ERSTES KAPITEL

Treibsand

Westliche Wüste

Libyen

16. Mai 1942

 

Der Sandsturm kam kurz nach Mittag von Süden. Ihm war ein heißer Wind vorausgegangen, den die einheimischen Araber einen qibli nennen. Dieser glühende, alles verschlingende Hauch scheint direkt aus den Tiefen der Hölle zu wehen. Er verbrennt und erstickt alles, was mit ihm in Berührung kommt. Qiblis hatten sie schon früher überstanden. Ganze Tage gingen darüber hin, an denen man nichts anderes tun konnte, als diese Folter zähneknirschend zu ertragen, zu fluchen, zu schwitzen, möglichst stillzuliegen – und das bei Temperaturen bis zu 65 Grad Celsius.

Den zweiten Tag kämpften sie nun bereits gegen den aktuellen qibli an, als Corporal Skinner einen Fluch vom Stapel ließ, so lästerlich, dass er damit die heiße Luft hätte in Flammen setzen können.

»Ich glaub diese verdammte Scheiße einfach nicht!«, waren die ersten verständlichen Worte, die dann folgten. Diesen Satz hatte er schon so oft ausgestoßen, dass zunächst keiner Notiz davon nahm.

»Lieutenant«, sagte er dann, »ich denke, Sie sollten sich mal aufsetzen und einen Blick riskieren.«

Lieutenant Usherwood stöhnte und arbeitete sich unter der niedrighängenden Tarnplane hervor, wo sie Schutz gesucht hatten.

»Sorry, Sir. Ich war eben pinkeln. Ich dachte, das sollten Sie sehen.«

»Was denn?«, fragte der Kommandeur in müdem Ton.

Skinner streckte die Hand aus. Am südlichen Horizont verschwand die Mittagssonne gerade hinter dunklen, fast schwarzen Wolken, die sich über den Wüstensand heranwälzten. Gerald Usherwood griff nach seinem Fernglas und blickte in die gewiesene Richtung. Natürlich, das waren keine Wolken, sondern gewaltige Schwaden von Sand am ganzen Horizont von Ost nach West, die ein immer stärker werdender Wind genau in ihre Richtung trieb.

»Alle Mann in die Fahrzeuge!«, befahl der Lieutenant. »Das wird in ein par Minuten hier sein!«

»Bis zum Sammellager ist es nicht allzu weit, Skipper. Sollten wir nicht versuchen zurückzukommen, solange es noch geht? Die Vorräte werden knapp, und die Sache kann Tage dauern.«

Usherwood schüttelte den Kopf.

»Das ist zu riskant. Wir könnten uns leicht verirren. Nachts können wir die Funkpeilung nicht benutzen, und auf den Sonnenkompass möchte ich mich bei einem solchen Sturm nicht verlassen. Wir haben genügend Zeit, ins Lager zurückzukehren, wenn es vorüber ist. Schaffen Sie schnell noch ein paar Essgeschirre in die Wagen.«

Der Sammelpunkt für ihre Patrouille aus zwei Fahrzeugen lag in etwa 150 Kilometern Entfernung bei Rebiana. Von ihrem Basislager in der Oase Kufra waren sie als Kommando von sechs Chevrolets gestartet. Aber die zwei LKWs unter Lieutenant Usherwoods Befehl waren dann auf der Suche nach Quellen weiter nach Westen tief in das Sandmeer von Rebiana vorgestoßen. Die Übrigen hatten nach Norden auf Taiserbo zugehalten, weil es hieß, deutsche vorgeschobene Einheiten betrieben dort Aufklärung hinter den britischen Linien.

Etwas Großes braute sich zusammen. Zwei Wochen zuvor war in Kairo nur davon die Rede gewesen. Selbst bis nach Kufra, dem westlichen Hauptquartier der LRDG, das man erst vor einem Jahr von den Italienern erobert hatte, sickerte etwas durch.

Gerüchte wollten wissen, Rommel plane, längs der Ghazala-Linie an der Küste vorzustoßen. Jeder, der diese verteidigen wollte, hatte das Problem, dass er sich mit einer Flanke an die See anlehnen und jeden Angreifer zurückschlagen konnte. Aber in südlicher Richtung verlor sich die Frontlinie in der offenen Wüste, die bis ins tiefe Afrika reichte. Dort konnten die Deutschen alle Verteidigungsanlagen umgehen und den Briten in den Rücken fallen. Patrouille R suchte nun nach leichten deutschen Truppen, die in der Gegend umherstreifen konnten, während Usherwoods Sandboys einen Weg noch weiter westlich suchten, als bisher je ein britischer Soldat vorgedrungen war.

Ihr Ziel waren Brunnen, vor allem eine Oase namens Ain Suleiman, Salomos Quelle genannt, die ein verlorenes Paradies sein sollte. Zahllose Legenden rankten sich um diesen verwunschenen Ort. In der Überlieferung der Beduinen hieß es, von ihr sei das Wasser für die magische Stadt Wardabaha gekommen, die König Salomo einst in der Wüste errichtete und von der nach arabischer Tradition aller Zauber ausgeht. Ein blau verschleierter Tuareg aus dem Fezzan behauptete, es gebe sie immer noch, und sie sei von einem Stamm seiner Brüder, einem Zweig der Kel Ajjer von Ghat, bewohnt. Aber kein Forscher der modernen Zeit hatte den Ort je zu Gesicht bekommen. Auf keiner Karte war er verzeichnet, es sei denn im Kopf mancher Leute, wo seine Koordinaten ständig wechselten. In der Royal Geographical Society machten seriöse Männer in Schlips und Kragen ihre Witze über Ain Suleiman und die verborgene verwunschene Stadt.

Aber Gerald Usherwood glaubte daran. Er hatte genügend Tamasheq gelernt, um mit den Tuareg in ihrer eigenen Sprache zu verkehren, was von den Herren in Schlips und Kragen niemand konnte. Gerald hatte Vertrauen zu den Wüstenbewohnern gefasst. Ain Suleiman sei immer noch da, meinten sie, aber niemand wisse den Weg dorthin. Es liege im schlimmsten Teil der Wüste, sei nicht einmal mit Kamelen erreichbar und vielleicht schon völlig versandet. Er spürte, dass sie etwas vor ihm verbargen. Er nahm an, sie wussten den Weg genau, hielten es aber für klüger, sich nicht mit Italienern, Deutschen oder Briten einzulassen. Wenn sie etwas geheim hielten, so glaubte er, dann mussten sie gute Gründe dafür haben.

Kaum hatten sie ihre Sandbrillen aufgesetzt, da schlug der Sturm auch schon zu. Soeben noch unter blauem Himmel, fanden sie sich plötzlich wie in dickem Nebel wieder, wo man kaum noch fünf, sechs Meter weit sehen konnte.

Bei fest verschlossenen Türen und Fenstern wehrten die Fahrzeuge die schlimmste Wirkung des Sandsturms ab, aber der Staub, fein wie Puder, kroch durch jede Ritze und jeden Spalt, die er finden konnte. Nach und nach legte er sich als feine Schicht auf alles in der Kabine. Jedermann schlang seine Gutra, das traditionelle arabische Kopftuch, so fest um den Kopf, wie er nur konnte. Doch der Sand war nicht aufzuhalten. Er fand seinen Weg hinter die Schutzbrille, in Ohren, Nase und Kehle, durch die Uniform bis in die Stiefel der Soldaten, wo er heftig scheuerte.

Gerald hatte schon so viele Sandstürme hinter sich, dass er in seiner Lunge eine ganze Wüste vermutete. Er wusste, dass man nichts anderes tun konnte, als den knirschenden Sand zwischen den Zähnen zu ignorieren, die tränenden Augen geschlossen zu halten und das Ganze auszusitzen. Dieser Sturm aber war einer der schlimmsten, den er je erlebt hatte, das wurde ihm sofort klar. Er konnte einen Tag dauern oder auch eine Woche. Niemand vermochte das genau zu sagen.

Alle Männer der Patrouille waren alte Hasen, die sich mit Wüstenwinden auskannten. Zur LRDG wurde keiner genommen, der nicht mit ein paar Unannehmlichkeiten zurechtkam. Die Briten, Neuseeländer, Australier oder Inder gehörten allesamt zu der merkwürdigen Art Mensch, der die leeren Weiten und die glühende Hitze der Sahara mehr bedeuteten als ihre Heimatorte, ob nun die Home Counties bei London, das neuseeländische Wellington oder das indische Calcutta. Sie suchten geradezu diese Ruhe, aber auch die überall lauernde Gefahr. Da saßen sie also und warteten, bewahrten Funkstille, sangen die neuesten Hits und erzählten sich Geschichten von alten Schlachten, die sie geschlagen, und Frauen, die sie im Bett gehabt hatten.

Der Sturm tobte drei Tage lang. Am dritten Tag kurz nach sechs Uhr morgens war er dann abrupt vorbei.

»Danken wir Gott dafür«, sagte Gerald. Zu Hause in Gloucestershire hatte er keine Zeit für Gott übrig. Zur Kirche ging er nur, weil er der Gutsherr am Ort war und wusste, dass er auf seinen Namen und die Familie Rücksicht nehmen musste. Aber hier in der Wüste, wo man so unendlich weit blicken konnte und nachts das ewige Licht endloser Galaxien vom Himmel strahlte, hatte er den Weg zum Glauben gefunden. Wäre er nicht mit der Church of England aufgewachsen, dann wäre aus ihm wohl ein fanatischer, asketischer Moslem geworden, dessen Herz die Rauheit dieser Gegend gehärtet hatte.

Auf jedem der beiden LKWs war über dem Armaturenbrett ein Sonnenkompass montiert. Zusammen mit den neuesten Navigationstafeln der Royal Air Force bei Tag und den Theodoliten bei Nacht gab der Sonnenkompass den Patrouillen die Möglichkeit, sich in bislang auf keiner Karte erfasstem Gelände zu bewegen. Im Handumdrehen hatten sie sich wieder orientiert. Etwas länger dauerte es schon, die Fahrzeuge aus dem angewehten Sand auszugraben und für den Start Sandmatten auszulegen. Dann klopften sie sich gegenseitig ab, so gut es ging, und nahmen ihre Fahrt in Richtung Westen wieder auf.

Eine Kette riesiger Dünen, jede um die hundert Meter hoch, drängte sie von der geplanten Route weiter nach Süden ab. Sie rollten durch eine völlig unbelebte Gegend unter einem grausamen Himmel, an dem kein Flugzeug, ja nicht einmal ein Vogel sich zeigte. Irgendwo im Norden war ein Krieg im Gange, aber hier glaubte man, dass alle Kanonen schwiegen. Es war, als hätte der Krieg sein Ende gefunden, und nichts sei geblieben als diese Ödnis und der allgegenwärtige Tod.

Es dämmerte schon, als Staff Sergeant Chippendale, der Beifahrer und Schütze auf Geralds Chevrolet, einen leisen Pfiff ausstieß. Max Chippendales größte Begabung, die ihn auch zur LRDG gebracht hatte, war sein Adlerblick. Mit dem Feldstecher suchte er ständig den Horizont vor ihnen ab, vor allem, wenn sie den Kamm einer Düne erreicht hatten und sich langsam auf deren Westflanke hinabrollen ließen.

Aufgeregt packte er den Fahrer beim Arm.

»Halt die Karre an, du Trottel!«, rief er aufgeregt. »Weary« Leary, der Kiwi aus Neuseeland, den Gerald sich von Patrouille T ausgeliehen hatte, riss das Steuer herum, womit er das Fahrzeug direkt vor dem steilen Abhang zum Stehen brachte.

»Was ist los?«, fragte der Lieutenant von hinten.

»Bin mir nicht sicher, Chef. Da vorn ist etwas. Einen Moment noch.«

Chippendale, der vor dem Krieg Professor für Altphilologie in Oxford gewesen war, prüfte immer wieder das weite Land, das vor ihnen lag. Dabei kräuselte er die Lippen und murmelte etwas kaum hörbar vor sich hin. So war es, wenn etwas Chips Chippendale sehr erregte. Er reichte Gerald das Glas, der es nahm und damit hinaus auf die Düne sprang.

»Mittlere Entfernung, Chef. Sieht aus, als hätten wir es gefunden.«

Das hatten sie in der Tat. Sie hielten direkt auf die Oase zu. Wäre der Sturm nicht gewesen, dann hätten sie sich weiter nördlich auf ihrer alten Route bewegt und wären glatt daran vorbeigefahren.

»Ain Suleiman«, flüsterte Gerald. »Salomos Quelle.«

Er ahnte nicht, was dort noch im Wüstensand vergraben lag. Ein Geheimnis, viel größer als nur eine Oase oder eine versunkene Stadt, Unheil verkündender als eine Wüstentrasse zum Sieg in einem Krieg, tödlicher als Rommels Panzer oder alle Bataillone von Hitlers Reich.

Ein Windstoß trieb weiter unten an der Westflanke der großen Düne den Sand vor sich her. Gerald stieg wieder ein.

»Wir wollen hinunterfahren und uns das anschauen«, sagte er.

Leary schwang das Steuerrad wieder herum, legte den ersten Gang ein, ließ den Chevrolet sachte über den Dünenkamm kippen und langsam nach unten rollen.

Ain Suleiman erwartete sie, eingehüllt in jahrhundertelanges Schweigen, die fernste aller Ansiedlungen, wo Menschen lebten.