Der Gedanke an die Hölle mit Reihen aufgestellter Särge ließ Sarah keinen Augenblick los. Sie konnte sich einfach nicht von dem Anblick des Mausoleums voller Spinnweben befreien, der Grabstätten, der finalen Dunkelheit in jenem stickigen Raum. Es gelang ihr nicht, den Gedanken daran zu unterdrücken, was Ethan dort geschehen war. Dieser Schlag auf den Kopf, das dumpfe Geräusch, als die Tür des Totenhauses zugeschlagen wurde, das Knirschen, als der Schöne den Schlüssel im Schloss drehte. Was sie hatte erleben müssen und vielleicht noch erleben musste, war nichts gegen Ethans schreckliches Schicksal. Vielleicht hatte der Schlag ihn ja getötet, und das wäre noch die beste Lösung, dachte sie bei sich. Aber sie kam nicht von der Vorstellung los, wie er in der Finsternis erwachte, begriff, wo er sich befand, wie er langsam und qualvoll sterben würde, vielleicht gar den Verstand verlor, bevor es mit ihm zu Ende ging.
Ein Schauer überlief sie. Sie drehte sich etwas, um den Schmerz in ihren Beinen zu lindern, aber er wurde dadurch nur noch schlimmer, und sie musste ihre ursprüngliche Position wieder einnehmen. Der Deutsche hatte ihr eine Spritze gegeben, als sie ihre Aktion im Gartenhäuschen beendet hatten, und ihr war schwarz vor Augen geworden. Dann kamen die Träume, Alpträume, ja, mehr als das, eine Art Hölle ohne Flammen, ein Gang durch eine Unterwelt von Furcht und Elend. Als sie daraus erwachte, fand sie sich an eine Art schmaler Holztafel gefesselt. Je wacher sie wurde, desto mehr schmerzte ihr Körper und die Erinnerung kehrte zurück, vor der es kein Entrinnen gab.
Die Wirkung des Mittels, das sie ihr gegeben hatten, verflog, aber die Nachwirkungen blieben. In ihrem Kopf hämmerte es, ihr Hirn fühlte sich an, als hätte ein Meisterkoch es in dünne Scheiben geschnitten, ihre Haut juckte, als tanzten zehntausend Spinnen der Hölle darauf eine Tarantella, ihr Magen rebellierte, als hätte man ihr mit Gewalt vergifteten Wein eingeflößt.
Aber keine dieser Beschwerden quälte sie auch nur halb so sehr wie die Schmerzen und das Brennen, das sie zwischen den Beinen verspürte. Sie kniff die Augen zusammen, um die Bilder der Vergewaltigung zu vertreiben, die erneut in ihr hochkamen. Ihr Herz stach, als sie immer deutlicher wurden, als sei jeder dieser ekelhaften Augenblicke in ihrem Körper gespeichert.
Von »der Vergewaltigung« konnte keine Rede sein, denn sie hatten es abwechselnd viele Male getan. Wie oft, wusste sie nicht mehr, aber die Qual, mit Gewalt, gegen ihren Willen genommen zu werden, der widerliche Körpergeruch des großen Mannes, die mechanischen Stöße, das Bewusstsein, dass dies nicht zu jemandes Vergnügen geschah, sondern als reine Demütigung und Warnung – all das hatte ihr würgendes Entsetzen verursacht, sie taub gegen jedes Gefühl gemacht, einen Akt, den sie früher genossen hatte, in eine monströse Handlung verwandelt.
Der Deutsche (wenn er denn einer war) hatte ihr mehrfach erklärt, dies sei alles nur ein Vorgeschmack davon, was sie erleben werde, wenn sie nicht mitspiele. Wohin sie gingen, so sagte er, warteten weitere Männer, die das Gleiche mit ihr machen würden, wenn sie gerade Lust darauf hätten. Man werde sie nackt in ein Verlies werfen, wo sie ihnen jederzeit zur Verfügung stehen müsse. Sie würden sie einzeln, zu zweit, meist aber in Gruppen aufsuchen.
Bis sie voll mit ihm kooperiere.
»Was soll ich denn tun?«, hatte sie gefragt. »Wie kann ich kooperieren?«
Darauf meinte er nur, das habe Zeit und werde sich klären.
Im Schlafzimmer des Gartenhäuschens hatten sie ihr zum ersten Mal Gewalt angetan. Mit einem Knebel erstickten sie ihre Schreie. Sie hatten sie auf dem Bett festgebunden, und wenn sie den Kopf drehte, konnte sie durchs Fenster das Haupthaus wie einen Schatten in der Dunkelheit sehen. Die Schreie fanden nur noch in ihrem Kopf statt. Sie fragte sich, ob einer der beiden AIDS habe.
Als sie mehr und mehr zu sich kam, wurde ihr klar, dass sie auf einer Trage festgeschnallt war und in einer Art Krankenwagen gefahren wurde. Sie lag allein in dem Transportabteil, aber wenn sie den Kopf hob, sah sie ein Fensterchen mit Vorhang, hinter dem sich die Fahrerkabine befinden musste. Nach langem Bemühen, ihren körperlichen Zustand etwas zu erleichtern, gelang es ihr, den rechten Unterarm frei zu bekommen. Größe und Typ des Wagens deuteten darauf hin, dass es ein privates Fahrzeug war. Brachten sie sie in ein Krankenhaus oder eine Klinik? Bei dem Gedanken wurde ihr eiskalt. Was hatten sie mit ihr an einem solchen Ort vor?
Das Wagenfenster auf der rechten Seite war mit einer Jalousie verschlossen. Die Schnur lag außer Reichweite, aber mit frischer Kraft reckte und drehte sie sich so lange, bis ihre Finger sie erreichten und daran ziehen konnten. Sie zog die Jalousie gerade so weit hoch, um durch den Schlitz hinausschauen zu können. Der Wagen drosselte gerade das Tempo.
Sie erblickte ein Stück Straße, an deren Rand alte Autos parkten. In der Gegenrichtung ratterte ein Eselskarren vorbei, dann kamen sie an einer Reihe fremdartiger Geschäfte vorüber. Über einem konnte sie das Wort Macelarie entziffern. Sie hatte keine Vorstellung, welche Sprache das sein sollte. Die Häuser blieben zurück, und der Wagen bog in einen schmalen Weg ein, der von dunklen, unter der Last des Schnees gebeugten Bäumen gesäumt war.
Sie ließ die Jalousie wieder herunter. Zwar hätte sie gerne noch etwas hinausgeschaut, aber das Risiko, dass ihre Entführer es entdeckten, war zu groß. Widerwillig legte sie den Unterarm wieder unter den Riemen und ließ den Kopf auf die Trage sinken.
Eines wusste sie nun: Sie war nicht mehr in England.
Als Ethan das Haus erreichte, zogen gerade frische Schneewolken auf und warfen ihre Last über den froststarren Feldern ab. Er hatte seinen Schlüssel nicht mehr und fürchtete einen Augenblick lang, er würde nicht ins Haus gelangen. Er hatte keine Ahnung, welche Tageszeit war, ja, nicht einmal, ob er nur ein paar Stunden, einen Tag oder gar zwei in dem Totenhaus gelegen hatte. Dann stellte er sich vor, der Schöne und das Tier könnten sich noch drinnen aufhalten.
Aber als er um die Ecke zur Frontseite des Hauses bog, erblickte er mehrere geparkte Wagen, davon einige Polizeifahrzeuge. Sie waren wohl immer noch bei der Spurensicherung, dachte er erleichtert. Er trat an den jungen Polizisten heran, der an der Tür postiert war.
»Ich bin Detective Chief Inspector Usherwood«, sagte er. »Ich habe hier zu tun.«
Es stellte sich heraus, dass er tatsächlich nur ein paar Stunden in dem Mausoleum gelegen hatte. Es war immer noch Weihnachtstag, früher Nachmittag. Der Schneefall wollte nicht nachlassen. Alles ringsum war gefroren, die Welt wirkte wie gefaltetes Papier. Die Abschürfungen an Knöcheln und Händen nicht gerechnet, hatte Ethan keine schweren Verletzungen erlitten. Die Polizisten kannten ihn alle und blickten ihn schockiert an, als er vor ihnen auftauchte. Er war völlig verschmutzt und hatte versengte Kleider.
Polizisten waren überall. Bob Forbes erklärte ihm, die Suche nach verwertbaren Spuren sei erweitert worden. Im Moment sei gerade sein Zimmer an der Reihe. Jemand brachte ihn in einen anderen Raum, wo man den Kamin anheizte und ihm aus seinem Koffer frische Sachen brachte. Man fragte ihn, ob er einen Arzt brauche. Er schüttelte nur den Kopf und meinte, ein Erste-Hilfe-Set tue es auch.
Es gelang, dem altersschwachen Boiler heißes Wasser für ein Bad zu entlocken. Während er die Wärme genoss, kam Detective Chief Inspector Forbes, um mit ihm zu sprechen. Ethan berichtete ihm, was geschehen war, und forderte, dass man sofort eine Fahndung nach Sarah auslösen müsse. Forbes wies einen Assistenten an, die Zentrale zu benachrichtigen.
»Wir brauchen ein Foto«, meinte Bob, »eine Beschreibung ihrer Kleidung und was sonst noch dazugehört.«
Im Zimmer des Großvaters stand eine sehr gute Aufnahme gerahmt auf dem Nachtschränkchen. Ethan fügte hinzu, was ihm noch dazu einfiel. Dann ging er in die Küche hinunter, um etwas zu essen. Als er am Tisch saß, kehrte die Erinnerung an den letzten Abend zurück. Was war während ihres gemeinsamen Essens eigentlich geschehen?, fragte er sich. Eine Frau wie Sarah war ihm noch nie begegnet. Er verfluchte den Umstand, dass jeder glauben musste, sie sei seine Nichte. Sie waren nicht blutsverwandt, aber wenn sie sich miteinander einließen, dann würde jeder sofort an Inzest denken. Das kam in der Familie und anderswo ganz gewiss nicht gut an. Das Schlimmste war, Gefühle dieser Art hatte er in seinem ganzen Leben bisher nur für einen Menschen empfunden – Abi. Was letzte Nacht geschehen war, hatte sie ihm nur noch nähergebracht. Er war außer sich vor Angst und dem heißen Bedürfnis, Sarah vor den Unmenschen zu schützen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Aber vielleicht war sie auch schon tot. Ihn schauderte bei der Erkenntnis, dass er daran bis jetzt noch gar nicht gedacht hatte.
Er fragte Mary Boyd, eine Ermittlerin, mit der er bereits mehrfach an großen Fällen zusammengearbeitet hatte, ob die Spurensicherung auch die Bibliothek untersuchen wolle.
»Ich glaube nicht, Sir. Vielleicht später. Benötigen Sie etwas von dort?«
»Nur ein Buch«, antwortete er. »Ich möchte etwas nachschauen. Ich habe gestern darin gelesen.«
»Ich denke, das geht in Ordnung. Schließlich ist das doch Ihr Haus, nicht wahr?«
»Das Haus meiner Familie.«
»Er war Ihr Onkel? Eines der Opfer?«
»Mein Großvater. Er stand mir sehr nahe. Es ist ein schwerer Schlag.«
Sie sprach ihm ihr Beileid aus. Dann ging er in die Bibliothek. Dort war niemand. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um das Buch zu finden, den Brief samt Karte herauszunehmen und in die Tasche zu stecken.
Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er musste wissen, ob es Nachrichten von Sarah gab. Er fragte Bob Forbes danach, der aber meinte, er habe noch nichts gehört. Allerdings versicherte er Ethan, in der Zentrale habe man seine Information ernst genommen und sofort eine Fahndung ausgelöst.
»Wer leitet sie?«
»Das weiß ich nicht. Ich werde mich erkundigen.«
»Ich möchte selber mitmachen, Bob. Hier verschwende ich nur meine Zeit. Der Chef will mich nicht bei den Ermittlungen in dem Mordfall haben, weil ich nicht genügend Abstand haben könnte. Meinen letzten Fall habe ich bereits abgegeben, und nun sitze ich herum, koche Kaffee und grüble vor mich hin.«
»Der Chef ist schon unterwegs. Er hat bereits gefragt, ob du da bist. Auf der A 46 war ein kleiner Stau, aber da ist er jetzt durch. Er müsste jeden Moment hier sein.«
Fünf Minuten später ließ Superintendent Willis seinen Fahrer einen Parkplatz suchen und schlurfte zu Fuß die Auffahrt herauf. Auf Ethan, der ihn durch das Fenster kommen sah, wirkte er müde und verstört. Die Schneeflocken auf seiner Glatze und auf den Schultern seines Mantels schien er gar nicht zu bemerken. Ethan hatte den Eindruck, dass er nicht nur wegen des vom Schnee glatten Untergrunds so unsicher daherkam. Der Posten öffnete ihm die Haustür.
Willis redete einige Minuten lang in der Diele mit Forbes. Ethan wartete im Wohnzimmer, das von den Ermittlungen nicht betroffen war. Erinnerungen an Ferien mit seinen Eltern, besonders seiner Mutter, stiegen in ihm auf. Er hatte kein gutes Gefühl. Willis’ Ankunft weckte in ihm keine Hoffnung. Die Miene des Chefs, als er sich dem Haus näherte, hatte ihm bereits alles gesagt. Ethan musste an seine Mutter denken, wie sehr sie am Leben gehangen hatte und wie die plötzliche Krankheit sie zwei Jahre lang quälte, bis alle Hoffnung dahin war. So viele Stunden hatte er mit ihr in diesem Raum verbracht, hatte gespielt, während sie las, und später ihr laut vorgelesen, während sie, von der Krankheit gezeichnet, in dem Sessel saß, den er gerade benutzte.
Die Tür ging auf und Brian Willis trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das schwache Licht des späten Nachmittags, dem die Schneefelder draußen einen Hauch von Perlmutt verliehen, ließ seine Gestalt erstrahlen, wozu die trübe Miene so gar nicht passen wollte.
Er setzte sich nicht. Einen Moment blickte er Ethan, der sich zur Begrüßung erhoben hatte, schweigend an. Er wirkte peinlich berührt, als wollte er etwas sagen, suchte aber noch nach den rechten Worten. Dann begann er zu sprechen.
»Detective Chief Inspector Usherwood, ich weiß, dass man Sie gestern zusammen mit den anderen Gästen verhört hat. Wenn ich richtig verstehe, haben Sie die beiden Leichname gefunden?«
Ethan schüttelte den Kopf.
»Das war Mrs. Salgueiro, Sir. Sie kam schreiend aus dem Zimmer gelaufen, und da bin ich hineingegangen. Ich habe dann sofort die Zentrale angerufen.«
»Ja, das ist sehr schnell gegangen. Sagen Sie mir, haben Sie sonst noch etwas getan, als Sie in dem Raum waren? Etwas angefasst?«
Ethan runzelte die Stirn.
»Ich war natürlich schockiert, Sir, als ich das sah, aber ich bin nicht in Panik geraten. Ich habe Dutzende Ermordete gesehen. Ich habe die Tür geschlossen und allen den Zutritt verboten. Dann bin ich zum nächsten Telefon gegangen und habe angerufen.«
»Wo hat das gestanden?«
»In meinem Zimmer. Da es in der Nähe lag, bin ich dorthin gegangen. Stimmt etwas nicht, Sir?«
Willis schwieg eine Weile und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht. Ich bin sicher, es gibt dafür eine Erklärung, aber … Einen Moment, bitte.«
Der Superintendent ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Wenig später trat Bob Forbes ein. Er hatte etwas in der Hand – eine Plastiktüte für Beweisstücke mit einem langen Gegenstand darin.
Superintendent Willis nahm sie und hielt sie Ethan hin.
»Detective Chief Inspector Usherwood, haben Sie das schon einmal gesehen?«
Der Gegenstand war ein Messer. Ein Klappmesser ungewöhnlicher Art mit einem braunen Horngriff und langer, schmaler Klinge. Sie maß etwa fünfzehn Zentimeter und schien sehr scharf zu sein. Ethan bemerkte Blutspuren darauf.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, Sir. Wenn das in dem Arbeitszimmer gelegen hat, als ich hineinging, dann ist es mir nicht aufgefallen.«
»Sind Sie ganz sicher? Sie haben es noch nie gesehen?«
»Es ist ziemlich auffällig, Sir. Ich habe in meinem Leben schon viele Messer gesehen, aber so eines noch nie.«
»Das ist seltsam. Einen Moment.«
Der Chef wandte sich Forbes zu, der Ethans Blick auswich, seit er hereingekommen war, und gab ihm die Plastiktüte zurück. Er murmelte ihm etwas zu, was Ethan nicht verstand. Forbes verließ den Raum.
»Was geht hier vor, Sir? Wollen Sie andeuten, ich hätte etwas über dieses Messer gewusst und halte Informationen zurück …?«
Willis hüllte sich in düsteres Schweigen.
»Gedulden Sie sich noch einen Augenblick«, sagte er.
Ethan fragte sich, was das alles sollte. Der Chef war nie besonders freundlich zu ihm gewesen, aber so barsch hatte er ihn noch nicht erlebt.
Wieder öffnete sich die Tür und Bob Forbes trat ein. Diesmal hatte er mehrere große Tüten bei sich, in denen offenbar Kleidungsstücke waren. Forbes konnte Ethan immer noch nicht ins Gesicht sehen.
Er reichte Willis die Tüten eine nach der anderen.
»Kennen Sie das?«, fragte er und hielt ihm einen Frauentanga hin, ein hübsches Ding, das vorn durchsichtig war. Darauf konnte man dunkle Flecken erkennen, wahrscheinlich Blut.
Ethan verneinte.
»Ich bin Witwer und habe seit Monaten keine Beziehung, Sir. Nein, das kenne ich nicht.«
»Und das?«
Jetzt hielt ihm der Chef einen zu dem Slip passenden Büstenhalter hin.
»Nein, Sir. Das auch nicht.«
Forbes reichte eine dritte Tüte herüber. Willis öffnete sie. Es war ein weißes Frauenkleid auf einem Bügel. Vorn war es an mehreren Stellen zerrissen und mit Blut bespritzt.
»Und das?«
Ethan wurde übel. Er wich ein paar Schritte zurück und fiel in den Sessel, in dem er eben noch gesessen hatte. Was er gerade zu sich genommen hatte, erbrach er nun auf den Teppich. Mit geschlossenen Augen wischte er sich den Mund ab und versuchte sich zu konzentrieren. Keiner sagte ein Wort. Als er die Augen wieder öffnete, starrten ihn die anderen an.
»Also?«, fragte der Superintendent. »Erkennen Sie dieses Kleid?«
Ethan nickte. Vor seinen Augen drehte sich alles. Er spürte, dass ihm etwas aus der Nase tropfte, und hielt die Hand darunter. Er blutete. Mit einem Taschentuch versuchte er das Nasenbluten zu stoppen und nickte dabei.
»Das Kleid gehört Sarah. Sie hat es Heiligabend getragen.« Er biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Schluchzen. »Wo haben Sie sie gefunden? Was … haben die mit ihr gemacht?«
»Wir hofften, Sie könnten uns sagen, wo sie ist«, gab Willis zurück. Seine Stimme war schneidend geworden. Er wusste, wie man mit Verdächtigen zu reden hatte.
»Keine Ahnung. Ich habe doch bereits gesagt, dass die Kerle sie mitgenommen haben müssen.«
»Das Kleid haben wir in Ihrem Zimmer unter der Matratze gefunden. BH und Slip ebenfalls. Das Messer steckte hinter dem Heizkörper.«
Ethan kam sich plötzlich vor, als sei er ein Schmetterling, den man lebend mit einer Nadel auf einen Korken gespießt hatte. Sekundenlang starrte er die Sachen an. Seine langjährigen Kollegen musterten ihn ohne ein Lächeln. Ethan spürte, wie ihm der Mut sank. Wie oft war er schon in ihrer Rolle gewesen. Er wusste, was in ihren Köpfen vorging. Auch er hätte an ihrer Stelle eine Weile anklagend geschwiegen, um die Verdachtsperson einzuschüchtern und zu einem Geständnis zu bewegen.
»Sie glauben, ich hätte das getan?«, sagte er. »Ich hätte sie umgebracht?«
Die Kerle hatten BH und Slip mit Blut befleckt und in seinem Zimmer versteckt. Das war für ihn sonnenklar.
»Detective Chief Inspector Usherwood, Sie sollten wissen, dass wir vor einigen Stunden Fingerabdrücke von dem Messer genommen haben, die mit den Ihrigen in unseren Akten übereinstimmen. Sie sollten auch wissen, dass das Blut auf den Sachen von zwei Personen stammt. Wenn die Ergebnisse der DNA-Tests vorliegen, gehen wir davon aus, dass die kleineren Spritzer von Ihnen sind.«
»Das ist doch der helle Wahnsinn! Sie war meine Nichte. Weshalb hätte ich ihr das antun sollen? Und warum, verdammt noch mal, sollte ich meinen Großvater ermorden? Oder seinen Freund?«
Willis sog die Luft hörbar durch die Nase ein und ließ sie nach mehreren Sekunden ebenso lautstark wieder entweichen.
»Ich habe vor einer Stunde mit dem Anwalt Ihrer Familie gesprochen. Offenbar hat Ihr Großvater den Löwenanteil seines Vermögens Ihnen vermacht, eine zweite große Summe Ihrer Nichte Sarah und kleinere Beträge anderen Familienmitgliedern. Haus und Grundstück mit allem, was dazugehört, gehen an Sie, von einigen besonderen Hinterlassenschaften abgesehen, die in dem Testament aufgeführt sind. Sie haben ein Motiv für die Morde. Ich halte mich nur an die Fakten. Den Rest macht Detective Inspector Forbes, der die Ermittlungen leitet.«
Nach diesen Worten drehte sich Willis um und verließ den Raum. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Forbes trat an Ethan heran.
»Detective Chief Inspector Usherwood, ich verhafte Sie wegen Verdachts des Mordes an Gerald Usherwood und Max Chippendale. Sie müssen nichts sagen, aber was Sie sagen, kann festgehalten und gegen Sie verwendet werden.«
An der Tür klopfte es. Zwei Polizisten in Uniform betraten den Raum.
Ethan sagte nichts. Er wusste, wie es jetzt um ihn stand, was er zu sagen und nicht zu sagen hatte.
»Ich möchte telefonieren«, sagte er.
Forbes nickte, und Ethan nahm das Handy aus der Tasche. Er tippte eine Nummer ein und wartete darauf, dass jemand am anderen Ende abhob.