Sâncraiu
Früh am Morgen
Ilona führte sie durch die kalte Nacht zurück. Ohne ihre dicke Jacke zitterte sie neben Sarah in der Dunkelheit vor Kälte. Im Wald war rabenschwarze Nacht. Die Zweige der riesigen Bäume waren so dicht miteinander verwoben, dass kein Lichtstrahl von Mond oder Sternen hier hereinfiel. Wieder hörten sie Wölfe heulen, nahe genug, dass sie jeden Augenblick hinter ihnen auftauchen konnten.
Sarah hatte keine Kraft mehr, und aus ihrer Angst wurde Panik, als sie durch den Wald stolperten. Mehrmals knickten ihr die Beine ein. Ethan und Ilona hielten sie abwechselnd aufrecht und stützten sie, damit sie überhaupt gehen konnte.
»Lasst mich hier zurück«, sagte sie immer wieder. »Mir passiert schon nichts. Ich will mich nur hinlegen und ein wenig schlafen. Das wäre doch besser, meint ihr nicht?«
Ethan erklärte ihr, wenn sie einschlafe, werde sie erfrieren. An ihrer Reaktion sah er, dass sie genau das wollte.
Mit ihren Lampen fanden sie auf einen Pfad. Nach und nach verebbte das Heulen der Wölfe. Schließlich wich Ilona von dem Pfad ab und führte sie einen Abhang hinunter. Hier fiel allen das Gehen noch schwerer, aber Ilona blieb fest. Ethan hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er war sicher, Sarah wusste nicht, wo sie war und wie lange sie in Gefangenschaft verbracht hatte.
Schließlich erreichten sie eine kleine Jagdhütte. Die Tür stand offen, und drinnen war es so kalt wie draußen.
»Hier sind wir sicher«, sagte Ilona. »Hier findet uns niemand.«
»Und unsere Freunde im Schloss?«, fragte Ethan.
»Vorerst nicht«, sagte sie. »Vielleicht später, wenn ihnen klar wird, dass Sie noch nicht durch Sâncraiu gekommen sind. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich rede mit einigen Leuten im Ort. Wenn jemand kommt und Fragen stellt, dann werden sie alle schwören, Sie und eine merkwürdige junge Frau seien heute Morgen in Sâncraiu gewesen und nach Bukarest weitergefahren.«
Nachdem sie die Fensterläden fest geschlossen und die Tür verbarrikadiert hatte, steckte Ilona mehrere Öllampen an, legte Holzscheite auf einen großen offenen Rost und brachte sie mit getrocknetem Moos zum Brennen. Das Kiefernholz zischte und knisterte eine Weile und wurde dann von den Flammen erfasst. Das Zischen hielt noch lange an, aber das Feuer gewann an Kraft. Ethan half Sarah, sich auf einem Hocker am Feuer einzurichten, wo er sie in Decken aus dem kleinen Schlafraum hüllte und ihr kräftig die Hände rieb. Inzwischen bereitete Ilona etwas zu essen. Die Hütte hatte einen kleinen eisernen Ofen, in dem ebenfalls bald ein lustiges Feuer prasselte.
»Ich fürchte, hier gibt es nur ein paar Konserven und getrocknete Lebensmittel«, teilte Ilona mit. »Jeder trägt etwas bei, damit für Notfälle etwas vorhanden ist. Das weiß man, wenn man sich hier im Wald bewegt.«
Konserviert oder getrocknet – das war ihnen gleich. Der Vorratsschrank war gut gefüllt. Ilona goss Wasser in einen Topf und setzte ihn auf den Ofen. Aus dem Schrank holte sie Tütensuppen von Knorr, ein Päckchen mit ciolan afumat, das sie als »Räucherschinken mit Knochen« bezeichnete, mehrere Büchsen Erbsen mit Schinken, eine mit Rindergulasch und zwei mit Würstchen und grünen Bohnen. Ethan konnte sich gut vorstellen, wie transsilvanische Jäger diese herzhaften Sachen herunterschlangen, wenn sie einen Bär geschossen hatten und ihn in ihr Dorf schleppen wollten. Hunger leiden mussten sie hier jedenfalls nicht.
Eine Stunde später waren Ethan und Ilona satt, nur Sarah saß immer noch völlig teilnahmslos am Feuer. Sie brauchte dringend Hilfe, aber Ethan zweifelte, dass er in der Lage war, sie ihr zu geben.
In dem kleinen Schlafraum standen vier Pritschen. Mit Ilonas Hilfe brachte Ethan Sarah zu Bett. Obwohl sie lange am Feuer gesessen hatte, zitterte sie nach wie vor. Sie deckten sie mit allem zu, was sie finden konnten, und behielten nur je eine Decke für sich selbst.
»Wir reden morgen über alles, Ethan«, sagte Ilona schließlich. »Dann gehe ich nach Sâncraiu. Ich glaube nicht, dass wir Sarah den Marsch schon zumuten können.«
Gesagt, getan. Ilona stieg mehrmals nach Sâncraiu hinunter, um sich umzuhören und die Vorräte aufzufüllen. Wenn sie fort war, blieb Ethan bei Sarah in der Hütte, redete lange mit ihr und half ihr dabei, ins reale Leben zurückzufinden. Sie hatte Schreckliches erlebt und konzentrierte sich nur darauf, es zu vergessen. Sie war aus ihrem gesamten bisherigen Leben gerissen worden. Und wenn dieses Trauma auch nur von kurzer Dauer gewesen war, so hatte es doch tiefe Spuren hinterlassen. Vor dem völligen Zusammenbruch hatte sie nur ihre innere Widerstandsfähigkeit bewahrt. Ethan wünschte, er hätte sie vorher so gut gekannt, dass seine Stimme ihr vertrauter erschienen wäre. Ilona brachte von zu Hause englische Bücher mit, und Ethan las Sarah bei jeder Gelegenheit vor – Dickens, Austen und lange Passagen von PG Wodehouse. Wenn er aus dem Wodehouse las, musste sie manchmal lachen.
Die Zeit verrann wie Wasser, das unter einer Eisdecke davonfließt. Um sie herum schien sich nichts zu regen, weder im Wald noch am Himmel oder in dem steinhart gefrorenen Boden. Ständig mussten sie an das Schloss denken, von dem sie sich so weit wie möglich fort wünschten. Aber für ein Entrinnen gab es keine Chance, solange Sarah nicht noch mehr bei Kräften war. In Sâncraiu erkundigte sich einer nach Fremden, einem Mann und einer Frau. Er bekam keine ehrliche Antwort. Ilona meinte allerdings, das sei nur eine Frage der Zeit.
Inzwischen benutzte Ethan Ilonas Mobiltelefon. Er bat Lindita, einen zweiten falschen Pass für Sarah anzufertigen, der rumänische Einreisestempel trug. Lindita versprach, ihn in ein, zwei Tagen abzuschicken. Ethan fotografierte Sarah mit Ilonas Digitalkamera. Es entstand das Bild einer wesentlich älteren tiefernsten, fast gebrochenen Frau. Von ihrem PC im Haus der Familie schickte Ilona es direkt an Lindita in Gloucester.
Die Zeit verstrich wie Schnee aus grauen Wolken, der durch Dunkel und Licht treibt. Ethan war jeden Tag mit Sarah zusammen, sprach mit ihr, las ihr vor oder sah sie nur schweigend an. Sie schlief viel und hatte häufig Alpträume. Dann setzte er sich an ihr Bett, hielt ihre Hand und flüsterte beruhigend auf sie ein.
Allmählich kam sie wieder zu sich. Die Narben auf ihrer Seele brannten noch, das konnte er erkennen, aber mit jedem Tag lebte ihr Geist auf. Er wünschte, er wäre ihr Geliebter, nicht nur ihr Freund, so stark war sein Gefühl für sie geworden. Aber vor der Versuchung der Liebe scheute er zurück, solange sie noch traumatisiert war, auch wenn er sanft ihre Hand streichelte oder eine Haarsträhne aus ihrer Stirn schob.
Eine Woche verging, dann eine zweite. Ilona berichtete aus Sâncraiu, Egon Aehrenthal sei mit einer ganzen Gruppe seiner Männer dort aufgetaucht und ziehe überall Erkundigungen ein. Doch niemand gab ihm die Antwort, die er brauchte. Mochte Ilona auch bereits in die Großstadt gegangen sein, in Sâncraiu gehörte sie immer noch dazu.
»Wir müssen von hier fort«, sagte sie. »Es kann nicht mehr lange dauern, dann hat er euch beide entdeckt. Es gibt Leute, die hier in den Wäldern illegal Schnaps brennen. Wenn es sehr kalt wird oder ihnen der Proviant ausgeht, suchen sie manchmal solche Jagdhütten auf. Wenn sie euch hier finden und vielleicht wissen, dass Aehrenthal euch sucht, sind sie im Castel Lup, bevor ihr auch nur mit dem Frühstück fertig seid.«
Zwar hatte sich Sarah gut erholt, aber Ethan glaubte nicht, dass sie schon imstande war, mit ihnen auf den Marsch zu gehen. Nach wie vor schwankte ihre Stimmung, manchmal von einer Minute zur anderen. Bald hatte sie Panikattacken und erlebte noch einmal den Schrecken der Entführung. Dann wieder raste sie vor Wut über die Vergewaltigungen, worauf sie in tiefe Verzweiflung stürzte und gleich darauf in Euphorie über ihre Rettung verfiel. Mit Ethan sprach sie jetzt öfter, jedoch nicht in ihren schwärzesten Augenblicken. Wenn sie sich in Schweigen hüllte und auf gar nichts mehr reagierte, sprach er zu ihr. Er redete über alles und nichts, erzählte ihr alte Familiengeschichten, die ihr ein seltenes Lachen entlockten, oder Begebenheiten aus seiner Polizeiarbeit. Dabei achtete er streng darauf, schwere Verbrechen wie Raub, Mord oder Vergewaltigung beiseitezulassen. Es blieb immer noch genügend Unterhaltsames übrig. Er erzählte ihr von dem Mann um die vierzig, auf den er als Streifenpolizist einmal am Stadtrand gestoßen war, als der ein Lied für sein Pferd sang. Über die Vorstellung musste sie lachen, und er nahm ihre Hand. Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. Aber schon Sekunden später zog sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück.
Eines Tages erwachte Sarah aus unruhigem Schlaf, in dem sie mehr als sonst gewimmert hatte, riss die Augen auf und sagte, als sie Ethan erblickte, mit leiser Stimme, aber überdeutlich: »Wir sind in großer Gefahr. Wir alle. Du musst ihn stoppen.«
Gleich darauf sank sie zurück in tiefen Schlaf. Als sie später erwachte und ganz zu sich kam, wusste sie nicht mehr, was sie gesagt hatte. Ethan drängte sie nicht. Aber ihr Blick war wieder trübe, und er spürte, dass eine Erinnerung an die Szene geblieben war. Sarah wusste etwas, da war er sicher, etwas, das sie alle bedrohte, wen immer sie damit meinte.
Einige Tage später geschah das Gleiche noch einmal. Sie sprach von großer Gefahr, großem Leid, einem uralten Übel, Marschkolonnen an einer Kultstätte, Fahnen, blankgeputzten Stiefeln. Diesmal sprach sie länger, und erneut sank sie in den Schlaf zurück. Vielleicht, so dachte Ethan, redete sie nur im Delirium. Aber er spürte ihre Furcht, und sie schien ihm real zu sein.
In dieser Nacht rief sie von ihrem Bett her laut nach ihm, und er stürzte zu ihr, um ihr beizustehen. Ihre Stimme zitterte, als glaube sie sich von Wölfen oder einem Wespenschwarm verfolgt. Er nahm ihre rechte Hand und hielt sie fest, damit sie wieder einschlafen konnte, aber diesmal blieb sie wach.
»Mach Licht, Ethan.«
Er suchte nach der Petroleumlampe und Streichhölzern. Es dauerte ein Weilchen, bis der Docht entzündet war. Als er den Glasschirm wieder aufgesetzt hatte, erfüllte ein fahles Licht den kleinen Raum. Sarah saß aufrecht im Bett. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, und das Haar klebte ihr im Gesicht. Er strich es zurück und setzte sich auf die Bettkante. Ihre Hände zitterten. Er nahm sie in die seinen, damit sie sich beruhigte. Wie sehr wünschte er sich, er könnte sie einfach in die Arme nehmen und so lange halten, bis ihre Angst verflogen war.
»Wir müssen reden, Ethan.« Sie schien plötzlich klarer zu sehen als er selbst. Ihre Augen waren wach, nicht trübe und abwesend wie bisher.
»Gut. Ich höre dir zu.«
In der endlosen Stille des Waldes beschrieb sie ihm mit leiser Stimme das Unheimliche, das sie selbst bisher nur vage begriff.
»Unterschätze Aehrenthal nicht«, sagte sie. »Er mag sich mit Gangstern umgeben, aber er selber ist keiner. Als er glaubte, ich sei genügend weichgeklopft, hat er mich einmal aufgesucht. Dieses Mal rührte er mich nicht an, schlug mich nicht und drohte mir auch nicht. Er wollte nur reden. Meist über sich selbst. Er ist ein intelligenter Mann, hat allerdings nie studiert und sieht daher in mir eine Art Wunder. Er hat seine Hausaufgaben gemacht und weiß eine Menge über mich. Damals sagte er mir, weshalb er gerade mich entführt hat.«
Sie seufzte tief auf. Er konnte spüren, wie ihre Hand zitterte, und er drückte sie sanft.
»Er ist überzeugt, ich wüsste, wie man an diesen Ort in Libyen gelangen kann, wo Urgroßvater seine Funde gemacht hat. Ich glaube, ihm genügt nicht, dass er sie jetzt in der Hand hat. Er will mit eigenen Augen sehen, wo sie gefunden wurden. Er glaubt wohl zu wissen, dass dort noch mehr ist, etwas noch Wertvolleres als diese Sachen.«
»Die Gräber.«
Sie nickte.
»Danach hat er mich gefragt, aber ich habe gesagt, davon wüsste ich nichts.«
»Das wäre der größte Fund von Altertümern, der je in der Geschichte gemacht wurde«, warf Ethan ein. »Er hat offenbar keine Ahnung, was dort tatsächlich noch liegt. Er würde in der Tat weltberühmt, wenn er mit Erfolg eine Expedition nach Wardabaha führen könnte.«
Sie blickte ihn unverwandt an und schüttelte den Kopf.
»O nein«, sagte sie dann. »Darum geht es ihm nicht. Er tut das alles nicht, um sich einen Namen zu machen oder Geld zu scheffeln. Es ist genau anders herum: Er ist Antiquitätenhändler geworden, weil er glaubt, das bringe ihn dorthin.«
»Um an riesige Reichtümer zu kommen«, beharrte Ethan.
Sie schwieg eine Weile. Er glaubte, das Gespräch habe sie erschöpft, und sie sollte besser noch ein wenig schlafen.
»Ethan, er ist der Kopf einer Art Nazi-Organisation. Sie hat ihre Gefolgsleute hier in Rumänien, in Ungarn, in Österreich und in Deutschland. Es sind viele. Dazu eine Menge Verbündete, zumeist rechtsgerichtete christliche Gruppen. Er hat mir von ihnen erzählt. Er wollte mir einreden, die Reliquien seien bei ihnen in sicheren Händen und ich könnte ihnen auch den Ort in Libyen anvertrauen.«
Ethan schaute sie verwirrt an.
»Das will mir nicht in den Kopf. Was hat das alles mit Nazis zu tun?« Aber als er die Frage stellte, fielen ihm die Fotos ein, die er in der Wolfshöhle gesehen hatte.
»So richtig begreife ich das auch noch nicht«, sagte sie. »Aber er jagt diesen Gegenständen seit Jahren nach, hat er mir gesagt.«
In Ethans Kopf stieg eine Erinnerung auf. Er starrte in die Flammen. Etwas von Himmler und der Lanze des Longinus. Die Nazis hatten danach gesucht. Der Lanze der Macht. Dem Speer des Schicksals. Natürlich war das alles okkulter Unsinn, dachte er bei sich. Aber okkulter Unsinn konnte Menschen zu großen Taten inspirieren. Großen und üblen Taten.
Als er sich umwandte, war Sarah wieder eingeschlafen.