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Was um alles in der Welt haben Sie zu ihr gesagt?«, fragte Mrs. Torkel, als sie ihrer Enkelin zu Hilfe eilte.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Diane. Sie kniete sich neben das von Panik ergriffene Mädchen, das jetzt allerdings in eine Art Starre oder Trance gefallen zu sein schien. »Juliet, können Sie mich hören?«

Keine Antwort. Juliets Atem ging rasend schnell.

»Mein seliger Mann hatte manchmal auch solche Anfälle. Nach dem Krieg fand ich ihn dann und wann draußen auf dem freien Feld, wo er sich vor dem Feind versteckte, wie er sagte. Er zog mich dann zu sich herunter, und wir versteckten uns beide im hohen Gras«, sagte Mrs. Torkel. »Sie hat einen Flashback. So sieht das für mich aus. Lieber Gott im Himmel, wir dachten, sie würde einfach alles vergessen, und dann wäre sie wieder völlig in Ordnung.«

»Können wir irgendwie helfen?«

Diane schaute ganz kurz hoch und sah, dass sich einige Museumsbesucher um sie versammelt hatten. Sie wusste nicht, wer von ihnen ihr seine Hilfe angeboten hatte.

»Vielen Dank, aber nein. Bitte schauen Sie sich nur weiter unser Museum an. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei.«

Juliet saß einige Minuten da, ohne sich zu bewegen. Diane und Mrs. Torkel sagten kein Wort. Juliets Atmung verlangsamte sich wieder, und Diane hatte den Eindruck, dass sie allmählich zurückkam, wo auch immer sie gewesen war. Nach einigen weiteren Minuten versuchte sie aufzustehen. Diane und Mrs. Torkel halfen ihr auf und geleiteten sie durch die Besucherschar hindurch ins Labor. Diane bemerkte, dass Mrs. Torkel einige von ihnen mit den Ellbogen aus dem Weg stoßen musste.

Die beiden führten Juliet zu einem Stuhl, wo sie sich setzte und den Kopf hängen ließ. Diane holte ihr etwas frisches kaltes Wasser. Als sie es Juliet reichte, sah sie Whitney Lester im Türrahmen ihres Büros stehen und die Szene mit einem befriedigten Grinsen beobachten.

»Stehen Sie nicht so da, rufen Sie lieber die Sanitätsstation an«, herrschte sie Diane an. Lester verging ihr Lächeln, und sie verschwand in ihrem Büro.

»Was ist los, Kind?«, fragte die Großmutter ihre Enkelin. »Wo bist du gewesen?«

»Ich weiß es nicht. Ich rannte nur plötzlich durch das Gebüsch, und ein Mann verfolgte mich bis in dein Haus, Großmutter. Es war alles so … so wirklich.«

In diesem Moment kam Mrs. Pierce, eine der Krankenschwestern des Museums, herbeigeeilt, und Diane erklärte ihr ganz kurz, was geschehen war. Mrs. Pierce hatte eine herzliche, mütterliche Art. Ihre besondere Begabung war das Trösten von Kindern, die sich verletzt hatten oder denen übel geworden war. Sie fühlte Juliet den Puls und berührte ihre Haut.

»Ihr Puls ist etwas beschleunigt, aber ihre Haut ist nicht feucht.« Sie leuchtete ihr mit einem kleinen Licht in die Augen. »Sie sind okay. Das Ganze sieht nach einem Angstanfall aus. Ist Ihnen das schon früher einmal passiert?«, fragte sie.

Juliet nickte.

»Sind Sie deswegen bei jemandem in Behandlung?«, fragte die Schwester nach.

Juliet nickte erneut.

»Gut«, sagte Mrs. Pierce. »Ich empfehle Ihnen, sich den Rest des Tages zu schonen. Das wird schon wieder. Aber Sie sollten die Person anrufen, bei der Sie in Behandlung sind, und ihr das hier erzählen.«

»Das werde ich, danke.«

»Vielen Dank, Mrs. Pierce«, sagte Diane.

»Dafür bezahlen Sie mich ja.« Sie lächelte und verließ das Labor.

»Das war so dumm von mir«, sagte Juliet.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, widersprach Diane. »Fühlen Sie sich wieder stark genug, um mir einige Fragen zu beantworten?«

»Klar.«

»Konnten Sie erkennen, wie der Mann aussah, der Sie verfolgt hat?«, fragte Diane.

»Er sah gemein aus. Er hatte einen schwarzen Spitzbart und schwarze glatte Haare.«

»Wissen Sie, warum er hinter Ihnen her war?«, fragte Diane weiter.

»Nein. Das, was Sie da gesagt haben, warum haben Sie das eigentlich zu mir gesagt?« Sie schaute Diane ängstlich an, als ob diese das absichtlich getan haben könnte.

»Sie meinen den Satz mit dem Wort, vor dem Sie solche Angst hatten?« Diane bemühte sich, das Wort nicht noch einmal auszusprechen. »Ich habe ihn gehört, als ich eine Freundin in der Bibliothek suchte. Dort waren Studenten am Lernen, und dann habe ich diesen Satz gehört. Aus irgendeinem Grund habe ich ihn mir gemerkt, wahrscheinlich, weil er ja fast eine Art Zungenbrecher ist. Dieses Wort ist so ungewöhnlich, dass ich erstaunt war, es innerhalb so kurzer Zeit zweimal zu hören. Warum hat es bei Ihnen diesen Flashback verursacht?«

»Flashback … wie bei Opa? Ich weiß es nicht.« Sie schaute verwirrt. »Dieser Mann hat es gesagt«, setzte sie dann hinzu.

»Zu Ihnen?« Diane konnte sich nicht vorstellen, warum jemand zu einer Siebenjährigen ein solches Wort sagen sollte.

»Nein, aber … Ich weiß nicht, zu wem er es sagte. Ich habe es ihn nur sagen hören. Die Art, wie er es sagte, hat mir Angst gemacht. An mehr kann ich mich nicht erinnern, tut mir leid«, sagte Juliet.

»Sagte er nur dieses eine Wort oder den ganzen Satz?« Diane hielt das zwar für höchst unwahrscheinlich, aber warum war sie dann so ausgeflippt, als Diane vorhin diesen Satz rezitierte?

»Den Satz. Er sagte den ganzen Satz, so wie Sie es vorhin getan haben, und dabei schaute er mich an«, sagte Juliet.

»Er schaute Sie an? Wirklich Sie persönlich?«, fragte Diane.

»Nein. Ich bin mir nicht sicher …« Juliet sah aus, als ob sie gleich wieder in Panik verfallen würde.

»Das ist schon recht. Lassen wir das jetzt. Warum gehen Sie mit Ihrer Großmutter nicht in unser Restaurant? Setzen Sie sich in eine ruhige Ecke, trinken Sie etwas Kühles und essen etwas Ordentliches«, sagte Diane. »Ich bringe Sie beide hin.«

»Ich glaube, wir beide könnten etwas zu essen vertragen«, stimmte ihre Großmutter zu. »Ich wette, du hast heute noch nichts Richtiges gegessen, oder, Liebes?«

Diane führte sie zu den Aufzügen, und sie fuhren alle zum Restaurant hinunter. Diane bat die Empfangsdame, sie an ihren Platz zu setzen, was ein Code dafür war, dass die Rechnung anschließend an Diane gehen sollte.

»Genießen Sie Ihr Essen. Wenn Sie fertig sind, schicke ich jemanden, der Sie nach Hause fährt.«

»Ich kann selbst fahren. Mir geht es gut, wirklich«, sagte Juliet. »Es war nur dieser verdammte Satz.« Sie versuchte ein Lächeln.

Dann wandte sich Ruby Torkel an Diane. »Behalten Sie die Puppe. Und passen Sie auf, dass sie Ihnen keiner abnimmt!«

»Ich passe schon auf.«

Diane versuchte ihr erst gar nicht zu erklären, dass ihre Sicherheitsleute in erster Linie dafür sorgen sollten, dass niemand etwas Gefährliches in das Museum brachte.

»Ist das die Puppe, die ich angeblich gestohlen haben soll?«, fragte Juliet. Sie berührte das Päckchen mit den Fingerspitzen. »Ich erinnere mich nicht einmal an ihr Aussehen.«

»Möchtest du sie einmal sehen?«, fragte ihre Großmutter.

Juliet zog blitzartig ihre Hand zurück, als ob sich das Päckchen plötzlich in eine Schlange verwandelt hätte. »Nein … ich glaube, ich habe heute schon genug Aufregung verursacht. Wir sollten es vielleicht auf einen Tag verschieben, an dem im Museum nichts los ist.« Sie zwang sich ein Lächeln ab.

»Erinnern Sie sich an etwas, das Juliet Ihnen sagte, als sie Ihnen damals die Puppe zeigte?«, fragte Diane Mrs. Torkel.

»Oh, sie hat sie mir ja gar nicht gezeigt. Ich habe gesehen, wie sie mit ihr spielte. Sie meinte dann nur, die Puppe habe ein Geheimnis. Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind. Immer erfinden sie Geschichten. Ich fragte sie dann, woher sie sie habe, aber sie wollte es mir nicht sagen. Sie sagte wieder nur, dass das ein Geheimnis sei. Als ich sie dann aufforderte, die Puppe zurückzugeben, behauptete sie, ein Freund habe sie ihr gegeben. Da habe ich sie ihr dann weggenommen und ihr gesagt, sie dürfe nicht mit etwas spielen, was ihr nicht gehöre, und dass niemand ein so hübsches Spielzeug einfach so hergäbe.«

Juliet hörte ihrer Großmutter mit gerunzelter Stirn zu. »An nichts davon kann ich mich erinnern.«

»Na ja, Schatz, du warst ja auch erst sieben«, sagte Mrs. Torkel.

»Ich lasse Sie beide jetzt in Ruhe und schaue mal, was es Neues gibt. Juliet, Sie können sich den Rest des Tages freinehmen«, sagte Diane. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Päckchen erst in meinem Büro öffne?«

»Kein Problem«, sagte Juliet. »Machen Sie nur.«

Diane verließ sie und brachte das Päckchen in ihr Büro.

»Hey, Andie. Irgendwas Neues?«, fragte Diane, als sie an deren Büro vorbeikam.

»Nur das Übliche. Jemand hat erzählt, in der Fischausstellung sei etwas passiert?«, fragte sie.

»Hier spricht sich eben alles schnell herum. Das war nur eine Lappalie. Ich werde jetzt eine Weile in mein Büro verschwinden.«

»FIM?«, fragte Andie.

FIM war Andies Abkürzung für »Feuer im Museum«, was bedeutete, dass sie Diane nur im äußersten Notfall stören würde.

»Nicht ganz so drastisch, aber schauen Sie trotzdem erst einmal, ob Sie es nicht allein erledigen können«, erwiderte Diane.

Danach setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schaute erst einmal kurz das Päckchen an, bevor sie es auspackte. Die Puppe war in beinahe neuem Zustand. Es war ein hübsches Exemplar mit Kopf, Händen und Füßen aus Porzellan und einem Stoffkörper. Auf dem Köpfchen hatte sie kurze schwarze Locken und ein reichverziertes grünes Seidenmützchen. Ihr grünes Seidenkleidchen hatte einen weißen Pelzbesatz. An den Füßen trug sie weiße Söckchen und Laschenschuhe aus echtem Leder. In einer Hand trug sie einen weißen Pelzmuff, der durch ein Gummiband festgehalten wurde, das in den Muff eingenäht und dann um ihr Handgelenk geschlungen war. Es war eine hübsche, aber keinesfalls besonders teure Puppe. Dianes Schwester sammelte Puppen, so dass sich Diane ein wenig auskannte.

Diane lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fixierte mit den Augen ihren Tischbrunnen und das Wasser, das über dessen kleine Steine floss. Palimpseste wurden hauptsächlich aus Pergament oder Papyrus hergestellt. Das war wirklich ein seltsamer Satz. Was genau bedeutete er eigentlich – über seine wörtliche Bedeutung hinaus? Diane wusste, was ein Palimpsest war, aber sie schaute doch noch einmal in ihrem Lexikon nach.

Palimpsest: Eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder -rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde.

Diane wusste, dass es in früheren Zeiten keineswegs unüblich war, das Werk eines früheren Autors durch Abschaben oder Waschen zu löschen und dann auf dasselbe Pergament – beziehungsweise in der Antike denselben Papyrus – einen anderen Text zu schreiben. Manchmal ließ sich das frühere Werk sogar noch entziffern. Ihr Chefkonservator Korey Jordan hatte erst vor kurzem auf einem mittelalterlichen Pergamentpalimpsest die frühere Schrift wieder lesbar gemacht.

Warum sollte aber ein Mörder oder Kindesentführer einen Satz wie diesen benutzen? Welche Bedeutung konnte er in einem solchen Zusammenhang haben?

Allerdings war es für sie noch weit mysteriöser, wie sie diesen Satz – und es musste ja der exakt gleiche Satz gewesen sein – in der Bibliothek hatte hören können. War er vielleicht viel häufiger, als sie gedacht hatte? Sie setzte sich an ihren Computer, ging ins Internet und gab bei Google genau diesen Satz in Anführungszeichen ein. Kein einziger Treffer. Danach löschte sie die Anführungszeichen und versuchte es erneut. Sie erzielte eine Menge Treffer, aber bei keinem kamen die Wörter in einer Kombination vor, die auch nur entfernt dem Ausgangssatz geähnelt hätte. Auch ihre Suche beim Projekt Gutenberg verlief ergebnislos. Anscheinend handelte es sich dabei also um kein häufig verwendetes Zitat. Wer hatte das in der Bibliothek überhaupt gesagt? Sie schloss die Augen und versuchte, sich an die Stimme zu erinnern. War sie weiblich? Sie war sich fast sicher.

Aber es war wohl kaum vorstellbar, dass diese Person den Satz vor zwanzig Jahren in Florida geäußert hatte. Aber konnte dies eine rein zufällige Übereinstimmung sein? Ihre Überlegungen wurden von ihrem Haustelefon unterbrochen.

»Entschuldigen Sie, Dr. Fallon. Es ist David. Ich dachte, Sie möchten sein Gespräch vielleicht doch entgegennehmen.«

»Vielen Dank, Andie. Stellen Sie ihn durch.«

»Diane, ich habe in Arizona und Florida nach diesen Morden gesucht, aber nichts gefunden. Auch als ich das Suchgebiet vergrößerte und die Zeit davor und danach berücksichtigte, war nichts zu finden, was zu deinen Angaben passen würde. Tut mir leid.«

»Danke, David. Wenn ich auf irgendwelche neue Variablen stoße, bitte ich dich vielleicht, die Suche noch einmal zu wiederholen.«

»Kein Problem.«

Sie legte den Hörer auf.

»Verdammt«, sagte sie laut vor sich hin. »Ich war mir so sicher.«

Sie hielt die Puppe vor ihr Gesicht und schaute ihr tief in ihre dunklen Augen. Diese Puppe hat ein Geheimnis? Für Diane konnte das nur eine Sache bedeuten. Sie hob ihr Kleidchen hoch und untersuchte die Nähte ihres Stoffkörpers.