Der Gang war so lang, dass ihre Lampen sein Ende nicht erleuchten konnten. Durch die Bilder, die sie in dem ersten Raum entdeckt hatten, aufmerksam geworden, achteten Ethan und Ilona nun mehr auf die Wände. Hier oben hingen keine Porträts. Stattdessen gab es in schwarzen und vergoldeten Rahmen Darstellungen zu verschiedenen Themen. Ein Gemälde zeigte eine Taube, von deren Körper und Flügeln goldene Strahlen ausgingen wie vom Heiligen Geist auf einem Kirchenbild. Auf einem anderen war ein Kelch zu sehen, aus dem Flügel wuchsen und ein Kreuz aufragte, wo eigentlich der Kopf des Vogels hätte sein müssen. Darüber flatterte eine zweite Taube auf. Ein schwerer schwarzer Rahmen umgab das Bild einer Sphinx unter einem fünfzackigen Stern, das wie ein Stich aus dem 18. Jahrhundert wirkte. Daneben hing eine gerahmte Fahne, etwa 70 mal 30 Zentimeter groß, die ein rotes Hakenkreuz auf gelbem Grund trug, das von vier roten Lilien umgeben war. Darunter von Hand die Inschrift »Burg Werfenstein, 1907. Liebenfels«. Eindeutig dominierten religiöse und okkulte Themen.
Sie öffneten Tür auf Tür, die allesamt in dunkle, kalte Räume führten. Sie konnten nicht jeden einzelnen untersuchen. Die Zeit lief ihnen davon. Es würde nicht mehr lange dauern, bis jemand sie bemerkte und nachschauen kam, was hier vorging.
Im siebenten Zimmer stießen sie auf eine völlig andere Szene. Auf einem Tisch beim Fenster brannte eine Petroleumlampe. Hinter dem Kamingitter glomm ein schwaches Feuer, das der kalten Luft ein wenig Wärme gab. Der Raum war völlig leer bis auf ein niedriges Rollbett. Unter einer Decke lag zusammengekauert eine Frau.
Ethan brauchte einige Zeit, bis er sie erkannte. Kurzgeschnittenes schwarzes Haar stand wirr nach allen Seiten, grüne Augen blickten erschrocken auf, die Wangen waren fahl mit einem grünlichem Schimmer. Sie starrte ihn an, bewegte sich von ihm fort, war offenbar zu Tode erschrocken und erkannte ihn nicht.
»Sarah«, sagte er, so sanft er konnte, um sie nicht noch mehr zu ängstigen. »Ich bin’s, Ethan. Ich bin gekommen, um dich hier herauszuholen.«
Der Schrecken schwand nicht völlig aus ihrem Blick, aber sie starrte ihn nur noch an, als lägen Welten und Jahre zwischen ihnen, nicht die kurze Zeit, die vergangen war, seit man sie entführt und von England nach Rumänien gebracht hatte.
Er wandte sich Ilona zu.
»Nehmen Sie bitte Jacke und Schal ab und öffnen Sie Ihr Haar. Sie muss erkennen, dass Sie eine Frau sind, die ihr nichts Böses will.«
Ilona tat, wie ihr geheißen. Langsam, mit einem Lächeln ging sie auf Sarah zu und sprach sie mit leiser Stimme an. Einmal glaubte sie, Sarah würde gleich aufschreien. Sie lächelte weiter und streckte die Arme nach ihr aus.
»Ich tue Ihnen nichts«, sagte sie.
Als Ilona vor ihr stand und eine Hand hob, um sie an der Wange zu berühren, zuckte Sarah zurück.
»Es wird alles gut, Sarah«, sagte sie. Ilona musste mit ihrer eigenen Unsicherheit fertig werden. Sie konnte sich nicht vorstellen, was die junge Engländerin in diesen Zustand gebracht hatte.
Plötzlich fuhr eine Hand unter der dünnen Decke hervor, und Sarah packte Ilona am Arm.
»Macht, dass sie mir nichts mehr tun«, sagte sie. »Haltet Lukács zurück, damit er das nicht mehr mit mir macht.« Sie presste die Worte hervor, dann versagte ihr die Stimme, und sie wurde von einem Schluchzen geschüttelt.
Ilona hielt den Atem an. Sie wagte nicht zu fragen, wer dieser Frau das angetan hatte. Sie trat ganz nah an Sarah heran, legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. Beide verschmolzen fast miteinander. Ilona war nie vergewaltigt worden, aber mehrere ihrer Freundinnen hatten Derartiges erlebt, und sie wusste, was es aus den Frauen machte.
»Sarah«, sagte sie dann, »wir sind gekommen, um dich von hier fortzuholen. Niemand wird dir mehr etwas tun. Ethan ist hier … dein Freund.«
Jetzt wagte sich Ethan etwas näher heran. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie mit ihr gemacht hatten. War Aehrenthal noch hier? Oder sein widerlicher Gefolgsmann Lukács? Konnten sie Sarah hier herausholen, ohne dass ihre Entführer aufmerksam wurden?
»Sarah, meine Liebe«, flüsterte er. »Ich bin’s, Ethan. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen.«
Ihre Augenlider zuckten, und zum ersten Mal sah Ethan etwas Hoffnung in ihrem Blick.
»Ethan?«
Sie hauchte das Wort kaum hörbar.
»Ja, meine Liebe, ich hol dich hier raus.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er hat gesagt …, er bringt mich um, wenn ich wegzulaufen versuche. Sie haben mir … die Kleider weggenommen … Er hat gesagt, die Kälte …«
»Die Kälte wird dich umbringen, wenn du ohne Kleider zu fliehen versuchst«, sagte Ilona. »Wir müssen dich erst einmal wärmen.«
»Was können wir tun?«, fragte Ethan.
Ilona blickte erst Sarah, dann Ethan und schließlich sich selbst an.
»Ethan«, sagte sie. »Sie und ich haben warme Oberkleidung und auch etwas Wärmendes darunter. Ich schlage vor, Sarah bekommt meine Jacke und Ihre Hose. Wenn wir uns beeilen …«
Ethan streifte seine dicke Oberhose ab und gab sie Ilona. Die warf ihm einen strengen Blick zu, bis er begriff und sich umdrehte. Als sie Sarah aufdeckte und die vielen blauen Flecke auf ihrem nackten Körper sah, entfuhr ihr ein Schreckenslaut. Sie half ihr in Hose und Jacke. Die passten einigermaßen.
»Was ist mit ihrem Kopf?«, fragte Ethan. »Sie wird viel Wärme verlieren, wenn sie barhäuptig hinausgeht.«
Ilona runzelte die Stirn. Dann packte sie die Decke und riss ein Stück davon ab. »Daraus mache ich einen Turban für dich«, sagte sie. Sie wickelte den Streifen Stoff um Sarahs Kopf, zog ihn straff und steckte das Ende fest. Eine bizarre, aber durchaus brauchbare Kopfbedeckung.
»Und die Füße?«, fragte Ilona. Jetzt wurde Ethan klar, dass sich Sarah die nackten Füße sofort erfrieren würde.
»Auch das muss mit der Decke gehen«, sagte er. »Reißen Sie sie in Streifen …«
»Da habe ich eine bessere Idee. In dem ersten Raum haben wir doch ein Paar Seidenschuhe gesehen. Wenn sie ihr passen, dann umwickeln wir sie mit Streifen aus der Decke, und sie wird zumindest warme Füße haben.«
»Sarah«, fragte Ethan nun, »wie viele Personen halten sich in dem Schloss auf? Kannst du uns das sagen?«
Während der kurzen Zeit, seit sie sie gefunden hatten, war Sarah etwas zu sich gekommen. Ihre Augen lebten auf. Sie blickte Ethan direkt an und zuckte die Achseln.
»Der, den sie Egon nennen. Und der Unhold namens Lukács, der mir jedes Mal schrecklich weh tut, wenn er mich vergewaltigt.« Ihre Augenlider zuckten, und sie kämpfte mit den Tränen. »Dazu noch ein paar andere, vielleicht vier. Eine Frau hat mir etwas zu essen gebracht. Sie ist alt und hält euch bestimmt nicht auf.«
Aber sie konnte schreien und die anderen alarmieren, dachte Ethan bei sich.
»Lasst uns gehen«, sagte er. »Je länger wir hier warten, desto eher kann jemand auftauchen.«
Sie ließen die Lampe brennen und schoben Sarah auf den Gang hinaus. Sie konnte sich nur unter Schmerzen bewegen. Jeder Schritt machte ihr bewusst, was man ihr angetan hatte.
Sie huschten in den Raum, in dem sie zuerst gewesen waren. Ilona fand die Schuhe. Sie nahm sie in die Hand und stellte dabei fest, dass sie aus feinem Leder gemacht und mit einer persischen Stickerei verziert waren. Als Sarah hineinschlüpfte, wurde klar, dass sie damit nicht weit kommen würde. Ethan riss den Rest der Decke in Streifen, wie Ilona ihn geheißen hatte. Sarah setzte sich in einen Sessel, und er band die Pantoffeln fest. Es war nicht gerade eine bequeme Fußbekleidung, aber bis zu dem Pony konnte sie damit gehen und dann den Rest des Weges reiten.
So geräuschlos wie möglich schlichen sie zu der großen Treppe zurück. Jeden Augenblick konnten sie entdeckt werden. Ethan musste innehalten, um die Batterien in seiner Lampe zu wechseln, wobei ihm Ilona mit ihrer leuchtete. Sarah zitterte, als bringe sie der Ausbruch aus der falschen Sicherheit des kleinen Zimmers in noch größere Gefahr.
Plötzlich heulte – offenbar innerhalb des Schlosses – ein Wolf. Ethan spürte, wie er innerlich erstarrte. Ilona, die Sarah untergehakt hatte und ihr in den unförmigen Schuhen vorwärts half, fuhr zusammen. Sie war ihr Leben lang mit Wölfen vertraut, fürchtete sie aber instinktiv.
»Wo bin ich?«, fragte Sarah. Seit sie ihr Gefängnis verlassen hatte, begann ihr Kopf wieder zu arbeiten. »Ich weiß, dass ich nicht in England bin. Aber wo dann?«
Ethan sagte es ihr so konkret, wie er es für angebracht hielt. Sarah hörte ihm zu, verstand auch seine Worte, konnte ihnen aber keinen Sinn entnehmen. Wie war sie nach Rumänien, nach Transsilvanien gekommen? Sie war in Woodmancote gewesen. In einem Kamin hatte Feuer gebrannt. Ethan war an einem düsteren Ort eingeschlossen worden, wo es nach Verwesung roch. An der Wand fiel Ilonas Lichtstrahl auf ein Bild, das ein Gerippe mit einer großen Sense zeigte. Ilona bemerkte Sarahs Blick.
»Tarokk«, sagte sie. »Wie heißt das auf Englisch?«
»Tarot«, antwortete Ethan. »Die dreizehnte Karte des von Wahrsagerinnen benutzten Major Arcana. Der Tod.«
»Woher weißt du solche Sachen, Ethan?«, fragte Sarah. Ihre Stimme klang jetzt fast normal. Als wollte sie ihn necken.
»Von einer Freundin«, sagte er. »Sie hat vor jeder Entscheidung die Karten befragt. Wir waren nicht lange zusammen.«
»Ich wundere mich über gar nichts mehr.«
Vorsichtig stiegen sie die Haupttreppe bis zum ersten Absatz hinab. Da flammte ohne Vorwarnung direkt über ihnen eine Lampe auf, dann eine zweite und noch mehrere, bis das ganze Treppenhaus in elektrischem Licht lag. Es wurde von einem Generator gespeist, flackerte und war nicht sehr hell, aber es reichte aus, um sie sichtbar zu machen, als seien sie auf einer Bühne ins Scheinwerferlicht getreten.
Eine halbe Minute lang passierte gar nichts. Dann heulte wieder der Wolf, jetzt sehr nah, und Ethan hörte unten Fußgetrappel. Sarah machte sich von Ilona los und presste sich fest an Ethan. Er zog die Pistole aus dem Halfter und verbarg sie hinter seinem Rücken. Nun, da er wusste, was mit Sarah geschehen war und was zweifellos auch Ilona erwartete, würde er nicht zögern, sie zu benutzen.
Aus dem Seitengang, durch den Ethan und Ilona gekommen waren, traten drei Männer. Zugleich schritt einer die Stufen herab, die sie gerade gegangen waren, und ein fünfter tauchte auf der anderen Seite auf. Sie waren groß, mit kurzgeschorenem Haar und trugen alle eine Art schwarzer Uniform. Ethan blickte sich rasch um. Es waren starke Kerle mit grimmigen Gesichtern, gestählt nicht in Fitness-Studios, sondern eher in den umliegenden Bergen.
Am Fuße der Treppe erkannte er den Mann, der mit Aehrenthal in Woodmancote gewesen war. Aber nicht Lukács zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es war der graue Wolf, der an der Leine in Lukács’ Hand zerrte und die Eindringlinge anknurrte.
Der Kerl rief etwas, ob einen Befehl oder eine Aufforderung, konnte Ethan nicht verstehen. Ilona übersetzte.
»Er hat gesagt, der Wolf hätte den ganzen Tag nichts zu fressen bekommen. Er wird Ihre Kehle zerfleischen und Sie dann mit Haut und Haaren verschlingen.«
»Sagen Sie ihm, er soll seine blöden Sprüche lassen. Und fragen Sie ihn, wo Aehrenthal ist.«
Als sie tat, wie ihr geheißen, ließ Lukács nur ein lautes Lachen hören, womit er die anderen ansteckte, denen die Sache wohl Spaß zu machen begann.
Wieder nahm Lukács das Wort. Von allen Seiten blickten die Porträts, die nun in vollem Licht lagen, auf sie herab. Die Fahnen schienen in einer ganz eigenen Welt und Zeit zu wehen. Ethan sah, wie die ursprünglichen Herren des Schlosses ihnen mit ihren Blicken folgten, ohne Unruhe oder die Begierde der Menge, die nach Blut dürstet. Wenn der Wolf über sie herfiel, dann war das das römische Publikum, gewohnt, dem Sterben anderer Menschen zuzuschauen.
»Er will, dass Sarah und ich allein zu ihm hinunterkommen sollen«, sagte Ilona. Sie hielt sich tapfer, aber damit hatte sie wohl nicht gerechnet, als sie einwilligte, Ethan zu diesem Schloss zu begleiten. Sarah neben ihr erschauerte und machte sich ganz klein, als könnte sie dadurch unsichtbar werden.
»Sagen Sie ihm, es ist vorbei«, erklärte Ethan fest. »Sagen Sie ihm, dass es keine Vergewaltigungen mehr geben wird. Sagen Sie ihm, wenn er Druck macht, wird jemand sterben. Ich habe keine Zeit für ihn. Eine Frau zu schlagen und ihr Gewalt anzutun ist ein Kapitalverbrechen. Wir verlassen dieses Schloss, gehen nach Sâncraiu und zurück in unser altes Leben. Damit ist die Sache für mich erledigt. Machen Sie ihm das klar.«
Mit unsicherer Stimme übermittelte Ilona dem Mann Ethans Botschaft, so gut sie konnte. Während sie sprach, grinste Lukács in einem fort. Und starrte Ilona dabei an, als schätze er sie ab. Dann verschwand das Grinsen, und er blickte sie an, dass es sie wie heißer Stahl durchfuhr.
Im nächsten Moment flüsterte er dem Wolf etwas zu und ließ ihn von der Leine. Der heulte auf und war mit zwei Sprüngen bei Ethan, das Maul weit aufgerissen, bereit, die Zähne in seine Kehle zu schlagen.
Ethans erster Schuss traf ihn in den Kopf, der zweite in die Brust, als das Tier schon fast über ihm war. Der Wolf wurde mitten im Sprung gestoppt und fiel Ethan direkt vor die Füße, leblos, mit heraushängender Zunge, die sich langsam rot färbte.
Ethan hatte nie gelernt, wie man einen Wolf abwehrt. Aber bei der Polizeiausbildung hatten sie einen Tag lang geübt, was zu tun war, wenn man von einem Kampfhund oder von einem Mann mit einem Pitbull an der Leine angegriffen wurde. Dabei galt eine einfache Regel: Nicht den Mann anschauen, sondern die Hand, die die Leine hält. Genau das hatte Ethan getan.
Äußerlich kühl, wandte er sich Ilona zu.
»Die nächste Kugel ist für ihn. Sagen Sie ihm das. Wenn er uns gehen lässt, bleibt dieser Wolf das einzige Opfer. Wenn nicht, ist er selber schuld.«
Das Töten des Wolfes stieg Ethan zu Kopf. Eine halbe Sekunde später, und das Vieh hätte ihn bei der Gurgel gepackt. Aber da stand er, lebend und unversehrt mit einer Pistole in der Hand. Fast musste er über das Absurde der Szene lächeln. Ohne nachzudenken, schritt er nun die Stufen hinunter, die Beretta auf Lukács gerichtet. Er hatte noch achtzehn Schuss im Magazin. Das stärkte sein Selbstvertrauen.
Auf halbem Wege hörte er plötzlich hinter sich einen Schrei und dann einen zweiten. Er fuhr herum und sah, dass die beiden Männer, die am oberen Ende der Treppe gestanden hatten, heruntergelaufen waren und Sarah und Ilona gepackt hatten. Sie hielten Messer an ihre Kehlen. Von unten brüllte Lukács etwas mit wütender Stimme.
»Sie sollen die Pistole herunternehmen, Ethan, sagt er, oder sie töten mich und verletzen Sarah.«
Ilona versagte vor Angst fast die Stimme. Sarah neben ihr hing ohnmächtig in den Armen des Mannes. Verzweifelt blickte Ethan um sich. Sie saßen in der Falle. Selbst wenn es Ilona gelingen sollte, sich loszureißen und mit ihm zu fliehen, war immer noch Sarah in ihrer Gewalt.
»Ilona«, rief er. »Sagen Sie ihm, wenn er Sie gehen lässt, nehme ich die Waffe weg. Sie sind nur eine Bergführerin. Sie haben mit der Sache nichts zu tun.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Die vergewaltigen mich zuerst. Und dann …?«
Er sah, wie sie zusammenrutschte, als verliere auch sie das Bewusstsein. Der Mann, der sie hielt, packte sie fester, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Nach wie vor hielt er sein Messer dicht an ihre Kehle. Es blitzte auf und kam in Bewegung.
Ethan sah das Blut schon vorher, zumindest schien es ihm später so. Da war plötzlich ungeheuer viel Blut. Aus einer Arterie spritzte es als hellroter Strahl heraus. Es befleckte den Boden und einen der Wappenschilde. Selbst eines der Ahnenbilder wurde bespritzt. Das Ganze lief ohne einen einzigen Laut ab, als habe ein Stummfilm plötzlich Farbe angenommen.
Dann sah Ethan, wie die Arme des Mannes ihren Griff lösten, wie er nach hinten fiel und Ilona weiterhin aufrecht stand, ihr blutiges Jagdmesser in der rechten Hand.
Haben Sie jemals so ein Messer benutzt? Das sieht ja furchterregend aus. Damit können Sie glatt einen Ochsen aufspießen …
Sie hatte es aus der langen Tasche an ihrem Hosenbein gezogen, das Messer mit der 25-cm-Klinge, und sich zusammensacken lassen, um den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann hatte sie das Messer in seine Leistenbeuge gestoßen und nach oben gezogen, bis sie auf Knochen stieß. Ilona ging zur Jagd, seit sie sieben Jahre alt war. Das letzte Mal lag erst zwei Wochen zurück. Aber einen Menschen hatte sie noch nie getötet. Gewissensbisse kamen ihr dabei nicht.
Der zweite Mann stand fast neben ihr und hielt Sarah fest umschlungen. Er hatte ein Messer wie sein Bruder und war an das Töten von Menschen gewöhnt. Ein Kind und zwei Frauen gingen auf sein Konto. Trotzdem wurde er jetzt ein wenig nervös. Er hatte strikten Befehl, der Frau, die er gepackt hielt, kein Haar zu krümmen. Sie war für Egon wichtig. Man konnte ihr zwar die Kleider vom Leibe reißen und mit ihr spielen, aber verletzen durfte man sie nicht. Das stand nur Egon zu, allein oder mit Lukács’ Hilfe. Der Mann kam zu dem Schluss, sie sei zu schwach, um wegzulaufen. Er ließ sie los und fuhr herum, um seinen Bruder zu rächen, der auf den Stufen ausblutete.
Er schwang sein Messer, ein Bajonett aus dem Ersten Weltkrieg, gegen Ilona. Er war viel größer als sie, aber nicht viel älter. Er spreizte die Beine, um sich auf sie zu werfen, ihre Hand mit dem Messer auszuschalten, sie umzustoßen. Zwar bestürzt über den Tod seines Bruders, bewahrte er einen kühlen Kopf, hob sich auf die Ballen, kniff die Augen zusammen, atmete tief durch und setzte zum Sprung an. Ilona wich nicht von der Stelle, wusste jedoch, dass er sie überwältigen würde, wenn er sprang. Sie war eine erfahrene Jägerin, hatte aber noch nie einen Zweikampf bestehen müssen.
Als er zum Absprung in die Knie ging, schoss ihn Ethan zweimal in die Schläfe. Noch mehr Blut strömte auf die Stufen und über Sarah. Der große Kerl schwankte, drehte sich und fiel zu Boden.
»Fragen Sie Lukács, wo Aehrenthal ist«, sagte Ethan zu Ilona. Die zitterte stark. Ethan dagegen war tief ergrimmt. Seine Stimme klang jetzt erbarmungslos. Sarahs Anblick hatte ein Feuer in ihm entfacht. Ihr Zustand, die Art und Weise, wie Aehrenthal und dessen Männer mit einer schönen, intelligenten Frau umgesprungen waren und sie zu einem Schatten ihrer selbst erniedrigt hatten. Er hatte schon oft in seiner Laufbahn mit Vergewaltigungsopfern zu tun gehabt, Frauen jeden Alters, sogar Kindern. Aber was man Sarah angetan hatte, erschien ihm einzigartig. Es war, als hätte sie sich dabei selbst verloren, wäre zu einer anderen, zu einem benutzten Gegenstand geworden.
Ilona konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen. Sie nahm sich zusammen und übersetzte Lukács Ethans Frage. Der lachte nun nicht mehr. Er nahm sich Zeit, als erwarte man eine weniger schnoddrige Antwort von ihm. Schließlich presste er einige Sätze hervor. Ilona nickte.
»Er sagt, Aehrenthal sei nicht da, und Sie verschwenden Ihre Zeit. Er sagt, wenn Sie hier lebend herauskommen wollen, sollen Sie die Waffe wegnehmen und ich mein Messer auf den Boden legen. Er sagt, Sie hätten sich in tiefes Wasser gewagt. Darin werden Sie ertrinken. Er sagt, wenn Sie Sarah nicht mitnehmen, dann lässt er Sie gehen. Sie weiß zu viel, sagt er.«
»Sagen Sie ihm, er soll verstehen, dass ich nicht bis hierher gekommen bin, um Sarah jetzt zurückzulassen. Ich werde noch mehr Männer erschießen, sagen Sie ihm das.«
Dabei fragte sich Ethan, wie viele Leute Aehrenthal wohl in diesem Schloss stationiert hatte und wie lange es dauern konnte, bis auf die Schießerei weitere Männer gelaufen kamen.
Lukács rief seine verbliebenen Spießgesellen zu sich und begann die Treppe heraufzusteigen. Dabei knurrte er und warf Ilona etwas auf Ungarisch hin.
»Er sagt, er hätte Ihr Weib schon ein Dutzend Mal gehabt, und er wird sie sich jetzt vor Ihren Augen nehmen, bevor er Sie erledigt.«
Ethan behielt Lukács scharf im Auge. Hoffte er, dass er mit seinen Kumpanen ihn und die beiden Frauen so einschüchtern konnte, dass er nachgab?
Lukács aber hatte etwas anderes im Sinn. Das Letzte, was Ethan von einem Mann seiner körperlichen und geistigen Schwerfälligkeit erwartet hätte, war ein so rascher Schachzug. Bevor Ethan auch nur reagieren konnte, war Lukács die Treppe heraufgestürmt, an Ethan vorbei, der zu spät schoss und ihn verfehlte, und hatte sich auf Sarah gestürzt. Er packte sie beim Genick, ließ ihre Arme frei, drehte sie Ethan zu und benutzte sie als lebenden Schild. In seinen Armen wirkte sie wie ein Kind. Dabei brüllte er Ilona etwas zu, die rasch und mit brüchiger Stimme übersetzte.
»Er sagt, er tötet sie, er bricht ihr das Genick. Wenn Sie die Waffe jetzt nicht herunternehmen, tut er es. Ethan, er meint es ernst.«
Aber Lukács tötete Sarah nicht. Dazu hatte er keine Gelegenheit mehr. Sarah erstach ihn, leicht und im nächsten Augenblick. Das lange Bajonett ihres ersten Peinigers war direkt neben ihr zu Boden gefallen. Danach hatte sie es an sich genommen. Als Lukács sie packte und Ilona seine Drohung zubrüllte, griff Sarah das Messer mit beiden Händen und rammte es ihm von unten in die Kehle. Das tat sie so heftig, dass die Klinge ihm durchs Gehirn fuhr und am Hinterkopf austrat. Die Beine knickten ihm ein, und wie ein geschlachteter Ochse klatschte er auf die Stufen. Alles Menschliche war von ihm gewichen. Die beiden Männer, die Lukács gefolgt waren, wagten keinen Angriff mehr, sondern flohen Hals über Kopf in die Tiefe des Schlosses.
Ethan trat zu Sarah. Sie ließ die Waffe fallen. Sie war fertig mit alledem, mit den Männern, die sie hierhergebracht und ihr solche Gewalt angetan hatten.
»Bring mich fort von hier, Ethan«, sagte sie. »Bring mich nach Hause.«