XII       

 

Maius und Lauba waren überglücklich.

„Ihr braucht heute Abend nicht zu kochen. Kommt nachher einfach herüber und esst bei uns mit.“

„Danke, das werden wir“, sagte Bassus.

Sie betraten ihre Wohnung, und sofort fiel ihr Blick auf Micons Sofa.

„Gehen wir einfach davon aus, dass es ihm gut geht“, sagte Bassus.

Hoffentlich war es so.

 

Bevor Lauba ihre Schüsseln füllte, reichte Maius Bassus einen Brief.

„Er kam vor wenigen Tagen. Weil wir wussten, dass ihr bald da sein werdet, haben wir ihn nicht nachgeschickt.“

Ohne ihn zu öffnen, reichte Bassus ihn weiter. Tony las den Absender. Aus Rom! Von Micon! Er erbrach das Siegel und las vor:

„Verehrter Flavius Bassus, lieber Tony!

Herzliche Grüße aus Rom. Ich hege die Hoffnung, dass mein Brief euch beide wieder vereint in der vertrauten Wohnung vorfindet.

Ich habe eine schwere Zeit hinter mir, aber das ist jetzt vergessen. Es ist mir gelungen, eine meiner Töchter freizukaufen. Mit ihr lebe ich nun in einem ziemlich verrufenen Stadtteil im Süden. Aber das ist uns egal, denn der Besitzer des Hauses hat mich als Hausmeister und Mieteintreiber eingestellt. Und das bedeutet, dass wir hier umsonst wohnen können.“

Tony sah Bassus an. Dann drückte er den Brief an seine Brust. Dinge konnten im Leben tatsächlich gut ausgehen. Sogar mehrmals hintereinander.

 

„Wird es jetzt so bleiben?“, fragte er Bassus später in ihrer Wohnung.

„Was?“

„Dass keine schrecklichen Dinge mehr geschehen? Dass wir nicht mehr dauernd um unsere Freiheit, unser Leben oder das der Menschen, die wir lieben, fürchten müssen?“

Bassus zögerte.

„Ich verstehe. Dann möchte ich einfach nur, dass das Schöne wenigstens noch ein bisschen andauert.“

 

Am nächsten Morgen schlugen ihnen die Wachsoldaten an der Porta Praetoria auf die Schultern.

Kaum hatten sie den dunklen Torbogen durchschritten und die rechtwinkelige Welt des Lagers mit ihren schnurgeraden Straßen und eisernen Regeln betreten, sagte Bassus verwundert: „Ich fasse es nicht! Ich fühle mich, als käme ich nach Hause.“

Tony grinste. „Mir geht es genauso.“

Im Valetudinarium taten alle so, als wäre er nur kurz weg gewesen. Wackeron bat ihn sofort, nach einem Soldaten zu sehen, der ein verletztes Auge hatte. Es sah schlimm aus, aber nachdem Tony es genauer untersucht hatte, wusste er, dass es wieder heilen würde. Er behandelte es mit einer der Salben, die Kallisto ihm zum Abschied geschenkt hatte, und legte einen Verband an, ganz so, wie sie es ihn gelehrt hatte.

Morvran roch an der Salbe. „Hat sie dir auch das genaue Rezept verraten?“, fragte er.

„Hat sie. Keine Sorge. Ich habe eine ganze Sammlung von Rezepten für Augensalben.“

„Hast du sie dabei?“

Tony griff in seine Umhängetasche. „Hier.“ Lächelnd reichte er Morvran eine Schriftrolle.

Wackeron winkte ihn zu sich heran. „Und jetzt sag mir, wie geht es Bassus?“

„Ich glaube, es ging ihm noch nie so gut.“

„Das freut mich. Und wie kommt ihr miteinander aus?“

Tony überlegte einen Moment. „Er ist mein Vater“, sagte er schließlich.

Wackeron lächelte. „Dann ist es gut.“

 

Einige Wochen später stand Tony unschlüssig vor dem Valetudinarium und beobachtete das abendliche Treiben im Lager. Es war hektischer als sonst, denn morgen begannen die Feierlichkeiten zum Fest des Oktoberpferdes. Der erste Tag wurde nur von der Ala innerhalb des Kastells gefeiert, der zweite gemeinsam mit der Bevölkerung. Bei Bassus würde es heute deshalb wieder später werden. Fabius Pudens drillte seine Turma schon seit Tagen für das Fest.

Auch die Ärzte würden morgen mit ihren Pferden dabei sein. Sie durften sich jedoch etwas abseits halten.

„Sollten wir nicht trotzdem ein bisschen üben?“, hatte Tony Wackeron am Nachmittag gefragt.

„Nicht nötig. Wir setzen uns auf unsere Pferde und folgen einfach dem Soldaten, der uns in den Principia an die richtige Stelle bringt. Mehr wird von uns nicht verlangt. Es ist immer dasselbe Ritual.“

„Aber den Eid auf den Imperator müssen wir dann mitsprechen?“

„Du noch nicht, aber Morvran und ich schon.“

Aber eigentlich war Tony auf den Tag danach fixiert. Da würde nämlich die Familie von Severus zu den Feierlichkeiten kommen. Und Flavia!

Er ging zu den Ställen. Zu seiner Überraschung fand er dort Teres vor, der bereits gestriegelt war und gerade seinen Stirnzopf neu geflochten bekam.

„Julia ist auf der Weide, wir holen sie gleich“, erklärte der Calo und band eine rote Schleife in den Zopf.

Das war in Ordnung. Es war Sommer, und den ganzen Tag allein im Stall zu stehen, während die anderen Pferde mit ihren Reitern trainierten, war sicher langweilig.

Ein anderer Calo betrat Julias leere Box und sah sich ihr Zaumzeug und ihren Sattel an. Es war ihm anzusehen, dass er nicht beeindruckt war.

„Gut ausgestattet ist das Pferd nicht“, sagte er.

Tony ärgerte sich. Er fand es affig, die Tiere so zu schmücken. Und nie im Leben würde er zulassen, dass Julia wie einem Schoßhündchen ein alberner, aufrecht stehender Zopf zwischen den Ohren geflochten wurde!

„Ich habe das Pferd noch nicht so lange“, erklärte er.

„Ach so“, sagte der Calo. „Euer Vater leiht Euch sicher etwas, damit das Tier morgen nicht ganz so armselig aussieht.“

Tony stöhnte innerlich auf.

Draußen lief er Donatus in die Arme.

„Ist Bassus schon nach Hause gegangen?“, fragte Tony.

„Keine Ahnung. Ich war nicht bei den anderen. Ich habe für den Wachdienst im Heiligtum exerziert.“

„Was gibt es da zu exerzieren? Müsst ihr nicht einfach nur dastehen und ein ernstes Gesicht machen?“

Donatus lachte. „Es sind unsere Pferde, die stehen. Wir sitzen auf ihnen. Aber das mehrere Stunden lang ohne jede Regung auszuhalten, das ist weder für die Tiere noch für uns einfach.“

Tony wollte zum Trost gerade etwas über blöde Rituale sagen, als Donatus fortfuhr: „Aber natürlich ist es eine große Ehre.“

 

„Nein!“, schrie Tony am nächsten Morgen und stellte sich schützend vor sein Pferd. „Ich bin nicht mehr dein Sohn, wenn du darauf bestehst, ihr diese bescheuerten Bändchen in die Mähne zu flechten.“

Bassus seufzte und legte sie widerstrebend weg. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete Julia.

„Sie sieht sehr schlicht aus“, konnte er sich nicht verkneifen.

„Na und? Mir gefällt sie so.“

„Wie du meinst“, sagte Bassus kühl.

Mann oh Mann, manchmal hatten sie wirklich nicht die gleiche Wellenlänge!

Trompeten schmetterten. Gott sei Dank, es ging los. Sie führten die Tiere aus dem Stall und sprangen auf. Sofort wurden sie vom Strom der Reiter mitgerissen, die sich zu den Principia bewegten. Nie hätte Tony sich die Welt der römischen Armee so farbenfroh vorgestellt! Trotzdem war alles sehr feierlich. Die Reiter waren ernst, und seit dem letzten Trompetenton sprachen sie nicht mehr miteinander. Man hörte nur noch das leise Trappeln hunderter Hufe und das Klirren der Waffen.

In diesem Moment kam die Sonne hinter den Wolken hervor und brachte alles zum Leuchten. Tony musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden. Und auf einmal wurde auch er von der feierlichen Stimmung ergriffen und fühlte so etwas wie Stolz, weil er dazu gehörte.

An der nächsten Abbiegung wurde er von Bassus getrennt und in eine Gasse gewinkt, an deren Ende er Wackeron und Morvran und die Tierärzte des Lagers auf ihren Pferden sehen konnte.

Nachdem sie durch das Portal der Principia in den riesigen Innenhof geritten waren, mussten sie absitzen. Während die Calones die Tiere an den Zügeln hielten, gingen die Reiter in die große Exerzierhalle.

Tony fand sich in perfekter Formation mit mehr als fünfhundert Männern wieder, ausgerichtet auf eine Bühne an der Stirnseite der Halle. An ihrer Rückwand waren meterhohe, mit kunstvollen Schnitzereien versehene Holztüren.

Es wurde totenstill.

Der Praefectus betrat die Bühne und begann mit seiner Ansprache.

„Equites!“, rief er. „Wir haben uns heute versammelt, um unserem göttlichen Imperator Caesar Nerva Trajanus unsere Ergebenheit zu erklären, unsere Bereitschaft, für ihn in den Tod zu gehen. Denn nichts ist ehrenvoller, als für den obersten Kriegsherrn des Vaterlandes zu sterben.“

Er fuhr noch eine ganze Weile in diesem Ton fort, danach trat er zur Seite. Hinter ihm zogen zwei Soldaten die tonnenschweren Holztüren auf und gaben den Blick auf das dahinter liegende Heiligtum frei. In seiner Mitte stand eine Statue von Trajanus. Rechts und links von ihr saßen zwei prächtig gekleidete Reiter auf ihren Pferden. Auch sie wirkten wie Statuen. Die Pferde und die Reiter trugen silberne Gesichtsmasken. Doch Tony wusste, dass einer von ihnen Donatus war.

An den Wänden lehnten die Holzstangen mit den Feldzeichen der Ala. Von der Decke hingen kunstvoll geschmiedete Behälter, aus denen wohlriechende Dämpfe quollen. Sie hüllten alles in einen duftenden Nebel.

Der Praefectus kündigte die Eidesformel an.

Die Soldaten in der Halle neigten die Köpfe. Sie wiederholten stolz, so laut sie konnten, die Worte, die der Praefectus ihnen vorsprach.

Es klang wie Donnergrollen. Tony hatte das Gefühl, dass ihm gleich das Trommelfell platzte. Er selbst blieb stumm. Bei aller Liebe zu Trajanus als Mensch hätte er doch niemals schwören können, für ihn zu sterben.

Was sollte also werden, wenn er Feldarzt war und selbst den Eid ablegen musste?

Außer ihm verweigerte sich nur Morvran, der neben Tony stand. Er bewegte die Lippen, als würde er mitsprechen. Aber die Worte, die herauskamen, waren keltisch. Wackeron dagegen wiederholte die korrekte Eidesformel, aber er sprach sie leise und inbrünstig. 

Danach gingen alle, Turma für Turma, zurück in den Hof und sprangen auf ihre Pferde. Wieder traten sie in Formationen an. Die Signifer einer jeden Turma hatten inzwischen die Feldzeichen geholt. Sie ritten zu ihren Decurionen und stellten sich neben sie. Als alle wieder still standen, erschien ein Priester mit seinen Gehilfen und sprach über einem Kessel mit Öl eine Segensformel für die Pferde. Danach schritt er feierlich durch die Reihen und salbte jedes Tier.

 

„Was suchst du?“

Bassus sah nun schon eine ganze Weile dabei zu, wie Tony in der Wohnung hektisch hin und her lief und an seiner Festtagskleidung zupfte.

„Schade, dass wir keinen Spiegel haben.“

Bassus deutete auf den Bronzeteller.

Tony schüttelte den Kopf. „Ich meine einen großen Glasspiegel, in dem man sich komplett sehen kann.“

„Und was genau würdest du da sehen wollen?“

„Wie ich aussehe natürlich.“

Bassus hob die Augenbrauen. „Du siehst gut aus.“

Tony ließ den Kopf sinken. „Nein. Ich glaube, ich lege die lange Tunika und die Toga wieder ab und ziehe die Hose und mein Hemd von der Ala an.“

„Wie du willst.“

„Das sieht männlicher aus.“

„Eine knöchellange Tunika mit einer Toga ist auch sehr männlich.“

„Das finde ich überhaupt nicht.“

„In Aquae Granni hattest du kein Problem damit.“

„Das war eine ganz andere Situation.“

Bassus setzte sich lächelnd auf die Bank. „Ich glaube, Flavia wird völlig es egal sein, wie du angezogen bist.“

„Meinst du?“

„Natürlich.“

Harpalos, der die ganze Zeit auf dem Boden neben der Tür gelegen hatte, setzte sich plötzlich auf und bellte. Kurz danach klopfte es energisch an die Tür.

Bassus sprang auf. „Jetzt ist es sowieso zu spät. Sie sind da.“

Tonys Herz klopfte wild. Artig stellte er sich auf, wie es sich für den Sohn eines geachteten Kundschafters gehörte, und starrte auf die Tür.

Als erste kamen Severus und Aurelius herein. Aurelius stürzte sich sofort auf Tony, während Severus Bassus umarmte. Danach folgte Marcia, die zuerst Bassus und dann ihn umarmte, und nach ihr kamen Ildiger und Gudullus. Endlich betrat auch Flavia den Raum. Und zum ersten Mal fiel Tony auf, dass sie unsicher war. Beinahe schüchtern trat sie über die Türschwelle, lächelte dabei aber tapfer und ließ sich von Bassus umarmen. Als sie auf Tony zukam, wusste er nicht, was er mit seinen Händen machen sollte. Fast hätte er die Hand ausgestreckt, um die von Flavia zu schütteln. Aber auch sie schien ihre Probleme zu haben. Sie wollte ihn umarmen, aber irgendwie waren ihnen dauernd die Arme im Weg. Sie mussten mehrmals ansetzen, bis sich endlich ziemlich linkisch umarmten. Gleich danach wichen sie wieder zurück und kicherten.

 

Unglücklich stapfte Tony hinter den anderen her zum Festplatz. Sie waren eine ungewöhnlich große Gruppe, denn Severus ging mittlerweile keinen Schritt mehr ohne eine Schar bewaffneter Leibwächter. Ein Gedanke durchfuhr Tony: Sie bewegten sich wie Gefangene inmitten ihrer Bewacher. Und genau das waren sie auch! Zumindest so lange, bis Audica endlich gefasst war.

Tony betrachtete den Rücken von Flavia, die sich mit Bassus unterhielt. In diesem Moment drehte sich Marcia um und sah sein unglückliches Gesicht. Sie reihte sich neben ihm ein.

„Tony, erzähle mir ein bisschen über Aquae Granni. Wie ist es dort so?“, bat sie freundlich.

Tony berichtete. Doch er konnte seine Augen nicht von Flavia lassen. Normalerweise konnte er Dinge sehr lebendig und lustig erzählen, aber heute war er in keiner guten Form. Jetzt mussten sie auch noch stehen bleiben, weil es zu einem Stau gekommen war. Reiter der Ala, die für Ordnung sorgen sollten, riefen Anweisungen. Einer von ihnen, ein älterer Soldat, ritt zu ihrer Gruppe.

„Ave, Publius Severus! Am besten, ihr geht ein bisschen zur Seite und wartet, bis der größte Andrang vorbei ist.“

Sie waren gerade bei der ersten umzäunten Weide der Ala angelangt. Die Pferde grasten friedlich. Tony nutzte die Gelegenheit und entfernte sich von den anderen. Er lief eine Weile am Zaun entlang. Nach einer Weile blieb er stehen und betrachtete die Tiere. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und die gesamte Weidefläche glitzerte in der Herbstsonne.

Seine Wollsocken waren von dem nassen Grass ganz feucht und juckten auf der Haut.

Er hatte nichts gehört. Aber plötzlich griff jemand nach seiner Hand. Es war eine schmale Hand. Ihm wurde heiß. Er sah Flavia an. Sie errötete und wandte den Blick ab. Er hielt ihre Hand fest.

Tony schluckte. Sie war nur wenige Zentimeter kleiner als er. Es war ganz leicht. Auf einmal lagen seine Lippen auf ihrem weichen Mund. Ihre Arme glitten unter den seinen hindurch auf seinen Rücken. Tony wollte sie gerade noch näher an sich ziehen, als hinter ihm jemand fluchte. Er fuhr herum.

Einer der Wächter war in einer Schlammpfütze ausgeglitten. „Severus schickt mich“, sagte er, während er sich wieder aufrappelte. „Er hat sich Sorgen gemacht, weil ihr plötzlich nicht mehr da wart.“

Tony hätte ihn ermorden können.

„Wir kommen“, entgegnete Flavia ruhig.

 

Der Rest des Tages war an Tony vorbeigerauscht. Obwohl er keine Gelegenheit mehr bekommen hatte, mit Flavia allein zu sein, war er auf Wolken geschwebt. Jetzt lag er schon seit Stunden im Bett und konnte nicht einschlafen.

Wieder suchten ihn die alten Dämonen heim. Das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen würde. Außerdem war ihm, als würde Flavia nach ihm rufen. Er richtete sich auf. Da rief wirklich jemand! Es war Maius. Jetzt hämmerte er an ihre Tür. Tony sprang aus dem Bett und rannte hinaus. Bassus war jedoch noch vor ihm da und riss die Tür auf.

Maius stürzte herein. „Es ist etwas Furchtbares passiert!“ Er rang nach Atem.

Bassus hielt ihn an den Schultern fest. „Was denn?“

„Severus und seine Familie wurden überfallen. Kurz bevor sie das Gut erreichten. Audicas Männer waren in der Überzahl.“

Bassus wurde kreidebleich. „Sind sie tot?“, fragte er.

„Zwei der Wächter sind tot und die anderen und Severus sind schwer verletzt.“

„Was ist mit Flavia, Aurelius und Marcia?“

„Aurelius hat keinen Kratzer, und Marcia ist nur leicht verletzt.“

„Und Flavia?“, schrie Tony.

„Audica hat sie mitgenommen.“

Tony sank auf die Knie.

Bassus legte ihm die Hand auf die Schulter. Tony hörte, wie er Maius fragte: „Wird Severus durchkommen?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wie geht es Ildiger und Gudullus?“

„Ildiger soll es am schlimmsten erwischt haben.“

Tony musste sich zusammenreißen. Es gab Arbeit. Verwundete mussten versorgt werden, und sie mussten Audica aufspüren.

Er sah Bassus und Maius an.

„Was hat er mit Flavia vor?“

Die beiden Männer wechselten einen Blick.

Maius antwortete: „Wenn er sie töten wollte, hätte er es gleich getan. Warum sich die Mühe machen, sie mitzunehmen?“

„Kann es sein, dass er Lösegeld will?“

„Das wäre natürlich gut.“ Doch Maius sagte es ohne Überzeugung.

Auch Tony glaubte nicht an diese Möglichkeit. Denn dann wäre alles nicht ganz so schlimm. Severus würde bezahlen und Flavia käme zurück. Nein, Audica war nicht an Lösegeld interessiert. Er wollte Flavias Eltern quälen. Und – es war zu schrecklich, es zu Ende zu denken: Vor allem wollte er Flavia quälen, weil er sich von ihr verraten fühlte.

Tony riss sich zusammen. „Was geschieht jetzt?“, fragte er.

Draußen war Pferdegetrappel zu hören. Männer riefen durcheinander. Fabius Pudens trat ein, gefolgt von Donatus.

Pudens wandte sich an Bassus: „Draußen warten drei der Männer, die du ausgebildet hast. Du bist wieder als Principal im Einsatz.“

Bassus eilte in sein Zimmer. Donatus folgte ihm. Durch die offene Tür sah Tony, wie er Bassus half, das Kettenhemd anzulegen. Donatus selbst würde jedoch nicht mitkommen können. Er war zwar längst genesen, würde aber nie wieder fit genug sein, um an Kampfeinsätzen teilzunehmen. Sein neuer Arbeitsplatz waren die Principia, wo er half, die Vorräte des Lagers zu verwalten.

Zu Tony sagte Fabius Pudens: „Morvran wird jeden Moment hier sein. Du wirst ihn zum Gut von Severus begleiten und dich um die Verwundeten kümmern. Falls Gudullus dazu in der Lage ist, wirst du danach mit ihm zusammen zu uns stoßen.“

Schnell packte Tony in seinem Zimmer Kleidungsstücke und den Kasten mit dem Arztbesteck, das Bassus ihm in Aquae Granni gekauft hatte.

„Decurio?“, wandte er sich danach an Pudens.

„Ja?“

„Der kleine Trupp um Bassus, ist das alles?“

„Nein, bei Mars, morgen werden aus sämtlichen Alae und Kohorten der Umgebung Reiter ausschwärmen und nach Germania Libera übersetzen. Bassus soll lediglich vorher mit den germanischen Heerführern sprechen und ihr Einverständnis und ihre Unterstützung einholen.“

Tony war erleichtert. Zumindest wurde alles unternommen, um Flavia zu retten. Er wagte jedoch nicht, Pudens zu fragen, wie er ihre Chancen einschätzte.

 

Kaum waren Tony und Morvran auf dem Hof des Guts von ihren Pferden gesprungen, erschien Gudullus. Er hatte einen großen Bluterguss am Auge und führte sie ins Haus.

„Wie geht es Ildiger?“, fragte Morvran.

„Nicht gut. Seine Brüder sind bei ihm. Seht trotzdem bitte zuerst nach Severus.“

Sie betraten das Schlafzimmer. Marcia lag neben ihrem Mann und hielt seine Hand. Sie hatte eine Wunde an der Stirn, die zum Glück bereits verkrustet war. Severus jedoch hatte eine klaffende Wunde am Unterschenkel, aus der ein Knochen herausragte.

Jetzt bräuchten sie den Spezialisten Wackeron!

Doch das wirklich Erschütternde war Severus’ seelischer Zustand. Er war wie erloschen. Nie hätte Tony gedacht, dass er Severus einmal so sehen würde.

Morvran raunte ihm ins Ohr: „Wir haben keine Zeit, Wackeron kommen zu lassen. Du musst den Knochen richten.“

Normalerweise hätte Tony entsetzt abgewinkt. Aber das ging jetzt nicht. Sie mussten schnell handeln.

Ein zitternder Sklave berichtete, dass kochendes Wasser bereit stand.

Morvran lächelte ihn an. „Gut gemacht!“

Er reichte dem Sklaven ein Leinensäckchen von der Größe eines Teebeutels. „Gib das in einen Krug und gieße von dem kochenden Wasser darüber.“

Danach wandte er sich Severus zu und sagte sanft: „Publius Flavius, bitte sieh mich an.“

Severus reagierte nicht.

„Sieh mich an!“ Diesmal klang es wie der Befehl eines Decurio.

Langsam wandte ihm Severus den Kopf zu.

„Tony wird dein Bein richten. Er hat es von Wackeron gelernt.“

Severus nickte. Doch es schien ihm völlig egal zu sein.

Zu Tony sagte Morvran: „Ich sehe nach Ildiger und den anderen Verwundeten.“ Danach nickte er ihm aufmunternd zu und verließ den Raum.

 

Tony öffnete seinen Kasten mit den Skalpellen und den Knochenzangen. Es waren gebrauchte, aber gute Instrumente aus dem Nachlass eines Arztes.

Es war nicht der erste Beinbruch, den er ganz allein richten musste. Aber davor hatte er immer gewusst, dass Wackeron in der Nähe war und er nur zu rufen brauchte.

Er konzentrierte sich.

Nachdem er seine Instrumente mit dem kochenden Wasser desinfiziert und in der richtigen Reihenfolge ausgelegt hatte, erklärte er Gudullus, wie er sie ihm reichen musste. Dann bat er zwei besonders kräftige Sklaven, ihren Herrn festzuhalten. 

Der Schmerz brachte Severus wieder zu sich. Er schrie. Schnell schoben sie ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne.

Ganz wie Wackeron es ihm beigebracht hatte, blendete Tony aus, dass es sich bei seinem Patienten um Severus handelte und er ihm Schmerzen zufügte. Er hatte stattdessen nur ein Ziel: den Bruch so zu richten und zu versorgen, dass Severus sein Bein behalten und wieder benutzen konnte. Und es funktionierte. Beim Strecken des Unterschenkels half ihm wieder Gudullus, der sich auch dabei sehr geschickt anstellte. Am schwierigsten war es, ohne Lupe und den Strahl einer starken Lampe aus der Wunde alle Splitter zu entfernen. Er konnte nur hoffen, dass es ihm gelungen war.

Dann klammerte Tony die Wunde und gab einem Sklaven Anweisungen, wie er das Holz für die Schienen zurechtschnitzen musste. Severus hatte in der Zwischenzeit das Bewusstsein verloren. Als das Bein geschient und verbunden war, atmete Tony auf. Er bemerkte, dass er schweißgebadet war. Und jetzt, da er es geschafft hatte, zitterte er auf einmal am ganzen Körper und musste sich setzen. Erst nachdem er sich ein Stück Fladenbrot in den Mund gesteckt und etwas Wein getrunken hatte, hörte das Zittern allmählich auf.

Tony stand wieder auf und untersuchte Marcias Stirnwunde. Nachdem er sie ausgewaschen hatte, bestrich er sie mit Heilsalbe und verband sie.

Leise ging die Tür auf. Aurelius schlüpfte herein und blieb wie verloren stehen. Er war kreidebleich und wirkte viel kleiner und schmaler als sonst. Marcia richtete sich auf, und er stürzte sich in ihre Arme.

Während sie ihren Sohn streichelte, sah sie Tony an. „Wirst du die anderen begleiten?“

„Natürlich“, antwortete er.

Sie schwieg. Nach einer Weile sagte sie: „Ich wollte, ich wüsste, was Audica zu einem so bösen Menschen werden ließ.“

„Das werden wir vielleicht nie erfahren.“

„Es könnte ein Schlüssel dazu sein, ihn irgendwie zu verstehen.“

Tony zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, an manche Menschen kann man einfach nicht herankommen.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Auch Perpenna gehört zu ihnen.“

Marcia schluchzte plötzlich auf und drückte Aurelius noch fester an sich. „Und er ist mit Audica verbündet.“

Tony sah Flavia in Ketten vor einem triumphierenden Perpenna liegen. Hatte er plötzlich laut gestöhnt? Nein. Es war Severus gewesen, der eben wieder aufwachte. Erleichtert darüber, dass der ihn brauchte, wandte Tony sich zu ihm um. Die Schmerzen mussten fürchterlich sein. Severus krallte seine Hände in das Bettlaken. Und Tony sah wieder eine Spur des alten Kampfgeistes in seinen Augen.

„Musstest du mir etwas amputieren?“, presste Severus hervor.

„Nein. Es ist noch alles dran.“

Severus wand sich hin und her. „Oh, ihr Götter!“, stöhnte er.

„Es tut mir so leid“, sagte Tony.

„Schon gut. Wie lautet deine Prognose?“

Tony zögerte, aber er wusste, dass Severus die Wahrheit hören wollte, auch wenn sie noch so unangenehm war. „Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung.“

Er öffnete seine Medizinkiste und nahm das kleine Fläschchen mit dem Saft des Schlafmohnsamens heraus. Severus öffnete den Mund und steckte die Zunge heraus. Tony träufelte von dem Saft darauf. Hoffentlich stimmte die Dosis ungefähr. Zu wenig von dem Opium, und Severus würde nicht genug Erleichterung verspüren. Zu viel, und er würde für immer einschlafen. Bekam er es für einen längeren Zeitraum, bestand die Gefahr, dass er süchtig wurde.

Severus wusste all das.

„Ab morgen halte ich es aus, egal, wie schlimm es ist.“

„Ab morgen ist nur noch Morvran hier.“

Trotz seiner Schmerzen versuchte Severus ein Lächeln. Es war leicht verzerrt. „Vielleicht sieht er mir ja tief in die Augen und verhext mich.“

Tony versuchte zurückzulächeln. „Meistens klappt das auch.“

 

Als er über den Flur ging, um Morvran zu helfen, hatte er Severus schon fast vergessen. Er sah nur noch Flavia vor sich, die in einem stockdunklen Verlies lag und von Perpenna gequält wurde. Der Gedanke war nicht abwegig, denn wo sonst sollte sich Perpenna seither aufgehalten haben als bei Audica? Tony blieb stehen. Für einen Moment musste er sich an der Wand abstützen, so sehr setzte ihm diese Vorstellung zu. Und auf einmal hatte er wieder den Gestank von Perpennas Verlies in der Nase und fühlte die Verzweiflung und das Entsetzen.

Sie mussten sofort losziehen! Sie durften nicht eine einzige Sekunde mehr verlieren.

Beim Anblick von Ildiger überkamen ihn jedoch Zweifel. Er hatte im Gesicht eine tiefe Wunde von einem Schwerthieb, die ihn wohl für immer entstellen würde. Doch viel schlimmer war der Axthieb, den er in den Nacken bekommen hatte. Der hatte seine Wirbelsäule zwar knapp verfehlt, sich aber tief in den Muskel gebohrt. Morvran bereitete gerade alles vor, um die Wunden zu nähen. Hoffentlich entzündeten sie sich nicht. Tony glaubte auch Anzeichen dafür zu sehen, dass Ildiger Fieber bekam. Er konnte ihn doch nicht im Stich lassen! Er konnte nicht alles Morvran überlassen. Es war nicht fair. Aber er konnte auch nicht hier bleiben und in Ruhe abwarten, was Bassus und die anderen Soldaten erreichen würden. Verzweifelt stand er da.

„Morvran“, wandte er sich hilfesuchend an den Kelten.

Der sah ihn mit seinen unergründlichen Augen an. „Du musst den anderen folgen“, sagte er.

Wie konnte es nur sein, dass Morvran immer wusste, was in Tony vorging?

„Aber …“, Tony deutete auf Ildiger.

„Ich komme klar“, sagte Morvran ernst. „Du musst gehen und dein Schicksal erfüllen.“

Was meinte er damit? Aber Tony fragte nicht nach. Bevor er ging, setzte er sich zu Ildiger und berührte seine Hände.

„Geh und finde Flavia“, sagte der leise.

Tony schluckte. Es war einfach nicht richtig. „Ildiger …“

„Geh! Ich verspreche, nicht zu sterben.“

 

Bassus saß auf einem Hocker direkt vor dem jungen Krieger, der an einen Stuhl gefesselt war. Der Mann gehörte zu denen, die ihn während seiner Gefangenschaft bei Audica besonders eifrig drangsaliert hatten. Unvorsichtigerweise war er heimlich in sein Dorf zurückgekommen, um seine junge Frau nachzuholen. Aber deren Familie hatte damit gerechnet und ihn überwältigt.

Zuerst hatte der junge Germane vor Bassus ausgespuckt. Das brachte ihm einen heftigen Schlag von seinem Schwiegervater ein. Aber immer noch gab er sich hochmütig und überschüttete Bassus mit Spott und Hohn. Jetzt musste er etwas in dessen Augen gelesen haben, denn auf einmal verstummte er. Bassus rückte noch näher an ihn heran. Der Germane rutschte weg. Der Boden war jedoch so uneben, dass er nicht weit kam. Bassus sah ihm weiter unverwandt in die Augen, als versuchte er dort etwas zu finden, sagte jedoch nichts.

„Na los, schlag schon zu“, zischte der Germane.

Aber Bassus reagierte nicht. Dann stand er plötzlich auf und ging zur Tür. Unterwegs legte er den Arm um Tonys Schultern und zog ihn mit sich.

 

Sie sahen einander nicht an, während sie vor dem Haus standen und von drinnen die Schreie des Gefangenen hörten. Tony ging vieles durch den Kopf. Vor allem wollte er, dass der Mann ihnen sagte, ob Flavia noch lebte und wo sie festgehalten wurde. Außerdem sagte er sich, dass der Mann Bassus gequält hatte, um ihm Informationen zu entlocken. Aber er ekelte sich auch vor sich selbst, weil er ungerührt zuhörte, wie jemand gefoltert wurde.

Dann stellte er sich vor, dass es Perpenna war, der da gefoltert wurde, und sofort verhärtete sich alles in ihm.

„Dass man etwas Schlechtes tut, um etwas Gutes zu erreichen, macht das Schlechte nicht zu einer guten Sache“, sagte Bassus.

Tony schwieg. Nach einer Weile verstummten die Schreie. Baudio trat heraus und wandte sich an Bassus.

„Der Gefangene ist jetzt bereit, mit dir reden. Du als Anführer der Kundschafter weißt am besten, was für Fragen ihm gestellt werden müssen.“

Sie gingen wieder hinein. Während der germanische Krieger erzählte, zeichnete Bassus eine Landkarte, die immer genauer wurde.

 

Sechs Tage später waren sie zu einer Bergregion vorgedrungen. Ihr Trupp war auf fast fünfzig Soldaten angewachsen: Bassus und seine Männer, die komplette Turma von Fabius Pudens, Gudullus und die beiden Brüder von Ildiger, außerdem Männer dreier germanischer Heerführer, einer von ihnen Baudio.

Tony hatte zwar seine Arztausrüstung dabei, sah sich auf dieser Mission jedoch vor allem als Soldat. Marcia hatte ihm beim Abschied noch Severus’ besten Dolch und Speer mitgegeben.

Er ritt wie in Trance. Julia schien es genauso zu gehen, denn das Tier schritt stoisch vor sich hin. Die meiste Zeit dachte Tony an Flavia. Aber immer wieder schoben sich auch Bilder von Melanie dazwischen. Melanies Gesichtchen mit der Angst darin, wenn sie sich ihrem Elternhaus genähert hatten. Und Melanies im Tod erstarrte Augen. Auch nachts, in seinen Träumen, verschmolzen Flavia und Melanie oft zu einer Person.

Manchmal merkte Tony, dass er Durst hatte. Doch er vergaß es wieder. Sie waren angehalten, wenig zu trinken, damit ihre Vorräte möglichst lange hielten. Das mit Essig vermischte Wasser schmeckte bereits schal, und manchmal dachte Tony an die Bakterien, die sich dort bildeten. Es war erstaunlich, dass noch niemand Durchfall hatte. Auch er nicht. Aber diese Zeiten waren anscheinend vorbei.

Außerdem stanken sie. Ihre Kleider waren verschwitzt und ihre Haare fettig. Das wiederum war ein Fressen für die Schnaken, die in Schwärmen über sie herfielen. Längst hatten sie alle blanken Hautstellen mit Stoff umwickelt, aber ein Teil ihrer Gesichter blieb natürlich frei, und darauf stürzten sich die Biester. Alle paar Sekunden zerquetschte Tony eines von ihnen, aber da hatte es bereits zugestochen. Ihm war klar, dass sein Gesicht inzwischen genauso geschwollen und blutig gekratzt war wie die Gesichter der anderen.

Aber er machte sich diese Dinge nur hin und wieder bewusst. Das einzige, das ihn wirklich in den Wahnsinn trieb, war ihr quälend langsames Tempo.

In diesen dunklen, mit Urwald bewachsenen Bergen, in denen auf Schritt und Tritt kleine Felsbrocken herumlagen, konnten sie nur hintereinander reiten. Bassus ritt mit der Landkarte voraus. Er und seine Kundschafter waren die einzigen, die in dieser Wildnis wie in einem Buch lesen konnten und deshalb die Richtung angaben. Die Folgenden mussten sich an ihrem Vordermann und dessen Packpferd orientieren. Auf dem vordersten saß Harpalos und wirkte genauso konzentriert wie die Soldaten.

Manchmal hörten sie gedämpftes Grunzen und Schmatzen und nachts das Heulen von Wölfen. Doch zu sehen bekamen sie nur ab und zu ein Wildschwein, das schnell die Flucht ergriff.

 

Gegen Mittag wurde es heller. Sie waren zu Fuß eines Berges an einer Stelle angelangt, die früher einmal gerodet war und wieder zuwuchs. Dazwischen lagen Ruinen von Häusern. Bassus hielt an und sprang vom Pferd. Er stieg auf einen Felsen und wartete, bis alle sich um ihn versammelt hatten.

„Wir sind auf dem richtigen Weg“, rief er. „Das ist das verlassene Dorf, von dem Audicas Gefolgsmann uns berichtet hat.“

Pudens und Baudio kletterten zu ihm.

Bassus fuhrt fort: „Wir bleiben in diesem Dorf. Audicas Lager ist auf der anderen Seite des Berges, eine halbe Tagesreise nach Osten. Es ist nur zu Fuß zu erreichen, denn ein Stück weiter kommt ein Hang, der auf unserer Seite komplett aus lockerem Felsengeröll besteht.“

Ein Reiter der Ala Noricorum hob die Hand. „Bedeutet das, dass Audica keine Pferde bei sich hat?“

„Er hat Pferde. Es gibt einen einfacheren Weg zu seinem Lager, der mit Pferden begehbar ist.“

Baudio ergänzte: „Das hier ist eine Abkürzung und unsere einzige Chance, Audica zu überraschen.“

Fabius Pudens fuhr fort: „Nur Bassus und seine Kundschafter ziehen von jetzt an weiter. Sie sollen feststellen, wo genau Flavia gefangen gehalten wird. Sollten sie eine Möglichkeit sehen, sie zu befreien, werden sie es tun. Wenn es zu riskant ist, kehren sie um, und wir überlegen, wie wir weiter vorgehen. Doch jetzt ruhen wir erst einmal aus und gönnen uns ein richtiges Essen.“

Bassus deutete mit der Hand nach links. „Dort hinten muss ein größerer Bach sein. Angeblich ist er breit und tief genug, um darin zu baden.“

Die Männer blickten sofort sehnsüchtig in die Richtung, warteten jedoch geduldig, bis ihre Anführer sie entließen.

 

Nachdem Julia getrunken hatte, wälzte sie sich auf dem Rücken im Sand. Auch Tony fühlte sich wie erlöst, als er endlich ausgiebig trinken und sich waschen konnte. Harpalos schien es ähnlich zu gehen. Nachdem er getrunken und im Wasser geplanscht hatte, raste er aufgeregt durch das Lager und sprang immer wieder in die Luft.

Während Tony wie alle anderen auch seine getragenen Kleider wusch, stiegen ihm allmählich die Düfte eines Eintopfes aus frischem Wildschweinfleisch, Kräutern, Nüssen und Wurzelgemüse in die Nase.

Nach dem Essen sah er sich nach Bassus um und entdeckte ihn ein Stück entfernt von den anderen. Harpalos lag neben ihm. Tony ging zu den beiden hinüber und setzte sich.

„Das hat gut getan“, seufzte er. „Trotzdem würde ich am liebsten sofort wieder weiter ziehen. Ich möchte Flavia keine Minute länger in Audicas und Perpennas Händen wissen.“

„Wir machen uns heute noch auf den Weg. Aber vorher möchte ich etwas mit dir besprechen.“

Bassus Stimme klang sehr ernst.

„Sicher. Worum geht es?“

Bassus griff unter sein Halstuch und zog das Medaillon heraus.

„Unsere Mission ist sehr gefährlich. Ich möchte, dass du das hier wieder trägst.“

Tony verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll das? Ich will es nicht mehr haben.“

„Bitte, Tony.“

„Es gehört dir. Der Druide hast es dir geschenkt.“

„Du bist mein Sohn, und jetzt möchte ich, dass du es trägst.“

„Nein!“

Auf einmal standen Tränen in Tonys Augen.

Bassus legte ihm die Hand auf die Schulter. „Warum denn nicht?“

Warum? Er wusste es selbst nicht. Aber er fühlte sich immer elender.

„Es ist, als würdest du mich wegschicken“, sagte er schließlich.

„Das würde ich niemals tun.“

„Aber was, wenn es mich in einem Moment der Gefahr wieder in die Zukunft bringt?“

„Du wolltest doch immer zurück.“

„Das ist lange her. Warum habe ich dir das Medaillon wohl zugesteckt?“

„Das habe ich schon verstanden. Aber ich muss auch immer daran denken, dass du nicht freiwillig in unsere Welt gekommen bist.“

„Wenn ich jetzt wählen könnte, würde ich mich für ein Leben hier entscheiden.“

„Es ist leicht, so etwas zu sagen, wenn man nicht wirklich eine Wahl hat.“

Tony verstand nicht, warum er auf einmal so wütend wurde. „Ich will es nicht mehr!“

„Es ist doch gar nicht erwiesen, dass es dich wieder in die Zukunft zurückbringen würde.“

„Und wenn doch?“

„Nun, immerhin gibt es dort etwas, das du gerne erledigen würdest.“

Roland.

„Ich werde damit leben können, dass es unerledigt bleibt.“

Bassus gab nicht auf. „Ich möchte dich nicht wegschicken, Tony. Es würde mir das Herz brechen, dich zu verlieren. Aber falls wir in Lebensgefahr geraten sollten und es einen von uns erwischt, dann sollte das ich sein und nicht du. Verstehst du das denn nicht?“

Über Tonys Wangen liefen Tränen. „Ich wollte, ich wäre nicht aus einer anderen Zeit.“

Aber er nahm das Medaillon. Kaum hielt er es in der Hand, war ihm als liefen Stromkabel durch seinen Körper. Eine Zeitlang konnte er sich nicht mehr bewegen. Erst allmählich brach der Bann.

„Ich möchte hier bleiben. Ich möchte eines Tages Flavia heiraten. Und ich möchte, dass du der Großvater meiner Kinder bist“, sagte er mit fester Stimme. 

Bassus sah ihn so seltsam an, wie es sonst nur Morvran tat.

Tony griff nach seiner Hand und legte das Medaillon wieder hinein. „Was sollte ich in einer Welt ohne dich und ohne Flavia?“

Resigniert zog Bassus es über seinen Kopf.

 

Am späten Nachmittag brachen sie auf. Die erste Strecke durch den Wald führte lange Zeit nur bergauf. Das war nicht nur wegen der Steigung mühsam, sondern auch, weil der Nachmittag sehr bald in den Abend überging. Mit jedem Schritt wurde es dunkler. Außerdem trugen sie schweres Gepäck. Tony musste an die Legionäre denken, für die noch viel schwerere Lasten normal waren. Wie schafften sie das nur?

Harpalos, der sich ihnen angeschlossen hatte, lief leichtfüßig neben ihnen. Aber er trug ja auch nichts auf dem Rücken.

Bassus führte ihre Gruppe an. Tony folgte zusammen mit einem Kundschafter namens Galarius. Hinter ihnen gingen die beiden anderen. Harpalos war mal vorne, mal hinten.

Nach etwa drei Stunden erreichten sie das Felsenmeer. Es war in das silberne Licht des Mondes getaucht. Tony starrte verzweifelt hinauf. Es war unmöglich, diese Lawine aus Steinen zu überqueren! Noch dazu nachts! Die einzelnen Brocken waren meterhoch und mit schroffen Spitzen versehen. Aber Bassus’ Männer begannen sofort zu klettern. Sie machten dabei nicht das geringste Geräusch. Tony verstand immer mehr, warum es Jahre dauerte, einen guten Kundschafter auszubilden.

Bassus sah ihn an. „Es hilft nichts, du musst da hinauf. Sieh dir genau an, wie die anderen das machen. Und dann mach es einfach nach. Du schaffst das.“

Ja, selbst wenn er es schaffte, sie mussten hier ja auch wieder hinunter. Das würde noch schwerer werden.

Auch Bassus kletterte jetzt hinauf. Tony sah ihm hinterher und versuchte, seine Bewegungen nachzumachen. Bassus bewegte sich absichtlich langsamer. Trotzdem entging Tony hin und wieder eine Fuß- oder Handbewegung, und er rutschte ab.

Er musste sich noch mehr konzentrieren. Es wäre eine Katastrophe, wenn er sich etwas brechen oder auch nur verstauchen würde.

„Du musst ganz entspannt bleiben“, riet Bassus.

Klar. Immer schön locker bleiben.

Doch dann packte Tony der Ehrgeiz. Er war der mit Abstand jüngste der Truppe. Er konnte es doch nicht zulassen, dass diese Männer ihn alt aussehen ließen.

„Ich bin ein Salamander“, sagte er sich. Und er spürte, wie seine Bewegungen geschmeidiger wurden.

Als er oben angelangt war, sagte Galarius: „Seht euch Harpalos an.“

Sie sahen nach unten. Der Hund schaffte es ebenfalls hinauf.

Die Männer lachten. „Eine seiner Ahninnen muss sich mit einem Steinbock eingelassen haben.“

Ein letzter Sprung, und Harpalos stand schwanzwedelnd neben ihnen.

 

Kaum war am nächsten Tag die Sonne aufgegangen, waren sie wieder auf den Beinen. Zuerst liefen sie auf der Kuppe des Berges nach Norden, dann führte Bassus sie allmählich bergab. Sie stiegen jedoch nicht bis ganz ins Tal hinunter, obwohl sie dort das Wasser eines kleinen Flusses rauschen hörten.

Je weiter sie vorankamen, umso nervöser wurde Tony. Mit diesem Gefühl schien er jedoch allein zu sein. Bassus und seine Männer liefen schweigend mit geschmeidigen, lautlosen Schritten dahin.

Es waren schließlich keine Stimmen, sondern der Geruch von brennendem Holz und Essen, der ihnen sagte, dass sie sich Audicas Lager näherten. Tonys Puls beschleunigte sich. War Flavia hier? War sie noch am Leben? War auch Perpenna hier?

Bassus führte sie wieder ein Stück den Berg hinauf und bat sie, sich im Kreis niederzusetzen.

Er deutete auf Galarius: „Du erkundest die Umgebung.“

Galarius verschwand wie ein Schatten zwischen den Bäumen. In seiner Umhängetasche hatte er das Nachtfernglas. Bassus hatte ihm erklärt, dass es ein Instrument aus einem fernen Land war, und ihm gezeigt, wie er es benutzen musste. Dass man damit auch im Dunklen sehen konnte, hatte er Galarius jedoch nicht gesagt.

Sie warteten stundenlang.

„Könnte ihm etwas zugestoßen sein?“, fragte Tony.

Bassus schüttelte den Kopf. „Nein. Er muss sich Zeit lassen. Die Informationen, die er sammelt, müssen so präzise wie möglich sein.“

Tony bemühte sich, genauso geduldig dazusitzen und zu warten wie die anderen. Dann, endlich, kam Galarius zurück. Er reichte ihnen den genauen Lageplan, den er unterwegs gezeichnet hatte, und berichtete:

„Sie haben Wachposten, aber in der anderen Richtung. Sie erwarten, dass mögliche Verfolger den Fluss herauf kommen.“

Tony war erleichtert. Das war das, was sie gehofft hatten.

„Aber was ist mit Flavia?“, fragte er bang.

„Ich glaube, ich konnte das Gebäude identifizieren, in dem sie vermutlich gefangen gehalten wird. Jedenfalls deutet einiges darauf hin, dass jemand dort festgehalten wird.“

„Ist es ein Gebäude, in dem sich ein Keller mit einem Verlies befinden könnte?“

Tonys Stimme zitterte leicht.

Galarius sah ihn verwundert an. „Das bezweifle ich. Es sind alles sehr einfache Häuser.“

„Was genau hast du dort beobachtet?“, fragte Bassus.

„Das Haus, das ich meine, steht in der Mitte. Audica wohnt zusammen mit einer Frau im Haus daneben. Diese Frau ist mit Essen und einem Becher Wasser zu dem Haus in der Mitte gegangen und später wieder mit dem leeren Tablett herausgekommen.“

„Was ist das für eine Frau, die mit Audica zusammen lebt?“, fragte Bassus. „Hattest du den Eindruck, dass sie dazu gezwungen wird?“

Galarius dachte nach. „Schwer zu sagen. Sie machte jedenfalls keinen glücklichen Eindruck. Aber ob Audica dafür die Ursache ist?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Hast du Perpenna gesehen?“, fragte Bassus jetzt.

Galarius schüttelte den Kopf. „Ich habe nur Germanen gesehen. Nichts, was auf die Anwesenheit eines römischen Sklavenhändlers hinweisen könnte.“

„Gut“, sagte Bassus. „Dann schlage ich vor, dass wir jetzt erst einmal ein Floß bauen und es am Flussufer verstecken.“

 

Es war dunkel geworden. Tony und Bassus würden noch bis Mitternacht warten, bis sie mit dem Fernglas losziehen würden. Bassus hatte ihm vorgeschlagen, noch etwas zu schlafen, aber das konnte Tony nicht. Er saß an einen Baum gelehnt und sah Bassus im dünnen Strahl des Mondlichts, das gerade noch durch die dichten Baumkronen drang, am nächsten Baum sitzen. Inzwischen konnte auch Tony aus dem Stand der Gestirne die Himmelsrichtungen und die ungefähre Zeit bestimmen. Außerdem hatten sie, wie alle Soldaten, ein Stundenglas dabei. Es stand neben einem abgedeckten kleinen Öllämpchen, das sie hin und wieder aufdeckten, um zu sehen, ob der Sand schon durchgerieselt war.

Nur noch wenige Minuten, und der letzte Durchlauf würde zu Ende sein. Zeit, den ersten Mann zu wecken, der in ihrer Abwesenheit Wache halten musste. Bassus berührte sanft seine Schulter. Der Mann war sofort wach und setzte sich auf.

„Tony und ich ziehen jetzt los“, flüsterte Bassus ihm zu.

Der Soldat nickte. „Mögen die Götter euch beistehen“, flüsterte er.

 

Alles klappte wie am Schnürchen. Ihre Taschen, Waffen und Kleider schoben sie auf dem Floss vor sich her. Neben ihnen paddelte Harpalos. Tony spürte die Kälte des Wassers nicht. Jetzt, wo es passierte, war er völlig gefühllos und schwamm mit denselben ruhigen Bewegungen wie Bassus. Als das Dorf in Sichtweite kam, hielten sie an. Bassus beobachtete die Häuser mit dem Nachtfernglas. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. Keine Wächter auf dieser Seite. 

Sie stiegen ans Ufer und zogen sich wieder an. Das Floß machten sie fest. Bassus flüsterte ihm zu, dass sie ihre Umhänge ins Wasser tauchen sollten. Mit dem nassen Stoff konnten sie im Notfall durch Flammen laufen.

Danach kam der schwierigste Teil: Sie mussten durch das gesamte Dorf bis zu dem Haus in der Mitte, ohne dass Hunde bellten oder Gänse schnatterten. Harpalos musste zurückbleiben. Bassus befahl ihm, am Ufer sitzen zu bleiben und auf sie zu warten. Er gehorchte, aber glücklich schien er nicht zu sein.

Geduckt schlichen sie auf den verschlungenen Pfaden, die Galarius für sie ausgekundschaftet hatte. Manchmal robbten sie sogar auf dem Bauch.

Endlich waren sie an der grob gezimmerten Holztür des Hauses angelangt. Tony tastete nach seinen Laserpointer, den er an einer Schur um den Hals trug. Bassus drückte die schwere Tür vorsichtig auf. Drinnen war es stockdunkel. Mit dem Nachtfernglas ging er langsam hinein. Tony folgte und hielt sich an Bassus’ Hemdzipfel fest. Der Raum schien sehr groß und sehr hoch zu sein.

Plötzlich ging am anderen Ende eine Tür auf, und ein Germane mit einer Axt und einer brennenden Fackel stürzte herein. Ihm folgten drei weitere, schwer bewaffnete Männer.

„Lösch die Fackel!“, rief Bassus.

Tony trat nach dem Arm des Germanen, und die Fackel flog zu Boden. Der Germane hob die Axt. Tony kickte die Fackel weg und warf seinen nassen Umhang auf sie. Sie erlosch, und es war wieder dunkel.

Schnell warf Tony sich zur Seite. Die Axt traf ins Leere.

Tony teilte nach allen Seiten Hiebe und Tritte aus Vermutlich traf er auch, denn hin und wieder schrie jemand vor Schmerz auf. Schade, dass sie nur das eine Nachtfernglas hatten. Nach einer Weile wurde es leiser. In der Dunkelheit stöhnte ein Mann.

„Bassus?“, fragte Tony besorgt.

„Ich lebe noch.“

Sie schlichen in den Korridor, aus dem ihre Angreifer gekommen waren. An seinem Ende musste der Hinterausgang des Hauses sein. Durch ihn wollten sie das Haus wieder verlassen. Jetzt fanden sie dort jedoch eine angelehnte Tür vor, aus der ein schwacher Lichtschein drang. Je näher sie kamen, desto mulmiger fühlte Tony sich. Er hielt Bassus zurück.

Doch der raunte: „Es hilft nichts, Tony, wir müssen dort hin.“

Eine zarte Stimme rief: „Bitte nicht!“

Mit einem Satz war Tony durch die Tür und erstarrte.

Er stand in einem gemütlichen Schlafzimmer. Da waren ein Bett, daneben ein Nachtkästchen mit einem Öllämpchen darauf, eine Kommode und Stühle.

Und hinten, an der anderen Wand, war noch eine Tür.

Der Hinterausgang. Ihr Fluchtweg.

Und er war versperrt. Flavia und zwei Männer standen davor. Einer von ihnen hielt dem Mädchen einen Dolch an die Kehle.

„Salve, Tony und ehrenwerter Flavius Bassus!“, sagte Perpenna freundlich. „So sieht man sich wieder.“

Audica sagte nichts. Er bugsierte Flavia zum Bett und setzte sich neben sie. Den Dolch hielt er immer noch an ihren Hals. Perpenna setzte sich auf einen Stuhl und schlug ein Bein über das andere. Er drapierte seine wie immer tadellosen Kleider neu, legte seine schlanken Hände mit den teuren Goldringen auf sein Knie und strahlte Tony und Bassus an.

„Setzt euch doch auch. Plaudern wir ein bisschen.“

Sie blieben stehen. Tony sah Audica in die Augen und begriff, dass er Flavia in jedem Fall töten würde.

Eine große innere Ruhe kam über ihn. Wenn sowieso alles verloren war, dann würde er kämpfen und Audica und Perpenna mit in den Tod nehmen. Davonkommen durften sie nicht. Wenn Flavia, er und Bassus sterben mussten, dann mussten alle sterben!

Tony lehnte sich an die Wand. Langsam senkte er den Kopf. Dabei hob er die Hand und legte sie auf sein Herz. Es sollte so aussehen, als ergäbe er sich.

Perpenna lächelte triumphierend. Tony hoffte, dass Bassus seine Geste verstanden hatte: dass er ihn auf den Laserpointer aufmerksam machen wollte. Jetzt legte auch Bassus die Hand aufs Herz und senkte den Kopf, als würde er sich Tony schweren Herzens anschließen. Er hatte verstanden!

Tony nahm mit Bassus Augenkontakt auf und lenkte dessen Aufmerksamkeit zur Öllampe und dann zu Audicas Brandnarbe. Bassus neigte seinen Kopf noch tiefer - wieder zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

Sie mussten sich beeilen, denn aus der großen Halle drangen Rufe. Und sie mussten ihre beiden Gegner gleichzeitig ausschalten.

Neben dem Öllämpchen lag ein Tuch. Gleich dahinter hing an einem Haken an der Wand ein Umhang. Gut. Tony schloss seine Hand um den Laserpointer und knipste ihn an. Bassus müsste die beiden jetzt ablenken.

„Sie werden euch bis ans Ende der Welt jagen“, rief Bassus.

Die beiden lachten.

„Nur zu. Sollen sie“, höhnte Audica.

„Die Welt ist groß. Niemand wird uns finden“, ergänzte Perpenna.

„Aber dort leben Barbaren. Dort könnt ihr nicht das Leben führen, das ihr gewohnt seid“, warf Bassus ein.

Anscheinend hatte er einen wunden Punkt getroffen, denn Perpenna wurde ungehalten.

„Hör zu, du mieser, primitiver Thraker …“

Jetzt! Tony richtete den Strahl direkt in Audicas Augen und gleich danach in die von Perpenna. Bassus stürzte sich auf Audica, packte den Arm mit dem Dolch und zerrte Flavia weg. Tony warf das Lämpchen um und steckte den Lappen in Brand. Dann riss er den Umhang vom Haken warf ihn in die Flammen. Das Feuer loderte sofort.

Bassus zog Flavia mit sich zur Hintertür und stieß sie hinaus.

„Lauf zum Fluss und warte auf uns. Wenn wir nicht kommen sollten, folge Harpalos!“

Flavia verschwand in der Dunkelheit.

Bassus war sofort wieder an Tonys Seite. Audica und Perpenna brannten lichterloh. Geblendet durch den Laserpointer waren sie umhergewankt und in die Flammen geraten. Perpenna kroch auf dem Boden und tastete nach dem Ausgang.

Audica schrie germanische Worte, während ihm Tränen über die Wangen liefen.

„Weg hier! Schnell!“, rief Bassus.

Sie rannten hinaus. Das ganze Dorf war jetzt auf den Beinen.

Immer wieder drehte Tony sich um und leuchtete mit dem Laserpointer in die Augen ihrer Verfolger.

Als sie wieder bei ihrem Floß angelangt waren, war von Flavia und Harpalos nichts zu sehen.

„Flavia!“, rief Tony.

„Da bin ich!“

Sie tauchte mit dem Hund aus dem Dunkel auf.

Bassus und Tony schwammen und zogen das Floß mit Flavia und dem Hund. Am anderen Ufer liefen sie im seichten Wasser flussauf und zogen das Floß an einem Strick hinter sich her. Sie wussten, dass sie fürs Erste in Sicherheit waren. Audicas Leute hatten jetzt andere Sorgen. Sie mussten dafür sorgen, dass nicht das komplette Dorf abbrannte. 

Bassus‘ Männer kamen ihnen entgegen. Sie hatten den Widerschein des Feuers am Himmel gesehen und sich Sorgen gemacht. Nachdem das Floß versenkt war, machten sie sich sofort auf den Rückweg.

Gegen Mittag erreichten sie das Felsenmeer. Der kräftigste von Bassus‘ Männern trug Flavia auf dem Rücken. Sie hatte zwar eine Schnittwunde am Hals, aber wenn sie sich nicht entzündete, würde Flavia das überstehen. Tony hatte sie jedenfalls mit seiner Wundsalbe behandelt und ihr einen Verband angelegt.

Er war so aufgedreht, dass er, ohne es zu merken, über die gefährlichen Felsbrocken geklettert war. Jetzt stand er unten und verfolgte ängstlich die Mühen des Kundschafters, der Flavia trug. Doch seine Sorgen waren unnötig. Der Mann kletterte so ruhig und besonnen, als hätte er jahrelang nichts anderes getan, als mit jungen Mädchen auf dem Rücken Felslawinen zu überqueren.

Wieder bei den anderen, schilderten sie ihre Erlebnisse. Bassus berichtete, dass Audica immer wieder nach seinem Vater gerufen und nach Wasser geschrieen hatte. 

Sie vermuteten, dass er als Kind in dem Festsaal dabei war, als dessen Türen versperrt worden waren, um die germanischen Rebellenführer zu töten. Es musste seinem Vater gelungen sein, Audicas Kleidung mit Wasser zu tränken und ihn dann in ein Versteck zu schieben.

 

Am nächsten Morgen drängte Fabius Pudens sie noch vor Sonnenaufgang zur Eile. Er und die anderen wollten sich Audicas Leuten entgegenstellen – falls die überhaupt noch kamen. Ihre kleine Gruppe hingegen sollte zusammen mit Gudullus auf dem kürzesten Weg zum Rhein reiten. Tony sollte mit Flavia und Gudullus übersetzen, und Bassus mit seinen Männern umkehren und wieder zu den anderen stoßen.

 

Unterwegs hatte Tony keine einzige ruhige Minute mit Flavia. So sehr beeilten sie sich.

Schon nach vier Tagen hatten sie den Rhein erreicht.

Ungeduldig warteten sie auf eine Liburne der Flotte. Königlich und bunt bemalt tauchte endlich eine am Horizont auf.

Die Kundschafter sprangen auf ihre Pferde. „Wahrscheinlich kommt es gar nicht zu einem Kampf“, sagte Bassus. „Dann sind wir in wenigen Tagen zurück.“

Tony winkte ihm nach, bis die kleine Gruppe verschwunden war. Dann wurde er auf einmal unruhig. Irgendetwas an Bassus war anders gewesen. Tony schloss kurz die Augen. Was war es nur?

Doch zum Nachdenken war keine Zeit. Die Liburne legte an. Während er Flavia und Harpalos an Bord begleitete und dem Offizier erklärte, was vorgefallen war, brachte Gudullus ihr Packpferd und sein Reitpferd auf das Boot. Jetzt musste Tony nur noch Julia holen.

Er zog sie bereits hinter sich her, als ihm einfiel, was ihn beschäftigte: Er hatte das Medaillon nicht um Bassus‘ Hals gesehen!

Wenn Bassus es nicht trug, wo war es dann? Hatte er es etwa verloren? Tony griff mit zitternden Händen in seine Umhängetasche.

„Bitte lass es nicht da sein“, flüsterte er zu irgendeinem unbekannten Gott. „Bitte lass es ihn bei sich haben.“

Dann fand er es. Ganz unten. Er stöhnte.

Langsam richtete er sich auf. Der Kapitän der Liburne wartete schon ungeduldig. Tony schüttelte den Kopf.

„Ich folge den anderen!“

Der Offizier nickte. Dann winkte er ihm kurz zu und ließ die Holzplanke einholen. Die Liburne legte ab.

Flavia sah entsetzt zu ihm herüber. Harpalos bellte.

„Bleib bei Flavia!“, rief er dem Hund zu.

Harpalos legte den Kopf schief. Dann drückte er seine Schnauze an Flavias Hüfte. Sie weinte.

Ihm war auch nach Weinen.

„Ich komme wieder!“, brüllte er.

„Versprich es!“

„Großes Ehrenwort!“

 

Tony jagte Bassus und seinen Männern hinterher. Aber gegen Abend musste er sich eingestehen, dass er ihre Spur verloren hatte. Er hatte es bis zu einem Dorf geschafft, das sie am Tag davor passiert hatten. Hier hätten sie wieder vorbeikommen müssen. Aber die Dorfbewohner hatten die Kundschafter nicht gesehen.

Tony versuchte es in der Schenke. Einer der Germanen, die dort saßen und tranken, winkte ihn zu sich her.

„Ich bin den römischen Kundschaftern am frühen Nachmittag begegnet. Sie waren auf dem Weg hierher. Aber dann kam ein germanischer Reiter, sprach mit ihnen, und sie ritten zusammen mit ihm davon.“

„In welche Richtung sind sie geritten?“

„Keine Ahnung.“

Es half nichts. Tony musste hier übernachten und am nächsten Tag die Gegend absuchen, bis er Bassus’ Spur wieder gefunden hatte.

Er legte sich im Stall neben Julia ins Stroh. Aber schlafen konnte er lange nicht.

Wenn nur Bassus nichts zustieß! Sobald sie wieder zuhause waren, würde er Bassus bitten, seinen Abschied zu nehmen. Auch er würde nach seiner Ausbildung die Armee verlassen und sich als freier Arzt niederlassen. In einigen Jahren würde er Flavia heiraten und eine Familie gründen. Sie mussten nur diese letzte Mission heil überstehen. Das war alles.

Am nächsten Morgen war Tony wie gerädert. Trotzdem ritt er die gesamte Umgebung ab. Aber nirgends hatte man Bassus und seine Männer gesehen. Als er in das Dorf ritt, in dem sie Audicas Mann befragt hatten, kam ihm auf einmal Fabius Pudens entgegen. Hinter ihm die Männer seiner Turma. Tony war erleichtert.

„Wo ist Bassus?“

„Das fragen wir uns auch“, wetterte Pudens. „Und was machst du noch auf dieser Seite des Rheins? Wo ist Flavia?“

„Flavia und Gudullus haben mit der Liburne abgelegt. Ich versuche seither, Bassus zu finden.“

Pudens’ Zorn verwandelte sich in Sorge. „Er und seine Männer hätten wieder zu uns stoßen müssen, aber sie kamen nicht.“

„Sie sind mit dem germanischen Boten geritten.“

„Was für ein Bote? Ich habe keinen geschickt.“

„Dann vielleicht einer der Germanen?“

„Warum sollten sie? Sie sind wieder in ihre Dörfer zurückgekehrt. Audicas Leute sind nicht mehr aufgetaucht. Wir glauben, dass er und hoffentlich auch Perpenna in dem Feuer ums Leben gekommen oder zumindest so schwer verletzt sind, dass sie jetzt andere Sorgen haben.“

„Was war das dann für ein Bote?“

Fabius Pudens schloss kurz die Augen.

„Unter den befreundeten Germanen gab es also doch einen Agenten Audicas“, murmelte er.

Er fasste sich wieder und wandte sich an seine Männer. „Es tut mir leid, Leute. Unsere Mission ist noch nicht zu Ende.“

Keiner murrte. Die Reitersoldaten nahmen Haltung an und warteten auf weitere Befehle.

 

Wieder waren sie in einem dichten, dunklen Wald unterwegs. Bassus’ Trupp war am Morgen gesehen worden, gesund und munter. Sie ritten jetzt in dieselbe Richtung.

Auf einmal stutzte Tony. Da vorne, das gab es doch nicht! Dort standen vier Pferde, eines mit einem steilen, geflochtenen Zopf zwischen den Ohren, und ihre Reiter saßen auf dem Boden und ruhten aus.

„Wie? Ihr kommt uns entgegen?“, fragte Bassus Fabius Pudens verwundert.

Dann entdeckte er Tony.

„Was machst du hier?“, rief er alarmiert.

Pudens unterbrach ihn. „Achtung, wir sind in eine Falle gelaufen. Niemand von uns hat euch einen Boten geschickt.“

Bassus und seine Männer griffen sofort nach ihren Helmen und Waffen und sprangen auf ihre Pferde. Tony trieb Julia an. Er hatte nur einen Gedanken: Er musste Bassus das Medaillon zurückgeben!

In diesem Moment brachen sie aus dem Dickicht.

Ein Stein traf Bassus am Kopf. Er war mit solcher Wucht geschleudert worden, dass er von Teres stürzte. Tony wollte zu ihm, Aber jemand packte ihn am Gürtel und zerrte ihn von Julia herunter. Während er fiel, sah er hinter dem benommenen Bassus einen Germanen mit gezogenem Schwert.

„Bassus!“, schrie er.

Dann war es dunkel und still.