SECHSTES KAPITEL

Die Stimmen der Toten

In der folgenden Stunde tätigte Ethan mehrere Anrufe. Er sprach mit seinem Vater, seinen Onkeln, mit Bob Forbes von der Polizei und mit den Anwälten seines Großvaters. Bei ihnen lag in der Tat eine Kopie des Testaments, aber kein Brief für Sarah. Die Polizei hatte in Geralds Arbeitszimmer weder einen letzten Willen noch einen Brief gefunden.

Ethan teilte Sarah mit, dass der Brief bisher nicht aufgetaucht sei.

»Dann muss er noch hier irgendwo sein«, meinte sie. »Kannst du dir denken, wo?«

Er verneinte.

»Was ist mit der Bibliothek?«, fragte sie.

»Der Bibliothek?«

»Du weißt doch, der Raum, wo so viele Bücher drin sind. An allen Wänden. Auf Regalen.«

»Ach so, der. Das scheint mehr was für dich zu sein als für mich.«

»Genau. Ich muss dort für ein, zwei Stunden rein, Ethan. Schon eine halbe Stunde würde helfen. Ich denke, der Brief ist wichtig. Deine Freunde von der Polizei wissen nicht, wonach sie suchen sollen, ich aber erkenne ihn sofort.«

Sie brauchte eine ganze Stunde, um ihn zu überreden, ihr Zutritt zum Haupthaus zu verschaffen, ihr dabei zu helfen, unter dem schwarzgelben Absperrband durchzukriechen und die Haustür mit seinem Schlüssel aufzuschließen.

»Das ist gegen alle Vorschriften«, erklärte er dabei. Aber sie hatte seine Neugier geweckt. Vielleicht enthielt der Brief ja wirklich etwas von Bedeutung. Solange sie sich vom Arbeitszimmer fernhielten, konnten sie kaum Schaden anrichten. Das Haus war zwei Tage lang voller Leute gewesen, aber die Ermittler hatten sich vor allem auf den unmittelbaren Tatort konzentriert.

 

Mit einem Stapel Aktenordner fingen sie an. Sie enthielten Zeitschriftenartikel, Zeitungsausschnitte und einige Briefe. Immer wieder musste Ethan Sarah ermahnen, wenn diese auf etwas Interessantes stieß, sich festlas und den Zweck ihrer Suche aus dem Auge verlor. Dann nahmen sie sich zwei hohe Aktenschränke vor. Im ersten lagen Rechnungen über Bücherkäufe, Briefe von Antiquaren und Buchhändlern sowie Korrespondenz mit Verfassern und Verlegern. Als Ethan sie durchblätterte, konnte er nur staunen, mit welchem Nachdruck der Großvater seine Studien betrieben hatte. Der zweite Schrank war mit Ausgrabungsobjekten vollgestopft. Als Sarah erkannte, was für Schätze dort lagen, konnte sie das gar nicht fassen. Ethan musste sie beinahe mit Gewalt fortziehen.

»Sarah, hier ist nichts, was Großvater an dich adressiert hat. Warte ab bis zur Eröffnung des Testaments, vielleicht steht ja dort etwas drin.«

»Unsinn. Du hast doch mit Markham von der Anwaltskanzlei gesprochen, und der wusste nichts von einem Brief. Entweder er liegt noch in seinem Arbeitszimmer oder der Mörder von Urgroßvater und dessen Freund hat ihn mitgenommen. Hat übrigens schon jemand seine Familie benachrichtigt? Ich meine die von Urgroßvaters Freund.«

»Von Max Chippendale? Ja, ich habe Bob Forbes alles gesagt, was ich weiß. Er hat Max’ Koffer und hat ein paar Erkundigungen angestellt. Von uns weiß niemand etwas über ihn außer der Tatsache, dass er im Krieg mit Großvater zusammen gedient hat. Das waren harte Burschen. Nannten sich die Wüstenratten oder so ähnlich.«

»Long Range Desert Group. Die LRDG solltest du eigentlich kennen. Die waren noch härter als die Wüstenratten und selbst der SAS1. Kein Wunder, dass diejenigen von ihnen uralt werden, die den Krieg überlebt haben.«

Es war kalt im Haus, und sie beschlossen, in ihr Gartenhäuschen zurückzugehen, um es sich dort bei einer Tasse Kaffee und Senhora Salgueiros Preiselbeerkeksen gemütlich zu machen. Ethan hatte bereits zuvor den Kamin im Wohnraum geheizt. Während er sich um das Feuer kümmerte, kochte Sarah Kaffee für ihn und heiße Schokolade für sich selbst. Die Kekse lagen in einer alten Blechdose mit einem Schottenmuster. Sarah kannte sie aus Kindertagen.

»Wir haben kaum noch Milch«, sagte sie, als sie das Tablett absetzte. »Wir müssen morgen im Dorf einkaufen. Oder nach Gloucester fahren.«

Sie ließen sich vor dem Kamin nieder, schauten zu, wie die Flammen das Buchenholz verzehrten, und taten sich an dem Gebäck gütlich. Dabei redeten sie weiter miteinander, nach dem Misserfolg in der Bibliothek etwas weniger lebhaft, dafür mit mehr Tiefgang und Vertrauen als zuvor. Ethan erzählte, wie er seine spätere Frau Abigail kennengelernt hatte, wie rasch sie geheiratet hatten und wie wenig gemeinsame Zeit ihnen vergönnt gewesen war. Er berichtete von den schlaflosen Nächten und leeren Tagen nach ihrem Tod, von den blind dates, die wohlmeinende Freunde für ihn organisierten, die aber nie zu einem zweiten Treffen führten, wie er sich mühte, in den Alltag zurückzufinden, der ihm völlig sinnentleert erschien.

Auch sie sprach von verlorener Liebe, von einem Leben mit Büchern und Zeitschriften, von Wissenschaftlerkollegen, die nie zu Lebensgefährten geworden waren, von sexuellen Abenteuern, die schon Wochen später zu Animositäten führten, von einem Herzen, das sich nach mehr sehnte als nach alten Pergamenten, verblichener Tinte oder den Stimmen der Toten.

Es erschien ihnen durchaus passend, über Liebe, ihr Fehlen und die Sehnsucht danach zu sprechen – angesichts eines so gewaltsamen Todes, eines verdorbenen Feiertages, der die verdiente Ehrung des Lebenswerks eines großen Mannes hätte sein sollen. Sie sprachen ausführlich über Gerald Usherwood, seinen Militärdienst, seine Tätigkeit für die Regierung, seine karitativen Tätigkeiten, seine Leidenschaft für das Heilige Land und die Rätsel seiner Vergangenheit. Dabei lachten sie und vergossen Tränen oder saßen lange Minuten nur schweigend beisammen. Bis Sarah entschied, dass es nun Zeit sei, zu erklären, wie die Dinge wirklich standen.

Sie steuerte nicht direkt auf das Thema zu. Sie schüttelte sogar kaum merklich den Kopf, als wollte sie sich davon abhalten, es zu tun. Sie wusste, war erst einmal der Rubikon überschritten, gab es kein Zurück. Sie hatte keine Ahnung, wohin der Weg führte. Einige Minuten starrte sie in die kupferfarbenen Flammen. Das Licht fiel auf ihr Gesicht und vergoldete es, als sei sie die Göttin eines lange vergessenen griechischen Kults. Er saß schweigend neben ihr. So ein Augenblick kam vielleicht nicht wieder, dachte sie, oder wenn doch, konnte er durch etwas gestört werden, das außerhalb ihrer Kontrolle lag.

»Ethan«, sagte sie dann, »ich muss dir etwas sagen. Das muss aber unter uns bleiben. Niemand in der Familie darf es je erfahren.«

»Das klingt, als sei es ernst«, sagte er.

»Es ist ernst.« Sie beugte sich vor, nahm den Schürhaken und schob ein Stück Holz in die Flammen. Wie Leuchtkäfer stoben Funken nach allen Seiten.

»Es geht um meine Mutter«, sagte sie schließlich zögernd. »Um etwas, das sie mir vor drei Jahren auf ihrem Sterbebett anvertraut hat. Ihr streng gehütetes Geheimnis. Ihre verborgene Liebe. Vor dreißig Jahren hatte sie eine Affäre, die bis zu ihrem Tod andauerte. Das Ergebnis bin ich. Mein Vater weiß nichts davon. Sie hat nur mir verraten, wer mein leiblicher Vater ist. Er lebt noch, aber ich habe ihn nie getroffen. Vorgestellt habe ich mir allerdings schon oft, wie ich auf seiner Schwelle auftauche und sage: ›Hallo, Dad, ich bin deine verlorene Tochter.‹ Seinen Namen kannte ich, lange bevor sie mir das Geheimnis eröffnet hat. Er ist ein prominenter Wissenschaftler, ein Historiker.« Sie stockte. »Tut mir leid, ich hätte dir das schon eher sagen sollen.«

Ethan war von dieser Eröffnung einigermaßen erschüttert. Er erinnerte sich gut an seine Schwägerin Ann, eine zierliche Frau mit zarten Gesichtszügen und einem ansteckenden Lachen. Nun musste er sich darauf einstellen, dass Sarah nicht mehr als eine Bekannte war, während sie vor der Familie weiterhin als seine Nichte galt.

Sie redeten den ganzen Abend weiter, entfernten sich aber nach und nach von den beiden übermächtigen Themen des Tages, dem Mord und Sarahs Bekenntnis.

Es war fast Schlafenszeit, als Sarah etwas einfiel.

»Ethan, mir ist gerade noch ein anderer Ort in den Sinn gekommen.«

»Entschuldigung … Was für ein Ort?« Die kurze vergangene Nacht und der lange, anstrengende Tag hatten ihn erschöpft.

»Wo der Brief sein könnte.«

»Ach, der Brief. Warum hat er ihn dir nicht einfach geschickt? Oder dir gesagt, wo du ihn finden kannst?«

»Ich denke, das wollte er in diesen Tagen tun. Vor einigen Wochen hat er angedeutet, dass er mir diesmal etwas Wichtiges mitteilen will. Wie immer hat er nicht erkennen lassen, um was es sich handelt. Aber ich denke nach wie vor, er muss ihn irgendwo in die Bibliothek gelegt haben.«

»Die haben wir doch schon durchsucht …«

»Vielleicht nicht gründlich genug. Was in seinem Testament steht, weiß ich nicht, außer einer Sache: Er wollte mir alle seine Bücher zur Bibelgeschichte hinterlassen. Dazu die entsprechenden Papiere. Er wusste, dass die Bücher nach seinem Tod in meine Hände gelangen. Vielleicht hat er den Brief in eines davon gelegt.«

Nach einem kurzen Wortwechsel, ob sie bei dieser Kälte noch einmal den Tatort aufsuchen sollten, willigte Ethan achselzuckend ein, und sie machten sich auf den Weg.

Sie brauchten ganze zehn Minuten, um den Brief zu finden. Ethan stieß auf ihn in einem Buch mit dem Titel Die frühesten christlichen Artefakte: Manuskripte und Originalquellen. Das Gesuchte lag zwischen Seite 50 und 51. Sarah lächelte.

»Dieses Buch habe ich oft in der Hand gehabt, wenn ich hier war. Er wusste, dass ich irgendwann wieder hineinschauen würde. Nun wollen wir doch mal sehen, was er mir mitzuteilen hat.«

Es war kein Brief, sondern ein ganzer Packen handgeschriebener Erinnerungen, die mit Geralds ausführlichem Bericht über die Fahrt einer Patrouille der LRDG im Mai 1942 in den Südwesten der libyschen Wüste begann. Sarah las ihn laut vor. Das dauerte seine Zeit, aber je mehr die Geschichte sich entfaltete, desto weniger spürten sie ihre Erschöpfung und gerieten ganz in ihren Bann. Ein Tempel in der Wüste, schimmernde Mosaiken, Reliquien von der Kreuzigung und schließlich das Christusgrab. Es klang wie eine Story von Indiana Jones.

Nach dem Bericht, wie Wardabaha, seine Gräber und Schätze entdeckt wurden, folgte der eigentliche Brief auf Blättern mit dem Briefkopf von Sarahs Urgroßvater:

 

Meine liebste Sarah,

wenn du diese Zeilen liest, bin ich von euch gegangen und auf dem Weg zu den Menschen, die ich getötet habe, um Gerechtigkeit für alles Schlechte zu erfahren, das ich anderen angetan haben mag. Wahrscheinlich werde ich bald vergessen sein, und das wäre vielleicht auch das Beste. Von allen Menschen bin ich zu meinen Lebzeiten Jesus am nächsten gekommen. Ich habe an seinem Grab gestanden und Gegenstände von seinem Leidensweg in meinen Händen gehalten. Das geschah an einem kalten Ort, wo das Schweigen mich beinahe verschlungen hätte. Aber ich bin kein gläubiger Mensch. Ich glaube weder an ihn noch an einen anderen Gott, ja, vielleicht nicht einmal an mich selbst.

Zweifellos fragst du jetzt: Was ist geschehen? Was ist aus Wardabaha, aus den Schätzen, die wir gefunden haben, und aus den Tuareg geworden? Die Wahrheit ist, dass ich mir nicht sicher bin, zumindest was die Stadt und die Kel Ajjer betrifft. Nachdem wir die Oase verlassen hatten, sind einige schlimme Dinge passiert. Von unserer Entdeckung ist etwas durchgesickert. Es gab einen Versuch, die Stadt zu finden und die Schätze zu entwenden. Wir haben die Berichte über unsere Fahrt vernichtet, aber es war zu spät. Einer von uns hatte damit gegenüber einer falschen Person geprahlt, jemandem, der am Tag danach an die Front geschickt wurde und in Gefangenschaft geriet. Niemand weiß, was genau geschah, aber die Geschichte landete bei den Deutschen. Und nicht nur einfach bei den Deutschen, sondern bei besonders eingefleischten Nazis. Noch mehr als das. Ein Ungar namens Almásy kam ins Spiel. Er wollte die Gegenstände in die Hand bekommen, die wir mitgebracht hatten. Dabei wurden zwei Mann aus unserer damaligen Patrouille getötet.

Der Krieg in Nordafrika verlagerte sich weiter nach Westen und ging ein Jahr später zu Ende. Danach schien Gras über die Sache zu wachsen. Chips und ich blieben vor Ort und wurden nach Palästina versetzt, wo der Krieg 1945 endete. Seitdem habe ich meine Zeit dafür verwendet, mehr über diese Dinge herauszufinden – die Gräber mit ihrem Inhalt und alles andere. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir tatsächlich den Ort gefunden haben, wo Jesus Christus und jene, die ihm nahestanden, begraben sind.

Aber die Angelegenheit ist noch nicht ausgestanden. Ich habe dich ausgewählt, daran nach mir weiterzuarbeiten. Du bist die Einzige in der Familie, die ein wenig Interesse dafür gezeigt hat. Jetzt ist es an dir, der Welt die Wahrheit zu sagen. Eine Expedition in die Wüste zu organisieren. Das kannst du nur im Geheimen tun, bis eine Universität bereit ist, an die Öffentlichkeit zu gehen. Chips hat drei der Gegenstände in seinem Besitz, und ich habe drei. Er weiß von dir. Ich werde dich anlässlich meiner Geburtstagsfeier im nächsten Jahr einweihen und dir weitere Informationen geben. Wir sind beide zu alt, um noch einmal den bewussten Ort aufzusuchen, aber ich weiß die Koordinaten auswendig: 20 4 1 N: 207 3. Auf dem nächsten Blatt habe ich dir eine ungefähre Karte aufgezeichnet. Ich kann dir nicht sagen, was du dort finden wirst oder was andere bereits von dort entwendet haben. Eines wissen wir beide genau: Wenn das geschehen ist, dann wurde darüber bisher nichts bekannt.

Pass auf dich auf, meine Liebe. Du hast mir viel Freude gemacht, vor allem durch deine Intelligenz und Entschlossenheit. Was immer du jetzt auch denken magst, du bist eine schöne junge Frau, die einen guten Mann und eine glückliche Ehe verdient. Es tut mir nur leid, dass ich das nicht mehr erleben kann, aber ich bin sicher, es wird geschehen.

Was mein Erbe betrifft, so habe ich dafür gesorgt, dass du in meinem Testament gut bedacht bist. Den meisten der älteren Generation fehlt es an nichts, deshalb vermache ich mein Geld vor allem meinen Enkeln und deren Kindern. Ich weiß, dass du davon guten Gebrauch machen wirst.

Ich bin sicher, dass ich etwas Wichtiges noch nicht erwähnt habe, aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Sind es vielleicht die heiligen Objekte? Sie befinden sich hier in Woodmancote. Wo? Im sichersten Versteck, das ich mir denken konnte. Wenn du diese Zeilen liest, wird mein Begräbnis bereits stattgefunden haben. Dann ist es für dich Zeit, das Familienmausoleum aufzusuchen. Es ist ein muffiger Bau, wo ich nicht den Rest der Ewigkeit verbringen will. Es erinnert mich zu sehr an jenen anderen Ort, der vielleicht schon wieder im Sand versunken ist. Ich werde mich in Rauch auflösen. Die Welt, die ich kannte, ist lange dahin. Du aber hast dein Leben noch vor dir.

In Liebe,

Gerald

 

Auf dem nächsten Blatt hatte er die Karte aufgezeichnet. Das war alles.

Sarah ließ den Brief sinken. Ihre Hände zitterten, und ihre Augen waren tränennass. Erst jetzt kam ihr der ganze Schrecken von Geralds Tod zum Bewusstsein. Ihr wundes Herz stöhnte bei dem Gedanken, wie es geschehen war und was es vielleicht bedeutete.

Ethan legte ihr den Arm um die Schultern, womit er sie ein wenig beruhigen, aber nicht trösten konnte. Sie ließ sich an ihn sinken. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Er tat, was er konnte, um ihren Schmerz zu lindern, doch er kam sich grob und ohne jenes tiefe Gefühl vor, das es ihm erlaubt hätte, sich besser auf ihren Kummer einzustellen. Er strich ihr über den Rücken und sprach beruhigend auf sie ein. Dabei hatte er mit all seiner Kraft gegen die aufkommende Erregung anzukämpfen, die ihre Anwesenheit, ihr Körper, der Duft ihres Parfüms, ihr weiches Haar bei ihm auslösten. Oder war es sein eigenes Bedürfnis, Trost zu spenden und zu empfangen? Sie war eine berückend schöne Frau, und er fürchtete für sie schon etwas zu empfinden, das er in ihrer beider Interesse unterdrücken musste. Auch wenn sie nicht mit ihm verwandt war, denn die Familie wusste das nicht.

Nach und nach beruhigte sie sich. Er hielt sie nicht fest, als sie sich von ihm löste und sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr.

»Entschuldige«, sagte sie.

»Nicht nötig. Ich habe ihn auch geliebt. Er hätte in seinem Bett im Kreise seiner Familie sterben sollen. Nicht dort, wo wir ihn gefunden haben, und nicht auf diese Weise.«

Sie nickte und zog die Nase hoch. Dann schaute sie auf die Uhr.

»Wo wollen wir schlafen?«, fragte sie. »Können wir nicht hierbleiben? Das Gartenhaus ist immer noch nicht richtig warm, und ich habe alle meine Sachen hier.«

»Das dürfen wir eigentlich nicht«, sagte er. »Wir könnten wichtige Spuren vernichten.«

»Wir können uns doch vom Tatort fernhalten. Und du warst ohnehin schon dort.«

Nach einigem Zögern stimmte er zu. Bob hätte eigentlich einen Posten im Hause zurücklassen müssen. Vielleicht sollten sie doch bleiben.

»Dann müssen wir morgen früh raus«, sagte er. »Bevor Bob mit seinen Leuten hier ist.«

»Ethan …«, sagte Sarah zögernd. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?«

Er blickte sie an, und sein Erstaunen war nicht zu übersehen.

Sie errötete.

»Oh, nein … nicht so, wie du denkst … Ich meine nur … Ich möchte nicht gern allein in einem Zimmer sein, nachdem all das geschehen ist. Unsere Zimmer liegen ziemlich weit auseinander. Was machen wir, wenn etwas passiert?«

»Sarah, ich glaube nicht … Ich könnte nicht … Wenn du in meinem Bett schläfst, selbst wenn du meine Nichte wärst … Du bist eine attraktive Frau und …«

»Ich will doch nicht in deinem Bett schlafen! Wie kommst du denn darauf? Nur in deinem Zimmer. Bei mir steht so eine Art Klappbett, das könnten wir doch …«

Er wollte noch einmal widersprechen, entschied sich dann aber anders. Sie hatte ja recht. Er selbst war inzwischen bewaffnet – ein Gewehr aus der Waffenkammer stand neben seinem Bett.

»Und du versprichst mir, hier nicht etwas zu neckisch bekleidet herumzuhüpfen …?«

»Ethan, draußen haben wir eine Million Grad unter Null, vom West Country ist ein frostiger Nebel im Anzug. Ich werde meine dickste Thermounterwäsche tragen. Oder wäre es dir vielleicht doch lieber, dass ich – wie hast du gesagt? – in Tanga und Söckchen herumhüpfe?«

Er wollte gerade vermeiden, dass sich ein solches Bild in seinem ohnehin überreizten Hirn festsetzte.

»Ich … also … bin sicher, dass wir etwas arrangieren. Aber auf dem Klappbett schlafe ich.«

»Das erste vernünftige Wort, das ich von dir höre.«

»Was ist mit den Objekten? Sind sie wirklich das, was Großvater denkt? Wenn ja, sollten wir sie dann nicht aus diesem elenden Versteck herausholen? Sie könnten dort rosten oder anderweitig Schaden nehmen.«

»Ethan, sie liegen seit Jahrzehnten dort. Wenn sie rosten, dann ist es bereits passiert. Wenn Gott sie braucht, so ist seine Geduld unendlich, zumindest hat man mich das gelehrt. Ich bin sicher, eine weitere Nacht im Mausoleum schadet ihnen nichts. Wir können morgen nach ihnen schauen. Jetzt möchte ich nur noch meinen Kopf auf ein Kissen legen und nichts mehr hören und sehen.«

Ohne jeden weiteren Gedanken verließen sie die Bibliothek. Der Brief samt Karte blieb dort zurück.

Als Ethan Sarah wiedersah, trug sie einen dicken Morgenmantel aus Senhora Salgueiros Kleiderschrank. Sie schob ein Bein vor, um ihm zu zeigen, dass sie darunter in einem dicken Pyjama steckte. Ethan ging noch einmal durch das große, fast leere Haus. Er fand zwar das Schaltpult für die Alarmanlage, wusste aber den Code nicht, um sie einzuschalten. Um Senhora Salgueiro noch anzurufen war es zu spät. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es in den nächsten Stunden erneut zu einem Einbruch kommen sollte. Er kehrte in sein Zimmer zurück, schlüpfte in den Schlafsack, der auf dem schmalen Feldbett lag, und stellte sich auf eine unbequeme Nacht ein. Er knipste die Lampe aus, die er neben sich auf den Fußboden gestellt hatte.

»Gute Nacht, Sarah«, sagte er leise. »Versuche zu vergessen, was geschehen ist. Schlaf dich richtig aus.«

»Ich glaube, ich kann jetzt eine ganze Woche lang schlafen«, gab sie mit dumpfer Stimme zurück. Wenige Augenblicke später war vom Bett ein leises Schnarchen zu hören.

»Sarah? Sarah, schläfst du schon?«

Keine Antwort.