seiner Lippen.

Diane nickte.

»Ich weiß auch nicht«, seufzte Garnett, »die Untersuchung der Explosion kommt so natürlich kaum noch voran. Sie können sich sicher vorstellen, wem man jetzt die Hölle heißmacht.«

»Ich hoffe, dem Polizeichef.«

»Genau dem. Ich glaube, er fühlt sich gerade ziemlich alleingelassen«, sagte Garnett. »Aber wir bekommen auch ganz schön was ab.«

»Wir haben ein paar Informationen über Stanton, die für Sie vielleicht nützlich sein könnten.«

»Tatsächlich? Schießen Sie los«, sagte Garnett.

»Warum kommen Sie nicht im Kriminallabor vorbei? Dann könnten wir unsere Informationen teilen.«

»Teilen?«

»Ich bin ebenso an einer Lösung dieser Fälle interessiert wie Sie. Ich habe das Gefühl, dass Stadtrat Adler immer etwas gegen mich in der Hand haben wird, wenn wir das hier nicht aufklären. Ich weiß, dass ich nicht wirklich verdächtig bin, aber dieser Typ arbeitet doch sowieso nur mit Gerüchten und Unterstellungen und nicht mit Tatsachen«, sagte Diane.

»Ich bin gleich da«, sagte Garnett.

»Wir warten auf Sie.« Sie legte auf. »Okay, Leute, vielleicht kommt jetzt doch etwas Bewegung in die Sache.«

Diane und ihr Team erledigten im Labor dringende Arbeiten, während sie über eine Stunde lang auf Garnett warteten. Diane schaute auf die Uhr.

»Ich glaube, man hat uns versetzt«, sagte sie dann.

Als sie gerade ihr Handy aus der Jackentasche geholt hatte, um ihn anzurufen, vibrierte es in ihrer Hand. Sie schaute auf die Anruferkennung. Garnett.

»Sind Sie im Verkehr steckengeblieben?«, fragte sie.

»Sie haben in einem Lagerhaus an einer abgelegenen Straße am Stadtrand McNairs Lastwagen und die Beweisspuren gefunden – völlig unversehrt. Sie und Ihr Team sollten sofort dorthin kommen.«