PROLOG

Woodmancote Hall

bei Bishops Cleeve

Gloucestershire

England

Dezember 2008

 

Weihnachten kam in diesem Jahr nach Woodmancote auf Flügeln von Eis und Schnee, den der heftige Wind an den Steinmauern und Scheunentoren der Hamberley-Farm zu hohen Wehen aufhäufte. Der Wintereinbruch war spät in diesem Jahr, dafür aber besonders heftig. Bizarre Gebirge arktischer Wolken am Herbsthimmel hatten ihn angekündigt. Auf Radio 4 hieß es, das liege an der Erderwärmung, und unten im Pub nickten die Grauköpfe dazu und unkten, das Wetter werde erst noch schlimmer, bevor es sich wieder bessere. Es waren kauzige alte Männer, die wohl schon zu viele Winter gesehen und zu viele Weihnachten erlebt hatten.

Der Schnee bedeckte Felder, Dächer und Hecken wie dicker weißer Samt und schien so bald nicht schmelzen zu wollen. Als die letzten Flocken gefallen waren, folgten sternklare Nächte, in denen Mond und Sterne das Weiß silbern erstrahlen ließen, Vögel von den Bäumen fielen und die gefrorenen Beeren an den Zweigen knackten. Viele Tiere überlebten den Frost nicht – Schafe auf den Feldern, Eichhörnchen in Baumhöhlen voller Nüsse, Eulen einsam in dichten Eibenbäumen.

Schon die ganze Woche vor Weihnachten erstrahlte Woodmancote Hall im Lichterglanz. Er kam von Glühbirnen und Kerzen, von zwanzig Holzfeuern, von einem Dutzend Kronleuchtern und von den Lichterketten, die Bäume und Kaminsimse schmückten. Von drinnen ertönte leise Musik. Der Chor des Kings-College sang alle Choräle, die man sich denken konnte: Einst in König Davids Stadt, Stille Nacht, Erinnere dich, o Mensch …

Wenn man draußen auf dem Rasen stand oder gar über die weite Fläche von Parget’s Meadow herüberschaute, wirkte das Haus wie ein Schiff auf Wellen von Schnee, ein behaglicher, freudvoller Ort, an dem man vor dem kalten Winter Zuflucht finden konnte. Solange die Vorhänge vor den hohen Fenstern noch nicht geschlossen waren, strömte das Licht in reicher Fülle heraus und warf Muster aus Hell und Dunkel auf das unberührte Weiß.

Der betagte Gerald Usherwood, Lord und Herr auf Woodmancote, seit 700 Jahren Sitz seiner Familie, hatte als junger Mann seinem König beim Militär gedient. Jetzt sollte er sein 83. Weihnachten erleben und am Tag darauf seinen 84. Geburtstag. Festbeleuchtung und Musik galten ihm. Es sollte ein großes Fest werden, um Weihnachten, seinen Geburtstag und den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften zu feiern, den er zwei Wochen zuvor in Stockholm empfangen hatte.

Die Verwandten erschienen zuhauf. Woodmancote Hall war zwar geräumig, aber kein großes Haus. Seine zehn Zimmer und ein paar hastig hergerichtete Räume unter dem Dach reichten bei weitem nicht aus, um diese Zahl an Großeltern, Eltern, Kindern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen aufzunehmen. Verspätete Gäste, die nicht mehr in Haus oder Gartenhäuschen unterkamen, mussten sich mit Zimmern im Dorf oder in Bishops Cleeve begnügen. Die Verteilung der Räume hatte Geralds ältestem Sohn George, der zusammen mit seiner Frau Alice die Verantwortung für das große Familientreffen trug, nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet.

Zu den Gästen gehörten vier Gruppen von Usherwoods, einige Draytons, eine Handvoll Cornwallises, die Grevilles aus Canterbury, ein oder zwei Ellises, die Naseby-Zwillinge und ein paar entfernte Cousins aus Madeira, die seit über vierzig Jahren keinen Fuß mehr nach England gesetzt hatten. Manche Gäste kamen sogar noch von weiter her – aus den Staaten oder aus Kanada. Geralds einziger noch lebender Bruder Ernest war da, vom Krebs gezeichnet, aber fest entschlossen, ein weiteres Jahr zu leben. Auch »Chips« Chippendale, wie Gerald ein Überlebender der Long Range Desert Group, der LRDG, aus dem Nordafrika-Feldzug des Zweiten Weltkrieges, war gekommen und zeigte sich in hervorragender Form. Für vier der fünf Kinder des Jubilars war es selbstverständlich, ihrem Vater samt Ehepartnern und Kindern die Ehre zu erweisen. Es sollte ein rauschendes Fest werden. Einen großen Teil des Preisgeldes hatte man darauf verwendet.

In den Tagen der Vorbereitung auf Weihnachtsessen und Geburtstagsfeier war im Hause ein ständiges Kommen und Gehen von Gästen, die Geschenke brachten und sich mit dem Gastgeber fotografieren lassen wollten. Die Kinder, in Hochstimmung von der Aussicht auf Weihnachten und eine Party ohne Ende, liefen schüchtern oder voller Übermut durch die verfallenen Gänge und über die Wendeltreppen des Hauses wie in Alain-Fourniers verlorenem Land1 .

 

»Tut mir leid, Großvater«, sagte er, als er im Bentham Room, dem zentralen Raum von Woodmancote mit seiner elisabethanischen Täfelung und dem beeindruckenden Kamin des Niederländers Grinling Gibbon, auf Gerald zuging. Das alte Gemäuer prangte im Festtagsschmuck. Girlanden aus Efeu, Stechpalme, Mistelzweigen und Wacholder mit schwarzen Beeren daran bedeckten, mit Hunderten goldener Glaskugeln geschmückt, die Wände. Der Kamin war mit Weihnachtsstrümpfen behängt. Überall im Raum standen auf kleinen Tischchen Flaschen mit hausgemachtem Schlehen-Gin, den Gerald wie jedes Jahr bereits vor einigen Monaten angesetzt hatte, um Wärme, Freude und Schwung in das Weihnachtsfest zu bringen.

»Ich hätte nicht übel Lust, dich übers Knie zu legen und dir den Hintern zu versohlen, junger Mann«, antwortete Gerald mit einem Augenzwinkern. Ethan wusste, wie unberechenbar sein Großvater war. An seinem späten Erscheinen nahm er zu Recht Anstoß. »Jedes Jahr das Gleiche. Du kommst als Letzter und gehst als Erster.«

»Du wirst dich doch nicht an einem Polizisten vergreifen wollen. Ich müsste dich glatt am Heiligabend festnehmen und ins Gefängnis stecken. Willst du das?«

Gerald gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Heute war er in Feststimmung. Ethan lächelte ihm zu. Einen Jüngeren hätte er umarmt. Aber nicht seinen Großvater.

»Komm und lass uns einen Gin probieren«, sagte Gerald und zog ihn am Ärmel zu einem der Tische beim Kamin direkt neben der Weihnachtskrippe. »Er ist mir dieses Jahr besonders gut gelungen«, erklärte er. »Die Früchte sind größer und waren Wochen eher reif. Er ist gut durchgezogen. Das schmeckt man.«

Er schenkte seinem Enkel ein Glas ein und blickte ihn erwartungsvoll an. Ethan nippte an dem klaren Getränk und nickte beeindruckt. »Der ist wirklich gut«, meinte er und nahm einen kräftigen Schluck. »Genau das Richtige nach der Fahrt in der Kälte draußen.«

»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst deine junge Frau mitbringen?«

Den erhobenen Zeigefinger kannte Ethan von vielen vergangenen Weihnachtstagen. Warum hast du deinen Kumpel aus der Schule nicht mitgebracht? Wo ist deine Schwester? Wo hast du das Mädchen versteckt, von dem ich schon so viel gehört habe? Und wo ist deine Frau?

Ja, dachte Ethan, wo ist meine Schwester? Und wo ist meine Frau? Verse von Byron, die bei Abis Begräbnis erklungen waren, gingen ihm durch den Kopf:

Und du bist tot? – so schön und zart,

So selt’ne Lieblichkeit,

Wie je im Staub geboren ward,

Geknickt vor ihrer Zeit!

Schon bei Paulines Totenfeier hatte man diese Verse gesprochen. Seine zwei Jahre jüngere Schwester war mit fünfzehn an Leukämie gestorben. Bevor sie krank wurde, hatte sie jeden, der sie sah, in Entzücken versetzt. Eine große Zukunft wurde ihr prophezeit. Die hatte sie mit ins Grab genommen, das nun ein Stein mit ihrem Namen zierte.

Ethans Frau Abigail war fünfundzwanzig gewesen, als sie starb. Das lag jetzt acht Jahre zurück. Er war damals gerade dreißig geworden. Nun ging er schon auf die vierzig zu, aber wenn er morgens erwachte oder abends Schlaf zu finden suchte, war der Schmerz immer noch unerträglich. Dann bohrte sich der Gedanke an sie durch sein Hirn wie ein Wurm, der kein Ende hat.

»Ich habe keine junge Frau, Großvater.«

Gerald runzelte die Stirn.

»Ich nahm an …«

»Da liegst du falsch. Frauen bleiben nicht lange bei mir. Sie meinen immer, ich sei mit meinem Job verheiratet.«

»Ein Mann braucht eine Frau, Junge. Das müsstest du doch allmählich wissen. Selbst nach dem schrecklichsten Einsatz in der Wüste war unser erster Weg immer in den Puff, wenn wir zurückkamen. Oder wir verbrachten eine Nacht mit einem Mädel vom MTC2. Die musste man nicht unbedingt lieben, weißt du?«

Ethan lächelte und sagte nichts. Frauen hatten seinen Großvater immer sehr beschäftigt. In den vierzig Jahren seiner Ehe mit Edith hatte es stets irgendwo eine befreundete Dame gegeben. Als Edith vor fünfzehn Jahren starb, vergab sie ihm alle seine Sünden. Es hieß, er habe seitdem keine Frau mehr angerührt.

Einer der Enkel, dem Aussehen nach ein Ellis, schlenderte herbei und zog Gerald mit sich fort. Ethan blieb allein bei der Krippe zurück, einem hübschen Stück Kunstgewerbe mit italienischen Figuren. Dort fand ihn sein Vater und schleppte ihn zu der Horde Tanten und Cousinen, die er zur Hälfte noch nie im Leben gesehen hatte. Nach dem Abendessen wurden die kleineren Kinder, die nur noch an den alten Mann mit dem weißen Bart dachten, im Haus zu Bett gebracht oder ins Dorf gefahren. Die Verbliebenen ließen sich im Langen Zimmer mit seinen vielen gemütlichen Sofas und Sesseln nieder. Alte Freundschaften wurden aufgefrischt, alte Feindseligkeiten begraben oder neu angefacht.

»Du musst Ethan sein«, sagte da eine Stimme. Als er sich umwandte, stand hinter seinem Sessel eine dunkelhaarige Frau von Mitte bis Ende zwanzig. Er wusste nicht, wer sie war, aber irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Er erhob sich.

»Das ist wohl so«, sagte er. »Und du bist …?«

Sie musste lachen.

»Du hast keine Ahnung, was?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du siehst jemandem ähnlich, aber ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Natürlich sind wir das. Denk mal nach.«

Er prüfte ihre Züge. Kurzes schwarzes Haar, leuchtende Augen, blasse Wangen und ein Kirschmund. Während er noch in seinem Gedächtnis kramte, wurde ihm klar, dass ihn die Erinnerung gar nicht interessierte, sondern viel mehr die erstaunliche Klarheit dieser Züge, ihre Schönheit und der geheime Anspruch aus fernen oder nahen Tagen, den sie auf ihn zu erheben schien.

»Ich bin Sarah«, sagte sie. »Deine Nichte, falls du es vergessen hast. Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, war ich zehn Jahre alt. Deine Eltern haben dich nach Canterbury mitgebracht. Damals fand ich dich furchtbar groß. Ich war wochenlang in dich verknallt. Du kamst gleich nach Mr. Boko, meinem Pony.«

Er musterte sie eingehend, und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Das Pony war scheckig und kurzatmig gewesen.

»Du hast dich sehr verändert«, sagte er.

»Danke.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe nicht gesagt, zum Besseren.«

»Ethan, mit zehn war ich ein dummes kleines Ding mit schlechten Zähnen. Der alte Boko war eine Schönheit gegen mich. Ich kann mich nur zum Besseren verändert haben.«

Er überlegte, welchen Eindruck sie wohl auf ihn gemacht hatte, als sie zehn und er zwanzig Jahre alt war.

»Stimmt«, sagte er. »Nur zum Besseren. Und wie!« Er maß sie mit einem bewundernden Blick. Solche eleganten und selbstbewussten Frauen waren in seiner Familie selten.

»Setz dich doch wieder«, sagte sie. »Ich nehme mir einen Stuhl. Wir haben achtzehn Jahre nachzuholen.«

Nach zwei Stunden hatten sie zehn davon abgehandelt und wollten sich gerade die letzten acht vornehmen, da erhob sich Ethans Vater.

»Wir haben es jetzt halb zwölf. Wer zur Mitternachtsmesse möchte, müsste sich langsam auf den Weg machen. St. Benedikt ist nicht groß, und bald gibt es dort nur noch Stehplätze.«

Als ob er, ein Priester im Tweedanzug, ein Zeichen gegeben hätte, erklang in diesem Moment das Geläut der Gemeindekirche durch die stille Nacht. Es war, als seien Engel auf die Erde herabgestiegen. Oder als Engel verkleidete Dämonen, dachte so mancher später.

Man griff nach Hüten und Mänteln, schlüpfte in bereitstehende Galoschen, und kleine Gruppen bildeten sich. Die Straße vom Haus zur Kirche hatte man vom Schnee befreit, als es noch hell war. Die ältesten Gäste wurden gefahren, aber wer unter sechzig war, ging zu Fuß. Bald wand sich eine lange Schlange von Kirchgängern durch die verschneite Landschaft. Nur das sanfte Licht des Mondes, das den Schnee zum Glitzern brachte, fiel auf ihren Weg. Vor ihnen blinkten die Fenster des Kirchleins wie Leuchtfeuer einer von Gott erfüllten jungfräulichen Welt. Selbst die zahlreichen Nichtgläubigen überlief ein Schauer – nicht von der Kälte, sondern von der Schönheit dieses Bildes. Als sie näher kamen, drang Gesang an ihr Ohr.

Sarah hakte sich bei Ethan unter und stand mit ihm während der ganzen Messe im Hintergrund der Kirche. Der Gemeindechor sang sich wacker durch mittelalterliche Choräle und moderne Wiegenlieder, die durch den geschmückten Raum schwebten, als sei nur Frieden in der Welt. Er sang gegen Finsternis und Kälte, gegen graues Elend und schwarzen Kummer an. Die nahe Geburt des neuen Gottes schien alles Böse zu vertreiben, eine Linie zwischen gestern und heute, zwischen Dunkelheit und kommendem Licht zu ziehen.

Ethan schaute und lauschte, stimmte in die Choräle ein, wo dies erwartet wurde, erinnerte sich und versuchte zugleich zu vergessen. Sarah stand dicht bei ihm. Sie hatte von den Dämonen gehört, von den Nächten, die seine Tage überschatteten. Obwohl sie nicht an Engel, höhere Mächte oder einen Gott in der Krippe glaubte, betete sie für ihn.

 

Gerald, sein alter Kamerad Chips und ein halbes Dutzend sehr betagter Gäste waren zu Hause geblieben. Während die anderen sich dem Bridge hingaben, zogen sich die beiden alten Soldaten nach oben in Geralds Arbeitszimmer zurück. Chips betrat zum ersten Mal diesen Raum, wo der Herr von Woodmancote die Andenken an sein ganzes Leben aufbewahrte. Sie lagen verstreut auf Tischen und Tischchen herum oder waren in Schränke und Schubfächer gestopft. Bücherregale an allen Wänden reichten vom Boden bis zur Decke, gefüllt mit einem bunten Gemisch von Bänden aller Art, Farbe, Einband und Größe. Manche standen ordentlich aufgereiht, andere waren achtlos darübergelegt. Selbst den Fußboden bedeckten Bücherstapel, einige emporgewachsen wie Stalagmiten, andere übereinander gefallen wie nach einem Erdbeben. Dies war das Allerheiligste des Hauses, ein Refugium, zu dem außer den engsten Anverwandten kaum jemand Zutritt hatte.

Zu beiden Seiten eines großen Kamins standen zwei Sessel, beide abgeschabt und nicht mehr sehr bequem, aber wie mit diesem Raum verwachsen. Dort ließen sich die beiden Freunde nieder. Gerald hatte im Vorbeigehen eine Flasche seines Lieblingswhiskys Benromach mitgenommen, die er nun auf dem kleinen Tischchen zwischen ihnen abstellte. Zwei Gläser und einen Krug Wasser hatte Mrs. Salgueiro, die portugiesische Haushälterin, bereits vorsorglich dort deponiert.

Die beiden hatten sich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen. In dieser Zeit waren alte Freunde krank geworden oder bereits verstorben. Die früheren regelmäßigen Treffen gab es schon seit Jahren nicht mehr. Das Gedächtnis der beiden Alten, einst messerscharf, war stumpf geworden. Aber wenn auch viele Erinnerungen allmählich verblassten, die Zeit, die sie gemeinsam in den Wüsten Nordafrikas verbracht hatten, stand ihnen so deutlich vor Augen, als sei es gestern gewesen. Während sie nun ihren Whisky schlürften und an übelriechenden Pfeifen sogen, erwachte sie vollends zum Leben. Geralds alte Geschichten brachten Chips auf gewagte Witze, die sie sich in den langen Tagen und Nächten erzählt hatten, da der Tod beinahe selbstverständlich war und Augenblicke wie dieser weit außerhalb ihrer Vorstellungswelt lagen.

»Hast du sie immer noch hier bei dir?«, fragte Chips nach dem dritten Whisky.

Gerald nickte.

»Ja, hier, wo sie immer waren.«

»Und wer kriegt sie, wenn du einmal nicht mehr bist?«

Gerald zuckte die Achseln.

»Weiß ich noch nicht. Hab nicht darüber nachgedacht. Vielleicht ein Museum?«

»Du weißt, dass wir das ausgeschlossen haben«, antwortete Chips und hob das Glas an die Lippen. Er war ein hochgewachsener Mann, schon etwas gebückt, aber drahtig, als hätten seine Muskeln an Kraft und Elastizität nichts eingebüßt.

»Und du?«, fragte Gerald. »Oder einer von den anderen?«

Chips zuckte die Schultern.

»Wir sind froh, dass du sie aufbewahrst. Aber du wirst immer älter – wie wir alle. Es ist an der Zeit, dass wir eine neue Möglichkeit finden. Das haben wir doch schon so oft besprochen. Wir müssen endlich zu Potte kommen.«

Gerald maß seinen alten Freund mit einem nachdenklichen Blick. So viele Jahre waren vergangen. Kaum zu glauben, wie nahe sie sich damals standen. Sie hatten immer zusammengehalten, alle miteinander, in den Schrecken des Krieges und in der trüben Nachkriegszeit. Jemand hatte sie einmal die Unbesiegbaren genannt. Aber als Leary von einer Tretmine getötet wurde, geriet der Name in Vergessenheit.

»Du meinst, heute Abend?«, murmelte Gerald. »Ich wollte eigentlich bis nach den Feiertagen warten. Bis alle anderen weg sind. Vielleicht kommt Donaldson doch noch vorbei, möglicherweise auch Skinner. Ich habe beide eingeladen. Es kann sein, dass sie bei dem Schnee auf den Straßen nicht durchgekommen sind. Du hast Glück gehabt.«

Chips fuhr sich mit einer Hand über die Wangen. Als er jünger war, hatte er einen Bart getragen, ihn aber abrasiert, als er im mittleren Alter grau zu werden begann.

»Und das Mädchen?«, fragte er jetzt.

»Das Mädchen? Welches Mädchen?«

»Ach, tu doch nicht so. Das ich heute Abend hier gesehen habe. Du weißt genau, welches ich meine.«

Gerald nickte.

»Manchmal vergesse ich es schon. Es sind so viele gewesen. Aber sie ist kein Mädchen mehr. Sie ist jetzt eine erwachsene Frau. Das kann dir doch nicht entgangen sein.«

»Weiß sie von der Sache?«

Gerald goss ein wenig Wasser in sein Glas und trank es gierig aus. Seine Leber machte ihm neuerdings Ärger. Doktor Burns hatte ihm geraten, mit harten Getränken vorsichtig zu sein. Er schüttelte den Kopf.

»Nein«, antwortete er. »Noch nicht. Ich habe ihr bisher nichts gesagt. Sie ist noch nicht so weit. Wenn die Zeit kommt, spreche ich mit ihr, alter Junge. Das weißt du.«

 

Die Wangen gerötet, das Haar von Reif bedeckt, der Atem im Lampenlicht eine gefrorene Wolke, so kehrten die Gäste nach Woodmancote Hall zurück. Sie kamen in Gruppen zu zweien und dreien, lachend oder in ernste Gespräche vertieft, allesamt vom Geist der Weihnacht erfüllt. Ethan begleitete immer noch Sarah, die sich fest an seinen Arm klammerte, weil sie fürchtete, in den hohen Stiefeln auszugleiten, in die sie wegen des Schnees geschlüpft war. In ihrem Kopf hallten die Choräle wider, und ihre Lippen waren blaugefroren. Sie redete viel, antwortete auf seine Fragen und stachelte seine Neugier an. Sie sprachen über Bücher, Filme und Reisen, über Eltern und Verwandte. Dabei stellten sie fest, dass sich ihre Wege schon mehrmals beinahe gekreuzt hätten. Es war noch zu früh, um über seine verstorbene Frau zu sprechen oder ihren Bruder, der mit einundzwanzig Jahren in eine Nervenklinik gekommen war und diese wohl nicht mehr verlassen würde. Ein Instinkt, aus Ungemach oder Gewissen entstanden, sagte ihnen, dass sie dafür noch Zeit haben würden.

Im Hause angekommen, wurde viel geschnauft, gehustet und mit den kalten Füßen gestampft. Schneebrocken fielen auf Fußmatten, wo sie bald zu Wasserlachen schmolzen.

Im Salon hatte Senhora Salgueiro warme Mince Pies, das süße Weihnachtgebäck, und Glühwein bereitgestellt. Die Erwachsenen drängten sich um die Tische, hungrig von der Kälte und der Anstrengung, so lange auf dem steinernen Fußboden der Kirche gestanden zu haben. Die größeren Kinder, die sie begleitet hatten, wurden auf ihre Zimmer geschickt, wo Süßigkeiten, Ingwerbier, gefüllte Weihnachtsstrümpfe und ein unruhiger Schlaf sie erwarteten.

Die Erwachsenen, weniger erregt von der Erwartung großer Ereignisse, waren vom Alter, dem üppigen Essen und der späten Stunde stärker beansprucht als ihre Sprösslinge. Zugleich fühlten sie sich durch den glitzernden Weihnachtsbaum in so eleganter Umgebung und – jedenfalls für die meisten – angenehmer Gesellschaft zu nostalgischen Gedanken angeregt. Sie wären gern schlafen gegangen, wollten aber diesen besonderen Abend noch ein wenig auskosten. Doch einer nach dem anderen musste den ungleichen Kampf bald aufgeben.

Ethan brachte Sarah zu ihrem Zimmer hinauf.

»Danke, Ethan«, sagte sie. »Du warst sehr nett zu einer armen Verwandten.«

»Sarah«, ermahnte er sie sanft, »ich bin Polizist, kein Bankier.«

»Das mag ja sein. Aber ich bin Wissenschaftlerin. Das bedeutet, ich bin arm wie eine Kirchenmaus.«

Zum ersten Mal erwähnte sie, was sie beruflich tat.

»Das wusste ich nicht.«

»Ich habe erst vor einigen Jahren promoviert und arbeite jetzt als kleine Lehrkraft mit trüben Karriereaussichten. Wenn ich Glück habe, bekomme ich mit fünfzig vielleicht eine Dozentur. Aber mit deiner Erlaubnis möchte ich nun zu Bett gehen. Um ehrlich zu sein: Ich werde gleich tot umfallen. Dir geht es doch sicher genauso. Den Weihnachtsmann werden wir dann allerdings wohl verpassen.«

Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie sanft auf die Wange. Sie errötete leicht, wünschte ihm rasch eine gute Nacht und verschwand hinter ihrer Tür.

 

Ob der weißbärtige Alte in dieser Nacht tatsächlich kam, ist nicht bekannt, denn das Haus wurde morgens gegen halb sechs vorzeitig geweckt. Die Ursache war ein gellender Schrei, gefolgt von weiteren Schreien, die nach und nach in heftiges Schluchzen übergingen. Dann war es wieder totenstill. Alle Gäste, außer jenen, die gerade im Tiefschlaf lagen, fuhren in ihren Betten hoch. Ethan war als Erster auf den Beinen und aus dem Zimmer.

Die Schreie waren eindeutig nicht aus einem der Dachstübchen in seiner Nähe gekommen, sondern von weiter unten, wahrscheinlich aus dem ersten Stock. Nur in einem dünnen Morgenmantel und vor Kälte zitternd, eilte er die schmale Treppe hinunter. Hinter sich hörte er Türen klappen. Im ersten Stock herrschte bereits große Aufregung. Einige Zimmertüren standen weit offen, und ein halbes Dutzend Gäste, alles Männer in Pyjama oder Morgenmantel, umringten eine schluchzende Frau. Senhora Salgueiro, Lockenwickler in den Haaren und in einen wattierten Morgenrock gehüllt, wurde von Ethans Vater getröstet. Von Zeit zu Zeit rief sie auf Portugiesisch aus: »Ai, que medo! Que susto! Os pobres homens!«, und heulte wieder laut auf. Sie wollte sich gar nicht beruhigen.

Guy Usherwood, der mit diesen Rufen nichts anfangen konnte, atmete erleichtert auf, als er seinen Sohn kommen sah.

»Was ist hier los, Vater?«

»Keine Ahnung. Ich kann die Frau nicht dazubringen, Englisch zu sprechen. Sie muss etwas Schreckliches erlebt haben, das ist klar. Schau sie dir an: Sie ist weiß wie die Wand und zittert am ganzen Leib.«

Da ging eine weitere Tür auf, und Sarah trat heraus. Sie trug einen mit Goldborte abgepaspelten schwarzen Überwurf, und ihr kurzes Haar stand nach allen Seiten ab. Als sie sah, was los war, trat sie zu der in Tränen aufgelösten Frau, legte einen Arm um sie und suchte sie ihrerseits zu beruhigen.

Die kam allmählich zu sich und fand ihre Sprache wieder.

»Senhor Usherwood! Und sein Freund. No gabinete … im Arbeitszimmer. Bitte …«

Noch einmal heulte sie laut auf und schlug die Hände vors Gesicht, als wollte sie sich vor einem Schreckensbild schützen.

Ethans Vater, das älteste anwesende Familienmitglied, schickte sich an, den Raum zu betreten. Aber Ethan hielt ihn zurück.

»Da ist offenbar etwas passiert, Dad. Vielleicht hatte Großvater einen Herzanfall. Ich bin derartige Dinge mehr gewohnt als du. Lass mich zuerst reingehen.«

Der Vater schwankte einen Augenblick, gab dann aber nach. Ethan ergriff den Türknauf und drehte ihn widerwillig. Sollte seinem Großvater etwas passiert sein, würde es ihm das Herz brechen. Er trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Drinnen brannten noch ein paar Lampen. Das Feuer im Kamin war erloschen, weshalb der Raum in kaltem, trübem Licht lag. Ethan brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen daran zu gewöhnen. Er suchte bei der Tür nach einem Schalter, fand aber keinen. So weit er sich erinnerte, war es im Arbeitszimmer seines Großvaters stets dämmrig gewesen.

Als er etwas besser sehen konnte, durchforschte er mit seinen Blicken den Raum. Nun erblickte er, was Senhora Salgueiro fast die Sinne geraubt hatte. An Bilder von schrecklichen Verbrechen und schwerer häuslicher Gewalt war Ethan gewöhnt, aber nichts in seiner bisherigen Erfahrung hatte ihn auf den Anblick vorbereitet, der sich ihm jetzt bot.

Rechts vom Fenster mit den zugezogenen Vorhängen stand eine lange Reihe Bücherschränke, die von mehreren geriffelten Pfeilern aus Eichenholz voneinander getrennt waren. An diese hatte jemand den Körper von Ethans Großvater geschlagen. Dem Nobelpreisträger hatte man die Kehle durchgeschnitten, seine Arme über Schulterhöhe angehoben und mit kleinen Messern an zwei Pfeilern fixiert. Diese musste man mit solcher Wucht eingerammt haben, dass sie seinen Körper in dieser Stellung hielten. Ethan sah Blut auch an anderen Teilen des Rumpfes, was bedeutete, dass man ihm mehrere Messerstiche versetzt hatte, bevor er den Gnadenstoß erhielt. Auf dem Teppich vor ihm breitete sich eine riesige Blutlache aus.

Mit Chips Chippendale war man auf andere Weise verfahren. Sein Mörder hatte ihn zunächst enthauptet, bevor er seinen Leichnam mit Seilen an den zwei großen Wandleuchtern befestigte. Der Kopf lag zu seinen Füßen. Die Augen hatte man ihm ausgestochen, auf einen Teller gelegt und diesen vor den Kopf gestellt. Auch hier viel Blut, das, inzwischen geronnen, im Lampenlicht glitzerte.

Es war der Morgen des Weihnachtstages, und Ethan glaubte über sich das Rauschen riesiger, furchterregender Flügel zu hören. Nicht die von Engeln, Cherubim oder Seraphim, sondern die groben Hautflügel von Dämonen. Er schüttelte den Kopf, denn er wusste, dass sein eigenes Blut ihm in den Ohren rauschte, während es durch sein von dem Anblick wie betäubtes Hirn strömte.

Er tat einen tiefen Atemzug, dass ihm die Lungen von der kalten Morgenluft schmerzten. Dann ging er zur Tür und öffnete sie ein wenig. Er schob sich durch den Spalt, schloss sie sofort hinter sich und wandte sich der erwartungsvollen Menge der Verwandten zu, die sich inzwischen auf dem Korridor eingefunden hatte.