X         

 

Im Schein der Wintersonne zog Tony am frühen Morgen los. Den Brief an Trajanus hatte er in Morvrans Kräuterkammer deponiert, auf einem Regalbrett mit Tongefäßen, die der keltische Arzt nur selten benötigte. Es konnte Wochen dauern, bis er den Brief entdeckte und an Trajanus weiterreichte.

Obwohl immer noch Schnee lag und ein eiskalter Wind wehte, war Tony guter Stimmung. Den beiden Tieren schien es ähnlich zu gehen. Teres scharrte unruhig mit den Hufen. Und Harpalos wartete gespannt, dass es endlich losging.

Tony verabschiedete sich von Maius und Lauba, die an der Haustür stehen blieben und ihm hinterherwinkten. Nachdem sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden waren, fühlte er für einen Moment wieder die vertraute Verlassenheit. Entschlossen wischte er sie zur Seite und konzentrierte sich auf seine Umgebung.

Bald erreichte er die Heeresstraße. Erst vor sieben Monaten war er auf ihr nachts nach Köln gelaufen. Es kam ihm jetzt wie Jahre vor. Und weil es hell war, bemerkte er diesmal auch die Meilensteine am Straßenrand, die die Entfernung nach Rom anzeigten.

Der Schnee wurde weißer. Das Sonnenlicht blendete richtig. Gedanklich fasste Tony zusammen: In den Satteltaschen hatte er Kleidungsstücke und leichte Waffen verstaut und auch warme Unterwäsche, Kniestrümpfe und einen Wollumhang für Bassus. Außerdem verschiedene Öle, Salben und Wundbinden. Und für Teres Hufteer und Lederschuhe. In der Umhängetasche, die quer über seiner Schulter hing, steckte seine inzwischen ziemlich lädierte Plastikflasche mit Wasser, einer von Bassus’ Dolchen, das Taschenmesser, der Laserpointer und natürlich sein Urlaubsschein. In der Hand hielt er einen von Bassus’ Ersatzspeeren.

Wahrscheinlich wegen dieses Speeres hatte ihn vorhin eine Patrouille aus einer anderen Ala nach seinen Papieren gefragt.

Beim Anblick des Siegels der Ala Noricorum hatten die Reiter freundlich salutiert und ihm „Gute Reise, Medicus“ gewünscht.

Tony seufzte. Damit würde es bald vorbei sein, und für einen Moment graute ihm vor der Welt auf der anderen Seite des Rheins. Dort würde es keine gepflasterten Straßen und römischen Soldaten geben, die in ihm, dem angehenden Militärarzt, einen Kameraden sahen.

Er brachte Teres zum Stehen. Harpalos war abgebogen, und das Pferd wollte ihm folgen. War das schon der Weg zu Severus? Allein hätte er ihn nie im Leben wiedergefunden. Er schnalzte mit der Zunge, und Teres trabte weiter. 

Der Feldweg zog sich länger hin, als Tony es in Erinnerung hatte. Endlich kamen die Umrisse des Guts in Sicht. Und prompt wurde er nervös. Harpalos schien es ähnlich zu gehen, denn er lief jetzt lieber hinter Teres. Fragte auch er sich, wie er wohl aufgenommen werden würde, nachdem er, genau wie Tony, vor einer Ewigkeit davongelaufen war? Nur Teres trabte ruhig weiter. Er hatte sich ja auch schließlich nie etwas zu Schulden kommen lassen.

Tony grübelte: Wie würde Severus sich verhalten? Und Flavia?

Gleich würden sie da sein.

 

Am Tor saß ein junger germanischer Wächter. Er war bis an die Zähne bewaffnet und rief etwas in den Hof hinein. Dann öffnete er einen Flügel des großen Portals. Ein fremdes, schlankes Mädchen lief heraus. Harpalos sprang an ihr hoch und bellte. Das Mädchen streichelte ihn und versuchte gleichzeitig, ihn abzuwehren. In Harpalos‘ Gebell stimmte nun auch Ferox ein. Die beiden Hunde umkreisten einander und rannten schließlich zusammen weg. Das Mädchen wandte sich ihm zu.

„Tony!“, rief es.

Er reagierte nicht. Schließlich kannte er das Mädchen nicht.

„Kennst du mich denn nicht mehr?“

Er sprang vom Pferd. Teres am Zügel hinter sich herziehend, näherte er sich dem Mädchen. Eine Hitzewelle lief über sein Gesicht. Das Mädchen war wunderschön.

„Flavia?“

Sie lachte und fiel ihm um den Hals. Diesmal wurde ihm am ganzen Körper heiß. Dann trat sie einige Schritte zurück und betrachtete ihn.

„Du hast dich auch sehr verändert.“

„Ja, nun …“ Er hätte ihr gerne ein Kompliment gemacht, aber ihm fiel nichts Passendes ein.

Zum Glück kam in diesem Moment ein Sklave und nahm ihm Teres ab. Flavia griff nach seiner Hand und zog ihn zum Haus.

Vor der Haustür hielt er sie jedoch zurück.

„Hasst Flavius Severus mich noch sehr?“, fragte er.

„Das kannst du gleich selbst überprüfen“, antwortete sie lächelnd und öffnete die Tür.

Doch die erste Person, die ihm im Haus entgegentrat, war nicht Severus, sondern Marcia. Sie nahm ihn einfach in die Arme und drückte ihn an sich.

„Willkommen, Tony. Ich freue mich sehr, dich wieder zu sehen.“

„Ich freue mich auch“, murmelte er beschämt.

Marcia betrachtete ihn von oben bis unten. „Du siehst nicht mehr aus wie ein Junge“, sagte sie schließlich. „Man sieht dir an, dass du Schreckliches hinter dir hast.“

Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er war ja jetzt auch schon vierzehn. Und im Sommer würde er fünfzehn werden. Zum Glück kam eine Sklavin mit der Wasserschüssel und einem Handtuch, und er wusch sich erst einmal die Hände.

Marcia fuhr fort: „Wir wissen, was du bei Perpenna durchgemacht hast. Es tut uns sehr leid.“

„Nun, dank der Ala Noricorum habe ich es überlebt.“

„Aber nur beinahe, wie wir hörten.“

„Papperlapapp“, sagte eine männliche Stimme unwirsch. „Unkraut vergeht nicht.“

„Severus!“, rief Marcia entrüstet.

„Vater!“, rief auch Flavia vorwurfsvoll.

Severus hob die Hände, als würde er sich ergeben. „Schon gut. Da ist er ja jetzt wieder und kann uns neuen Ärger bereiten.“

Tony schluckte. Wenn Severus wüsste! Tony wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. Auf einmal fiel ihm auf, dass jemand fehlte.

„Wo ist Aurelius?“, fragte er.

„Er ist krank“, sagte Marcia, „und ich würde mich sehr freuen, wenn du einmal nach ihm sehen könntest.“

Er war bestürzt. „Natürlich. Sofort. Aber leider habe ich keine vollständige Ausrüstung dabei. Ich bin nur auf Verletzungen eingestellt.“

„Er ist nicht schwer krank“, beruhigte ihn Flavia.

„Trotzdem. Kommt, lasst uns zu ihm gehen“, drängte er. Er war es schließlich gewohnt, dass immer gleich das Schlimmste passierte.

Doch Flavia hatte recht gehabt. Aurelius hatte zwar Fieber, aber es kam eindeutig von einer Erkältung. Seine Mandeln waren gerötet und seine Nasenhöhlen verstopft.

„Das wird wieder“, sagte Aurelius großspurig.

„Stimmt.“

Tony verordnete kalte Wadenwickel und Gurgeln mit Essigwasser. Wenn das Fieber nachließ, sollte Aurelius eine Kräutermischung inhalieren.

„Du machst dich gut als Medicus“, sagte Flavia und strahlte ihn an.

„Ach, du könntest das auch lernen.“

Hoffentlich wurde er nicht wieder rot! Und wohin sollte er mit seinen Händen?

Severus rettete ihn.

„Setz ihr keine Flausen in den Kopf“, knurrte er und fügte hinzu: „Außerdem habe ich Hunger. Lasst uns essen.“

Er eilte hinaus. Marcia und Flavia folgten ihm. Gerade als auch Tony das Zimmer verlassen wollte, entdeckte er Lentulus, der still in einer Ecke saß. Der Sklavenjunge sah ihn vorwurfsvoll an.

„Wie geht es dir?“, fragte Tony ihn.

„Gut. Aber ich habe damals, als du weggelaufen bist, ganz schön Ärger bekommen. Niemand hat mir geglaubt, dass ich nichts bemerkt hatte.“

„Das tut mir leid. Wirklich. Bitte sei mir nicht mehr böse.“

Er hielt ihm die Hand hin. Lentulus sah sie verwundert an.

„Da, wo ich herkomme, schütteln sich Menschen, die böse aufeinander waren und sich wieder versöhnen, die Hand. Zum Zeichen, dass alles wieder gut ist.“

Er streckte noch einmal seine Hand aus. Und diesmal funktionierte es. Lentulus musste jedoch losprusten, als er Tonys Hand schüttelte und ihm dabei fast das Handgelenk auskugelte. Auch Aurelius kicherte.

 

Im Esszimmer traf Tony auf den Wächter vom Tor und lernte drei weitere Germanen kennen. Der ältere war ein Zwillingsbruder von Marcia und hieß Gudullus. Wie Marcia war er schlank und nicht besonders groß, wirkte jedoch viel strenger als sie. Die drei jungen Männer, richtige Hünen mit breiten Schultern, waren Marcias Neffen. Sie waren vor allem für die Sicherheit des Gutes zuständig.

Gudullus, der während des Essens neben Tony saß, erklärte stolz: „Ich habe in einer Ala gedient und erst vor kurzem, nach den Erlass über die 25 Dienstjahre, gekündigt.“

„In welcher Ala warst du?“

„Der Ala Indiana in Burungum.“

„Ihr seid nach einem Germanen namens Julius Indus benannt, nicht wahr?“

„So ist es. Er war von Stamm der Treverer und hat die Römer im Kampf gegen andere germanische Stämme unterstützt.“

„Ich dachte, es gibt längst keine rein germanischen Alae mehr.“

„Ich war einer der wenigen Germanen in der Ala Indiana. Genau wie in den anderen Alae kommt die Mehrzahl der Reiter aus weit entfernten Provinzen.“

„Dann warst du Kundschafter?“

Gudullus lächelte stolz. „In der Tat.“

Tony hätte gerne nach Marcias erstem Mann gefragt, hielt aber den Mund. Das wäre in Severus’ Gegenwart nicht besonders diplomatisch gewesen. Aber er hatte sich getäuscht, denn Severus selbst wandte sich plötzlich an ihn: „Gut, dass du Marcias ersten Mann damals gesehen hast. Nur so haben wir erfahren, dass er noch lebt.“

„Ist es denn ganz sicher, dass er es war?“

„Oh ja. Deine Beschreibung war eindeutig. Wir erhielten von Caesar Nerva Trajanus eine Kopie deiner Aussage.“

Tony wunderte sich, wie effektiv wichtige Informationen verbreitet wurden.

„Kann es nicht noch mehr Männer mit einer solchen Brandverletzung im Gesicht geben?“

„Das ist sehr unwahrscheinlich.“

„Wie ist er eigentlich zu dieser Narbe gekommen?“

In der plötzlichen Stille blickten alle auf Marcia. Aber sie wirkte nicht im Mindesten verlegen, sondern einfach nur traurig.

„Das hat Audica mir nie erzählt. Ich habe ihn einige Male gefragt. Doch er hat immer aggressiver reagiert, und so habe ich das Thema natürlich nicht mehr angeschlagen.“

„Und was ist mit seiner Familie? Hat von denen nie jemand etwas angedeutet?“

Marcia seufzte. „Ach Tony! Weißt du, es waren keine guten Zeiten, als ich ihn geheiratet habe. Er war eines Tages aus dem Nichts zu unserer Sippe gestoßen, und weil er ein guter Jäger und Krieger war, durfte er bleiben und erwarb allmählich das Vertrauen meines Vaters. Er wickelte ihn regelrecht um den Finger. Ich selbst mochte ihn von Anfang an nicht.“

„Ich auch nicht“, warf Gudullus ein, „aber unser Vater war so wütend darüber, dass ich für die Römer kämpfte, dass er in Audica einen Ersatzsohn sah und keine Einwände gelten ließ.“

„Du musstest ihn heiraten, obwohl er dir zuwider war?“

Marcia zögerte. „Niemand hat mich gezwungen. Ich tat es, weil meinem Vater so viel daran lag. Doch um auf deine Frage nach Audicas Familie zurückzukommen: Ich habe nur den Bruder kennen gelernt, den ihr beim Überfall auf das Gut getötet habt. Außer ihm kam niemand zu unserer Hochzeit. Sie behaupteten, der Rest der Familie sei tot.“

„Vielleicht sind sie bei einem Feuer ums Leben gekommen, und er und sein Bruder waren die einzigen Überlebenden.“

Severus sah ihn hellwach an. „Was für ein Feuer soll das denn gewesen sein?“

„Nun, vielleicht eines wie beim Aufstand des Civilis. Als die germanischen Rebellen während des Banketts eingesperrt und verbrannt wurden.“

Alle rechneten plötzlich nach.

„Niemand hat damals überlebt“, sagte Severus.

„Außerdem war Audica da noch ein Kind“, ergänzte Gudullus.

 

In der Nacht konnte Tony lange nicht einschlafen. Zum ersten Mal, seit Bassus für tot erklärt worden war, hatte er sich wieder wohl gefühlt. Und trotzdem würde er all diese Menschen, die ihn wie ein Familienmitglied behandelten, verraten! War er denn verrückt? Warum gab er die Suche nach Bassus nicht einfach auf und akzeptierte dessen Tod? Er könnte in der Ala Noricorum seine Ausbildung zum Arzt fortführen und an seinen freien Tagen die Familie von Severus besuchen.

Er hätte wieder ein Zuhause.

Und dann war da auch noch Flavia. Er hatte es während des Essens kaum gewagt, zu ihr hinzusehen, so schön war sie geworden. Was war nur mit ihm los? Vielleicht könnten sie ja morgen zusammen spazieren gehen?

Was für bescheuerte Gedanken ihm plötzlich durch den Kopf gingen! So ein Quatsch. Mit einem Mädchen spazieren gehen! Jedenfalls würden die Dinge mit Flavia von jetzt an sehr kompliziert werden. Er bräuchte jemanden, mit dem er darüber reden konnte. Jemanden, der ihn ernst nahm.

Bassus! Über das Thema Mädchen würde er sich nur mit ihm unterhalten wollen. Bassus‘ Beziehung zu Orbiana war so ganz anders gewesen als die üblichen Techtelmechtel der Soldaten der Ala. Die meisten waren ihren Partnerinnen zwar ergeben. Aber hinter dem Rücken der Frauen zogen sie über sie her und rissen Witze über das Verhältnis von Männern und Frauen. Bassus hatte er nie so reden hören. Es passte auch nicht zu dem Mann, der so ergreifende Liebesgedichte verfassen konnte.

Tony musste sofort wieder von hier weg. Jeder Tag, den er blieb, würde es schwerer machen.

Ja. Bereits morgen Nacht würde er gehen.

Und jetzt musste er endlich schlafen. Das war vielleicht das letzte Mal, dass er ein richtiges Bett hatte und Kräfte sammeln konnte.

Auf dem Hof wurden Stimmen laut. Tony stand auf und ging zum Fenster. Ein Sklave führte zwei Pferde mit vierhörnigen Sätteln zum Stall. Die Haustür wurde geöffnet. Auf dem Flur näherten sich energische Schritte und eilten an seinem Zimmer vorbei. Tony stand auf und spähte vorsichtig durch die Tür. Er konnte gerade noch die Silhouetten zweier Reitersoldaten ausmachen, die in einem Gästeschlafzimmer verschwanden.

Waren sie von der Ala Noricorum?

Sicher waren sie Kundschafter, die unterwegs waren, genau wie Bassus und Donatus früher.

 

Beim Frühstück erkundigte Tony sich nach den Reitern. Sie waren tatsächlich von der Ala Noricorum gewesen, aber bereits wieder abgereist. Mehr erfuhr er nicht.

Er sah nach Aurelius. Dessen Fieber war gesunken, und er wollte unbedingt aufstehen.

„Es ist zu früh, Aurelius.“

„Aber ich bin doch wieder gesund.“

„Noch nicht ganz. Gegen Abend wird das Fieber zurückkommen.“

„Das glaube ich nicht.“

„Was wollen wir wetten?“

„Dann eben nicht!“ Aurelius schmollte.

Tony machte sich auf den Weg zum Unterrichtszimmer. Diesmal wollte er nicht gehen, ohne sich von Flavia zu verabschieden. Durch die angelehnte Tür hörte er ihre Stimme und die von Herclides. Abrupt drehte er sich um und lief weg.

Warum klopfte ihm das Herz bis zum Hals?

Und wie kam es, dass er plötzlich im Pferdestall stand? Teres fraß zufrieden sein Heu. Er schien sich außerdem gut mit dem Pferd in der Box nebenan zu verstehen. Genau wie Teres wirkte es kräftig und genügsam. Tony sah sich um. An der Wand hingen die Decken dieses Pferdes, und weiter hinten lagen Sattel und Satteltaschen. Gut. Er würde das Pferd heute Nacht mitnehmen.

Jetzt wollte er Marcias Neffen noch nach einigen Gepflogenheiten auf der anderen Seite des Rheins ausfragen. Doch wo, zum Teufel, steckten sie?

Er lief das Gut ab. Harpalos döste neben Ferox in dessen Hütte. Aus Harpalos‘ alter Hütte blickte ein neuer Hund misstrauisch zu den beiden Hunden hinüber. Auf einmal hatte Tony Angst, dass Harpalos heute Nacht nicht mit ihm kommen würde. Schließlich konnte er ihn nicht zwingen. Er ging zur Hütte und kraulte Harpalos und Ferox. Der neue Hund knurrte. Um ihn zu besänftigen, wandte er sich ihm zu.

„Das solltest du besser lassen“, rief ein Sklave, der mit einer Axt in der Hand aufgetaucht war. „Sie beißt.“

„Danke für die Warnung.“

Tony richtete sich vorsichtig auf und ging einige Schritte rückwärts, bis er außer Reichweite der angeketteten Hündin war.

Auf dem Hof hinter dem Pferdestall entdeckte er schließlich Ildiger, den jüngsten der Neffen. Er schleppte eine Holzkiste zu einem der Lagergebäude. Tony half ihm. Die Kiste war ganz schön schwer.

Kaum hatten sie sie abgestellt, fragte er Ildiger: „Sag mal, wie lange lebst du schon auf dieser Seite des Rheins?“

„Seit etwa vier Monaten.“

“Und davor hast du immer in Germania Libera gelebt?“

„Klar.“

„Geht es dort sehr viel anders zu als hier?“

Ildiger lachte. „Das kann man wohl sagen. Dort sieht es so aus, wie es hier ausgesehen hat, bevor die Römer kamen. Keine gepflasterten Straßen, keine Wasserleitungen, keine Häuser mit Fußbodenheizung.“

„Und keine Patrouillen?“

„Jedenfalls nicht durch römische Soldaten.“

„Es ist sicher gefährlich, dort zu reisen?“

Ildiger dachte nach. „So gefährlich, wie viele sich das vorstellen, ist es nicht, denn die Menschen sind sehr gastfreundlich. Man muss nur aufpassen, dass man nicht in eine Stammesfehde hineingerät.“

„Könnte jemand wie ich sich dort problemlos bewegen?“

Ildiger sah ihn jetzt verwundert an. „Nun, einfach so natürlich nicht. Vor allem nicht in diesen Zeiten. Dass es bisher noch niemandem gelungen ist, Audica zur Strecke zu bringen, macht die Leute nervös und misstrauisch.“

„Aber ich bin erst vierzehn Jahre alt, da würde ich doch sicher keinen Argwohn erwecken?“

„Wo denkst du hin? Die Leute würden sich fragen, wie es kommt, dass jemand in deinem Alter allein unterwegs ist. Sie würden vermuten, dass du ein Spion bist, oder, was genau so gefährlich wäre, dass du von deiner Sippe ausgestoßen worden bist, weil du eine Schuld auf dich geladen hast.“

Mist. Er hatte es im Lager Durnomagus nicht gewagt, solche Fragen zu stellen, aus Angst, dass seine Gesprächspartner Verdacht schöpfen würden. Außerdem hatte er irgendwie gehofft, dass das Reisen im „freien“ Germanien einfacher sein würde als im römisch besetzten Teil.

Keine römischen Militärpatrouillen würde zwar weniger Sicherheit bedeuten, aber auch weniger Bevormundung. Aber so wie Ildiger die Verhältnisse schilderte, konnte auch in Germania Libera niemand leben und sich bewegen, ohne bevormundet zu werden.

„Du meinst, die Leute könnten versuchen, mich zu töten?“

„Nein! Das auf keinen Fall. Du bist jung und gesund. Sie würden dich versklaven.“

 

Immerhin hatte Tony begriffen, dass er eine verdammt gute Geschichte brauchte, die er den Menschen auf der anderen Seite erzählen konnte. Sie musste plausibel klingen. Am besten, er blieb nah an der Wahrheit und schmückte sie ein bisschen aus. Er könnte zum Beispiel erzählen, dass er nach seinem germanischen Vater suchte, der ihn und seine Mutter im römischen Germanien sitzen gelassen und sich nach Germania Libera verdrückt hatte.

Je näher der Abend kam und damit das gemeinsame Abendessen, desto nervöser wurde er. Einige Male hatte er nach Aurelius gesehen, aber ansonsten den Tag mit Vorbereitungen zu seiner zweiten Flucht vom Gut verbracht. Auch diesmal würde er den Weg durch den Bach nehmen. Und wie er über den Rhein kommen würde, wusste er jetzt ebenfalls. Sobald er das Gut hinter sich gelassen hatte, würde er schnurstracks zu einem der privaten Fährleute reiten und den höheren Nachttarif bezahlen.

Um Flavia hatte er einen Bogen gemacht. Die seltsamen Zustände, die sie in ihm auslöste, konnte er jetzt nicht gebrauchen. Beim Abendessen ließ sich der Kontakt mit ihr jedoch leider nicht mehr vermeiden. Sie setzte sich nämlich neben ihn.

„Wie fühlst du dich, jetzt, wo du wieder bei uns bist?“, fragte sie. Dabei sah sie ihn so interessiert an, dass er ihr beinahe alles gestanden hätte.

„Ihr seid eine sehr nette Familie“, antwortete er.

„Danke. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie fühlst du dich?“

Er konnte ihr doch nicht sagen: „Beschissen, weil ich euch alle an der Nase herumführe.“ Verzweifelt suchte er nach passenden Worten. Und auf einmal war es ganz ruhig. Alle starrten ihn an.

„Man muss sich bei euch einfach wohlfühlen. Aber wirklich gut ginge es mir nur, wenn Bassus da wäre.“

Das Schweigen hielt an, und es kam ihm so vor, als hätte er für einen Moment so etwas wie Wohlwollen in Severus’ Augen gesehen. Aber das konnte nicht sein. Er hatte sich garantiert getäuscht.

Marcia lehnte sich vor und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „Wir vermissen ihn auch sehr.“

„Ich möchte noch von dem marinierten Hühnchen“, sagte Severus plötzlich laut.

Für ihn war das Thema Bassus offensichtlich erledigt. Gut so. Jetzt hatte Tony viel weniger Skrupel, ihn noch einmal zu hintergehen. Nur gegenüber Marcia und Flavia hatte er weiterhin ein schlechtes Gewissen.

„Ich würde alles tun, um Bassus zu finden“, murmelte er so leise, dass nur die beiden es hören konnten.

Etwas Warmes und Feuchtes war an seinem Hals. Tony wollte es wegwischen. Doch er erstarrte. Flavia hatte ihn geküsst! Verwirrt konzentrierte er sich auf den Eintopf in seiner Tonschüssel. Fleisch, Rüben und Zwiebeln schienen jetzt im Winter die Hauptbestandteile zu sein. Erst nach einer Weile wagte er es, verstohlen zu Flavia hinzusehen. Die steckte sich gerade ein Stück Käse in den Mund und schien seinen Blick nicht zu bemerken. Sie wirkte heiter und gelassen. Hatte er geträumt?

Wann löste Severus endlich die Tafel auf, damit er verschwinden konnte?

Doch der hatte andere Pläne. Er befahl den Sklaven, eine kleine Götterstatue zu bringen, und stellte sie in der Mitte des Tisches auf. Tony stöhnte innerlich. Fast jeder Tag war irgendeiner verflixten Gottheit gewidmet. Er sah sich die Statue genauer an. Es war die Abbildung eines Legionärs. Der Kriegsgott Mars?

Alle standen jetzt auf und neigten die Köpfe. Severus begann, aus einer Schriftrolle Gebete vorzulesen. Tony wurde aufmerksam. Es waren Gebete an den Genius des Imperators Trajanus. Und jetzt fügte Severus auch noch eigene Worte hinzu, Worte der Dankbarkeit, dass die Götter dem Volk und dem Senat von Rom Trajanus als Retter geschickt hatten. Schließlich sprach er Trajanus direkt an, so als wäre er bereits tot oder ein Gott. Außer Tony schien das jedoch niemand im Raum seltsam zu finden.

Als sie endlich gehen durften, floh Tony regelrecht in sein Zimmer. Eigentlich musste er dringend aufs Klo, aber er wusste, dass es dort, unmittelbar nach dem Essen, sehr gesellig zugehen würde. Fast alle, die an der Mahlzeit teilgenommen hatten, würden sich dort einfinden und sich noch eine Weile etwas zwangloser unterhalten. Sie würden tratschen und Witze reißen und ihn mit Fragen über sein Leben im Castellum Durnomagus löchern. Außerdem würden sie ihm indiskrete Fragen über sein Liebesleben stellen. Nein, das brauchte er jetzt nicht auch noch.

Gut, dass er heute Nacht verschwand. Wo würde er morgen um diese Zeit sein? In einem der wenigen Gasthöfe, von denen ihm andere Exploratores im Lager erzählt hatten? Angeblich musste man dort mit dem Vieh im selben Raum schlafen. Doch das war ihm egal.

 

Tony sah ein letztes Mal nach Aurelius. Der hatte wieder Fieber und leichte Kopfschmerzen. Lentulus machte ihm gerade frische Wadenwickel. Tony steckte einen Finger in die Schüssel mit dem Essigwasser.

„Das ist viel zu warm“, sagte er, „die Wickel können nur dann das Fieber senken, wenn sie eiskalt sind.“

„Ich dachte, der Essig bewirkt das. Deswegen habe ich extra viel rein getan.“

„Es ist die Kälte. Den Essig kannst du zur Not auch weglassen. Außerdem trocknet zu viel Essig die Haut aus.“

Lentulus lief mit der Schüssel hinaus. Tony setzte sich auf die Bettkante. Würde er es auf Dauer aushalten, Menschen leiden zu sehen, ohne ihnen Schmerztabletten zu geben? Andererseits - er wusste, dass es auch in seiner Zeit Millionen von Menschen gab, die keinen Zugang zu den einfachsten Medikamenten hatten und Schmerzen litten oder an Krankheiten starben, die man leicht heilen konnte.

Lentulus kam zurück. Er hielt Tony die Schüssel hin, damit er die Temperatur prüfen konnte.

„Perfekt.“

Lentulus strahlte.

„Bekommst du eigentlich noch Unterricht, Lentulus?“

„Ja, jeden Tag. Die Herrin sorgt dafür.“

Tony war beruhigt. Aber wenn er jetzt nicht bald zur Latrine kam, würde ein Unglück geschehen. Und so machte er sich auf den Weg, in der Hoffnung, dass niemand mehr dort war.

An der Tür traf er auf Ildiger. Tony wollte ihn gerade fragen, ob auch er die ruhigeren Phasen bevorzugte, als Ildiger erfreut ausrief: „Ah, ich bin nicht allein! Latrinen sind trostlose Orte, wenn man keine Gesellschaft hat.“

Obwohl sie die einzigen waren und es zwanzig freie Sitzplätze gab, setzte sich Ildiger direkt neben ihn.

„Als angehender Medicus kannst du sicher auch lesen und schreiben?“, fragte er sofort.

„Natürlich.“

„Ich wollte, ich hätte wenigstens einige Grundkenntnisse. Dann hätte ich in der Armee bessere Chancen aufzusteigen.“

„In der römischen Armee?“

„Natürlich.“

„Aber als Germane würdest du in eine Ala kommen, die sehr weit weg stationiert ist.“

„Ich weiß. Und ich freue mich darauf. Ich möchte wissen, wie es woanders zugeht.“

„Die Menschen sind überall dieselben“, hörte Tony sich sagen.

„Mir kommen sie sehr verschieden vor. Die Römer zum Beispiel sind im Vergleich zu uns Germanen wirklich zivilisierte Menschen.“

„Inwiefern?“

„Nun, hier gibt es zum Beispiel diese Latrinen mit Wasserspülung.“

Er lachte schallend. Tony lachte etwas leiser mit.

Ernster fuhr Ildiger fort: „Und erst ihr Staatswesen! Überall im Imperium gelten dieselben Gesetze. Wir dagegen sind von unseren Heerführern abhängig.“

„Aber findest du es nicht merkwürdig, dass zu einem Imperator wie zu einem Gott gebetet wird?“

Ildiger sah ihn verwundert an. „Überhaupt nicht. Das gilt doch nicht der Person des Imperators, sondern seinem Amt.“

Tony schwieg. Er erinnerte sich an das, was er in der Schule über die römische Geschichte gelernt hatte: dass einige Caesaren darauf bestanden hatten, auch persönlich für Götter gehalten zu werden. Ob Trajan zu ihnen gehört hatte, wusste er nicht mehr. Schade, dass er kein Geschichtsbuch im Rucksack hatte! Er hätte gerne gewusst, wie Trajanus von der Nachwelt beurteilt wurde. War er ein guter oder ein schlechter Kaiser?

 

Diesmal ging alles viel leichter. Was Tony brauchte, steckte bereits in den Satteltaschen bei den Pferden im Stall. Nur das Nachtfernglas fehlte noch.

Fröstelnd betrat er mit seiner Öllampe das Arbeitszimmer und ging schnurstracks zur Truhe. Diesmal entdeckte er keine Holzkassette mit Münzen. Severus war wohl vorsichtig geworden.

Da lag auch schon das Fernglas, liebevoll eingewickelt in ein Stück Stoff. Tony hängte es sich um den Hals und machte sich auf den Weg zum Stall.

Die Pferde ließen sich problemlos beladen. Es lief alles wie geschmiert. Tony blies die Flamme der Öllampe aus. Ab jetzt brauchte er beide Hände und wollte kein Feuer auslösen, indem er eine brennende Lampe herumstehen ließ. Den Weg aus dem Stall würde er auch so finden. Er tastete nach den Zügeln der beiden Pferde und ging langsam und vorsichtig rückwärts den Gang zwischen den Boxen hinunter. Die Tiere folgten ihm fast lautlos. Noch ein paar Schritte, und er würde mit dem Rücken an die Tür stoßen. Doch was war das? Er erstarrte. Kräftige Hände hatten sich auf seine Schultern gelegt.

Jemand riss die Stalltür auf und kam mit einer Fackel in der Hand herein.

Die Hände auf seinen Schultern lösten sich, und er stand Gudullus und Severus gegenüber. Einen Moment überlegte er, ob er seine Kampfkünste einsetzen sollte, und spannte sich an.

„Lass das“, herrschte Severus ihn an, „wir müssen reden.“

 

Im Arbeitszimmer ließ Gudullus ihn mit Severus allein. Der schenkte Wein in zwei Gläser und reichte Tony eine Papyrusrolle. Eine Abschrift seines Briefes an Trajanus. Das war es also, was die beiden Reiter in der vergangenen Nacht gebracht hatten.

„Ich hatte gehofft, dass er nicht so schnell gefunden wird.“

„Tja, falsch gedacht.“

Es ärgerte Tony, dass Severus jetzt all diese persönlichen Dinge über ihn wusste. Hätte er diesen verdammten Brief nur nie geschrieben! Und außerdem, warum musste Trajanus einen derart privaten Brief gleich kopieren lassen und in der Gegend herumschicken? Das würde er ihm nie verzeihen. Tony wurde immer wütender.

„Wenn ich nicht nach Bassus suchen darf, werde ich mich töten.“

Severus seufzte. „Das wird nicht nötig sein, obwohl ich das prinzipiell für keine schlechte Idee halte.“

„Dann lass mich ziehen. Alle sind der Meinung, dass ich eine solche Reise sowieso nicht überleben würde. Es wäre also jedem geholfen.“

„Sicher. Die Sache hat nur einen Haken.“

„Und der wäre?“

„Auch ich glaube nicht, dass Bassus tot ist. Und Caesar Trajanus und die Ala Noricorum glauben es auch nicht.“

Tony war sprachlos. Dann fasste er sich. „Aber sie haben ihn doch für tot erklärt.“

„Das mussten sie unter den Umständen. Trotzdem ließen sie heimlich weiter nach ihm suchen.“

Tony schluckte. „Gibt es denn ein Lebenszeichen?“

Severus lehnte sich zurück. „Schwer zu sagen.“ Schweigend sah er Tony eine Weile an, bevor er fortfuhr: „Ich werde morgen zusammen mit Ildiger nach Germania Libera aufbrechen. Wir werden uns als Vertreter einer Töpferei ausgeben.“

„Ihr wollt euch umhören?“

„So ist es.“

„Ihr müsst mich mitnehmen.“

„Ich kann niemanden gebrauchen, der meine Autorität untergräbt.“

„Ich … Ich verspreche …“

Severus hob die Augenbrauen.

Tonys Herz raste.

Severus nahm einen Schluck Wein und sah ihn an. „Warum hast du uns eigentlich nie deine Geschichte erzählt?“, fragte er.

„Ich konnte nicht.“

„Hast du sie Bassus erzählt?“

„Nein.“

Für einen Moment trat Stille ein.

„Hast du das Medaillon noch?“

Tony zog es über seinen Kopf und reichte es ihm.

Severus betrachtete es nachdenklich. „Bassus war sehr beeindruckt nach seiner Begegnung. Der Druide hatte ihm prophezeit, dass das Medaillon einst den tiefsten Wunsch seiner Seele erfüllen würde.“

Das war es also.

„Und was war das für ein Wunsch?“

„Kinder. Eine Familie, mit der er ein Leben außerhalb der Armee führen konnte.“

Tony war überrascht.

„Bis er entlassen worden wäre, hätte er aber lange warten müssen.“

„Nicht nur das. Irgendwann wusste er, dass er überhaupt keine Kinder zeugen konnte.“

„Das heißt, die Prophezeiung des Druiden war Unsinn.“

Wieder griff Severus nach seinem Weinglas. „Nicht unbedingt. Nicht, wenn man die Sache nicht so eng sieht.“

Tony wandte sich den Fliesen auf dem Fußboden zu.

Auf einmal brach es aus ihm heraus: „Warum ist er weiter auf diese gefährlichen Kundschaftermissionen gegangen? Warum hat er die Armee nicht verlassen, nachdem er mich adoptiert hatte? Er hatte seine 25 Jahre doch schon längst hinter sich?“

„Das hat er ja versucht. Aber Imperator Trajanus hat es nicht erlaubt.“

„Er hat es versucht?“

„Oh ja. Er hatte darum gebeten, in den Ruhestand versetzt zu werden. Er wollte dir ein Zuhause geben und sich seinen Schriften widmen. Aber Caesar Trajanus befahl, dass er noch so lange im Dienst bleiben muss, bis Audica gefasst ist.“

„Warum hat mir das niemand gesagt?“

„Niemand konnte wissen, dass du ihn so vermissen würdest. Und erst recht nicht, dass du bereit sein würdest, dein Leben für ihn zu riskieren.“

Tony schwieg beschämt.

„Du hast doch erst dann begriffen, dass er nicht wie dein leiblicher Vater ist, als du ihn verloren hattest.“

Der Fußboden verschwamm. Nach einer Weile fühlte Tony eine Hand auf seiner Schulter.

„Wir sollten uns noch etwas hinlegen. Unsere Reise nach Germania Libera wird anstrengend werden.“

 

Nur zwei Tage, nachdem er sich von Maius und Lauba verabschiedet hatte, winkten ihm schon wieder Menschen hinterher. Doch wie anders war diesmal alles! Der halbe Haushalt schien sich am Tor versammelt zu haben. Ein Ochse zog den Wagen, der mit strohgefüllten Körben voller Sigillata- Geschirr beladen war. Ein Sklave saß auf dem Bock und hielt die Zügel, Severus, Ildiger und Tony ritten auf ihren Pferden nebenher. An der Fähre würde der Sklave umkehren und den Ochsen samt Wagen wieder nach Hause bringen, denn auf der anderen Seite des Flusses würde ein germanischer Wagen auf sie warten, der einem Cousin von Marcia gehörte.

Severus war es plötzlich schwer gefallen, die Verantwortung für sein Gut abzugeben.

„Mach dir keine Sorgen“, hatte Gudullus ihn zu beruhigen versucht - bestimmt schon zum zehnten Mal. „Ich kümmere mich um alles.“

Zum Glück hasste Severus Sentimentalitäten, und er hatte sich schließlich losgerissen. Bis auf Marcia, der es nicht ganz gelang, ihre Besorgnis zu verbergen, waren alle guter Dinge gewesen und hatten ihnen viel Erfolg gewünscht.

Kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, hatte Harpalos die Führung übernommen, und damit war klar, dass er ein Teil ihrer Reisegruppe sein würde. Severus betrachtete ihn stirnrunzelnd, sagte jedoch nichts.

Flavia hatte Tony bereits im Haus umarmt und in sein Ohr geflüstert: „Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ihr Bassus findet und dass er noch lebt.“

Er hatte steif wie ein Stock dagestanden. Doch dann hatte er es immerhin noch geschafft, „Danke“ zu murmeln.

Vermutlich hielt Flavia ihn jetzt für den letzten Idioten. Und wahrscheinlich dachte sie, dass sie ihm nichts bedeutete. Verflixt …

Er wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Severus und Ildiger hatten ihm eingebläut, Severus nur ja nicht aus Versehen mit dessen richtigem Namen anzusprechen. Wenn Audica erfahren sollte, dass der römische Ehemann seiner einstigen Frau sich in Germania Libera aufhielt, würde es sehr gefährlich für sie werden. Auch Tony musste unter einem falschen Namen reisen und nannte sich jetzt Festus. Seinen Urlaubsschein von der Ala Noricorum hatte er auf dem Gut zurücklassen müssen.

„Es darf von uns keine Verbindung zur römischen Armee geben“, hatte Severus ihm erklärt.

„Aber es herrscht doch Frieden, und die Germanen wollen Audica genauso zur Strecke bringen wie die Römer.“

„Sicher. Aber einige stehen eben doch auf Audicas Seite. Deshalb ist es besser, niemandem zu trauen.“

Tony musste sich erst daran gewöhnen, dass Severus jetzt sein Verbündeter war. Verstohlen musterte er ihn.

Severus konnte sich verdammt gut verstellen! Er war nicht mehr der Veteran und Gutsbesitzer, sondern der Bedienstete einer Töpferei. Die Verwandlung spiegelte sich nicht nur in der einfachen und zweckmäßigen Kleidung, sondern auch in seinem bescheidenen Auftreten. Es schien ihm regelrecht Spaß zu machen, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Hin und wieder erschien wie ein kurzes Wetterleuchten ein stilles Lächeln auf seinem Gesicht. Auf einmal tat es Tony leid, dass er ihn so lange falsch eingeschätzt hatte. Severus war zwar kein Mann, der in seiner Freizeit Philosophen und Dichter las, trotzdem konnte Tony jetzt verstehen, warum er und Bassus befreundet waren.

„Was denkst du gerade?“, fragte Severus ihn plötzlich.

„Warum?“

„Du hast mich zum ersten Mal angesehen, als ob ich ein menschliches Wesen wäre.“

Tony holte tief Luft. „Ich musste daran denken, dass ich dir viel Kummer bereitet habe.“

Severus schnaubte.

 

Sie waren mitten auf dem Fluss, als Tony übel wurde. Der Rhein war so breit, dass er sich wie auf einem Meer fühlte. Die Wassermassen strömten mit ungeheurer Kraft nach Norden. Die Ruderer mussten sich gewaltig in die Riemen legen, um nicht allzu weit abgetrieben zu werden.

Dank Severus’ Kontakten zur Flotte durften sie auf einer Militärliburne mitreisen. Tony war noch nie vorher seekrank gewesen, aber natürlich hatte er auch noch nie in einem Boot, das von einer Kompanie Soldaten gerudert wurde, einen derart reißenden Fluss überquert.

Neben den Marinesoldaten waren auch zwei germanische Kundschafter einer fremden Ala an Bord. Tony beobachtete sie und stellte sich vor, wie Bassus und Donatus an Bord solcher Boote gestanden hatten. Ob Bassus bei diesen Fahrten manchmal seekrank gewesen war? Und was war mit Harpalos? Er lag zusammengerollt auf einem riesigen Berg von Seilen und schien die Fahrt zu verschlafen. Und die Pferde? Das Übersetzen in einer Liburne schien ihnen nichts auszumachen. Gelassen starrten sie vor sich hin.

Er zuckte zusammen. Einer der Kundschafter hatte ihn angesprochen.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er. Sein Alter war schwer auszumachen. Die Lachfalten um seine blauen Augen ließen ihn jedoch sehr sympathisch wirken.

„Ich sehe, dass dir schlecht ist“, fuhr er fort.

„Oh ja, und wie.“

„Du solltest etwas essen.“

„Essen? Aber ich fühle mich jetzt schon, als ob ich mich übergeben müsste.“

„Trotzdem. Nimm das hier und kaue darauf herum. Du wirst sehen, es hilft.“

Er schüttete Tony etwas in die Hand, das wie getrocknete Holzstückchen aussah. Tony schnupperte daran und steckte sie sich schließlich in den Mund. Sie schmeckten wie Ingwer. Und sie wirkten.

„Was ist das?“, fragte er und wunderte sich, dass Wackeron und Morvran ihm das Kraut noch nicht gezeigt hatten.

Der Kundschafter nannte einen Namen, den Tony noch nie gehört hatte, und fügte hinzu: „Der Medicus unserer Ala hat es mir gegeben.“

„Na so was, ich bin selbst angehender Medicus und kenne diese Wurzel nicht. Ist euer Medicus Grieche oder Kelte?“

„Weder noch. Er stammt aus Asia.“

„Interessant.“ Tony hätte diesen Medicus gerne einmal kennen gelernt. „Von welcher Ala kommt ihr?“, fragte er.

„Der Ala Longiniana.“

„In Bonna?“

Der Kundschafter nickte. „Mein Name ist Hampus. Und wie heißt du, angehender Medicus?“

„Ich bin … Festus.“

„Sehr erfreut. Und von wo stammst du ursprünglich?“

Er war überrumpelt. Diese Frage hatten sie nicht besprochen.

„Aus Thrakien“, entfuhr es ihm.

Zum Glück schien Hampus sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben. Tony konnte sich nicht vorstellen, dass sie bereits hier etwas Nützliches erfahren würden, aber er konnte ja trotzdem ein bisschen fragen. Der Kundschafter schien sehr nett zu sein.

„Kundschafter ist eine ganz schön gefährliche Tätigkeit“, begann er.

Hampus lächelte arglos. „In dieser Region eigentlich nicht mehr. Nur im Moment haben wir einige Probleme.“

„Ich habe natürlich von dem germanischen Anführer gehört, der Gutshöfe überfällt und Menschen abschlachtet.“

„Alle Soldaten zwischen Novaesium und Bonna sind auf der Suche nach ihm.“

Es gefiel Tony, dass Hampus sich mit ihm wie mit einem Erwachsenen unterhielt. Deshalb wagte er sich weiter vor.

„Ich habe auch von dem Kundschafter der Ala Noricorum gehört, der verschwunden ist.“

„Ja“, bestätigte Hampus ernst, „eine seltsame Geschichte.“

„Wieso seltsam?“

„Weil es überhaupt keine Spur mehr von ihm gibt. Nicht einmal sein Kopf wurde zurückgeschickt.“

Tony fröstelte. Aber er musste einfach weiterfragen: „Was könnte mit ihm geschehen sein? Hast du eine Theorie?“

Jetzt bemerkte er, dass Severus hinter dem Rücken des Kundschafters seltsame Handbewegungen machte. Und er achtete darauf, dass der andere Kundschafter nichts merkte. Wollte Severus, dass er das Gespräch mit Hampus abbrach? Aber warum? Sicher hatte er ihn missverstanden.

Hampus schien über seine Frage intensiv nachzudenken.

„Nun, natürlich ist es möglich, dass sein Leichnam den wilden Tieren zum Fraß überlassen wurde“, sagte er zögernd.

„Aber …?“

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mann wie Audica einen so wertvollen Gefangenen tötet.“

„Der Gefährte des Kundschafters hat aber doch gesehen, dass Audicas Leute damit begonnen hatten, ihn zu töten.“

„Du bist gut informiert“, sagte Hampus leichthin.

„Ich habe das aufgeschnappt.“

„Es könnte auch sein, dass sie nur den Anschein erwecken wollten, dass der Kundschafter tot ist.“

„Wenn er noch leben würde, wo könnte er dann jetzt sein?“

„Sicher irgendwo ganz tief in Germania Libera.“

„Würde es ihm halbwegs gut gehen?“

„Du stellst vielleicht Fragen.“ Hampus lächelte wieder. „Dieser Kundschafter war doch Thraker, nicht wahr? So wie du.“

Tony hatte plötzlich das Gefühl, dass hier etwas falsch lief und er das Gespräch schnell beenden sollte.

In diesem Moment ging ein Ruck durch die Liburne. Wenn Hampus ihn nicht festgehalten hätte, wäre Tony hingefallen. Bevor er ihn wieder losließ, sagte Hampus leise: „Wir sind da. Aber sag mir, Festus, warum brauchen zwei Händler für Sigillatageschirr einen eigenen Medicus?“

 

Severus kochte. „Wie konntest du so blöd sein!“

„Wir haben uns nur unterhalten.“

„Du bist der Kunst eines Kundschafters aufgesessen. Du hast gedacht, dass du ihn ausgefragt hast, aber in Wirklichkeit war er es, der dich für seine Zwecke benutzt hat.“

„Er hat nichts Wichtiges erfahren.“

„Von wegen. Er weiß jetzt, dass wir nur vorgeben, Geschirr zu verkaufen. Und er weiß, wer du bist.“

„Wieso das?“

„Du hast ihn gefragt, ob der Medicus aus seiner Ala Grieche oder Kelte ist. Den Griechen Wackeron und den Kelten Morvran kennt in dieser Gegend jeder Soldat.“

„Aber es könnte doch auch ein Zufall sein, dass ich diese beiden Völker genannt habe.“

„Ein Kundschafter glaubt nicht an Zufälle. Er zählt eins und eins zusammen. Außerdem ist bekannt, dass der Adoptivsohn des verschwundenen thrakischen Kundschafters bei Wackeron in die Lehre geht.“

„Wieso soll das außerhalb der Ala Noricorum bekannt sein?“

„Weil es keine Einrichtung gibt, in der so viel getratscht wird wie in der Armee.“ Severus wurde immer wütender. „Wenn Soldaten aus verschiedenen Alae oder Kohorten zusammentreffen, geht das Gerede sofort los.“ Er äffte die Stimmen nach: „‘Wie ist es bei euch denn so? Und wie ist euer Decurio? Warum haben sie neulich bei euch einen Duplicarius degradiert?‘ Es ist zum Kotzen. Sie sind schlimmer als Waschweiber. Man kann es ihnen einfach nicht abgewöhnen.“

„Na und? Dann weiß dieser Hampus es eben. Ist doch nicht schlimm. Er ist ein Kundschafter von einer anderen Ala, ein Kollege also, und will dasselbe wie wir.“

„Das wissen wir nicht. Er könnte gleichzeitig ein Spion Audicas sein.“

„Ist das nicht etwas weit hergeholt?“

„Weil er dir sympathisch war? Komm schon. Du weißt doch selbst am besten, dass es Menschen gibt, die nicht die sind, als die sie sich ausgeben!“

Das saß! Doch Severus war noch immer nicht fertig.

„Sobald wir wieder zurück sind, werde ich mich bei der Ala Longiniana nach diesem Hampus erkundigen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Er war es, der dich zuerst angesprochen hat. Dich, einen Vierzehnjährigen.“

Tony wusste in seinem tiefsten Inneren, dass Severus recht hatte.

„Es tut mir leid“, brummte er nach einer Weile leise.

„Wie war das?“ Severus hielt die Hand wie einen Verstärker an sein Ohr.

„Es tut mir leid!“, brüllte Tony giftig.

 

Eines musste man Severus lassen. Wenn ein Thema erledigt war, dann war es erledigt. Allmählich entspannte Tony sich wieder. Immerhin hatte Severus ihre Reise nicht abgeblasen. Also hielt auch er es für unwahrscheinlich, dass ihnen von Hampus tatsächlich Gefahr drohte.

Tony konnte sich also endlich auf die neue Lage konzentrieren.

Marcias Cousin, ein großer, blonder Mann namens Baudio, holte sie mit einem von zwei kräftigen Pferden gezogenen Wagen ab.

Die Sonne schien strahlend hell, und der Schnee taute zusehends. Obwohl die Temperatur sicher nur wenig über null war, hatten sie die Ärmel ihrer Wollhemden hochgekrempelt, um mehr von den Sonnenstrahlen abzubekommen.

In Germania Libera sah bereits auf den ersten Blick vieles anders aus als auf der römischen Seite. Es gab zwar hier wie dort viele Felder und Äcker und hin und wieder einen Wald. Aber die Straße, wäre auf der anderen Seite nur als Feldweg durchgegangen. Und die einsetzende Schneeschmelze verwandelte sie in einen Schlammpfad, auf dem sie nur mühsam vorwärtskommen würden. Die Äcker waren auch ganz anders aufgeteilt als auf der römischen Seite, wo sie von oben wahrscheinlich so regelmäßig aussahen wie ein Schachbrett. Hier hatten sie alle möglichen Formen. Das konnte er an den Reihen von blattlosen Windschutzhecken und einigen Holzzäunen ablesen.

Auch die einzelnen Gehöfte, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, sahen anders aus als die, die Tony bisher kennen gelernt hatte. Spitze Dächer und Fachwerk kannte er bereits aus Durnomagus, aber hier hatten die Häuser auch Dächer, die bis zum Boden reichten. Einige Nebengebäude steckten sogar einen Meter tief in der Erde, als wären sie im Lauf der Zeit eingesunken.

An fast jedem Gehöft hielten sie an. Tony und Severus bauten den Klapptisch auf und stellten das Geschirr zur Schau. Danach hielten sie sich im Hintergrund auf. Harpalos legte sich so lange unter den Wagen und sah mit der Schnauze auf den Vorderpfoten dem Treiben zu.

Den beiden Germanen gelang es meist schnell, mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Die Menschen waren freundlich und froh, die vermeintlichen Händler zu sehen. Zwar begutachteten sie die Waren interessiert, doch mit Käufen hielten sie sich zurück.

In einem größeren Dorf waren die Bewohner vorsichtiger. In der Mitte des Dorfes stand ein seltsam deplatziert wirkendes protziges Haus im römischen Stil. Von dort kamen zwei Frauen, die zwar germanisch gekleidet waren, aber kostbaren römischen Schmuck trugen. Sie waren die ersten, die etwas kauften. Aber erst nachdem sie wieder weg waren, lockerte sich die Stimmung der anderen, und auch sie inspizierten das Geschirr.

Als sie das Dorf wieder verlassen hatten, sprach Tony Ildiger darauf an.

„Das waren die Frau und die Tochter des reichsten Bauern und Heerführers. Die anderen Bewohner sind abhängig von ihnen. Entweder arbeiten sie für sie auf den Feldern und in den Ställen oder sie sind Krieger.“

„Krieger? Aber es herrscht doch Frieden.“

„Meist bekämpfen sich die Germanen untereinander. Jeder Heerführer schart Krieger um sich, die er auch in Friedenszeiten bezahlt. Dafür müssen sie im Kriegsfall tapfer kämpfen und dürfen den Heerführer nicht überleben.“

„Heißt das, dass sie außer kämpfen nichts tun?“

„Genau. Das wäre unter ihrer Würde.“

„Was machen sie denn so den ganzen Tag, wenn sie nicht kämpfen?“

Ildiger lachte. „Sie schlafen lange, gehen auf die Jagd und betrinken sich.“

„Und stellen den Mädchen nach?“

„Oh, da irrst du dich. Das ist nicht erlaubt. Was das betrifft, sind die Sitten sehr streng.“

„Mhm. Ganz schön anders als bei den Römern.“

„Ja. Deshalb bewundern auch einige Römer die Germanen.“

„Warum möchtest du denn lieber in der römischen Armee dienen als einem germanischen Heerführer?“

„Es geht dort menschlicher zu.“

„Wie bitte?“

„Bei den Römern gibt es Regeln, denen sich alle unterordnen müssen. Bei den Germanen bin ich dem Heerführer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Außerdem lerne ich bei den Römern sehr viel über das Kriegshandwerk. Bei den Germanen hingegen muss ich mich einfach nur auf den Gegner stürzen und sterben, damit ich zu den anderen toten Kriegern nach Walhall komme.“

„Immerhin haben wir die Römer schon einige Male besiegt“, sagte Baudio plötzlich wütend zu Ildiger. „Als ich in deinem Alter war, hätte niemand gewagt, so zu reden.“

„Die Welt verändert sich, Onkel Baudio“, erwiderte Ildiger ruhig. „Oder findest du es vielleicht gut, dass der Krieger, der als letzter auf dem Schlachtfeld erscheint, zu Tode gefoltert wird?“

„Das hat seinen Sinn. Die Leute kommen sonst Tage zu spät.“

„Oder dass die Frauen bei einer Schlacht dabei sind und Steine auf Krieger werfen, die vor Erschöpfung zusammenbrechen?“

„Ein Krieger hat zu kämpfen, bis er tot ist oder gesiegt hat.“

Ildiger schüttelte stumm den Kopf und warf Tony einen bedeutungsvollen Blick zu. Tony fragte sich gerade, wie zuverlässig dieser Onkel war. Da raunte Ildiger ihm zu: „Keine Sorge, er hat verstanden, dass die Römer sich mit der linken Seite des Rheins begnügen.“

Nach einer Weile kamen sie an Feldern vorbei, die wie die römischen angelegt waren.

„Aha, hier hat ein Bauer das römische System eingeführt“, sagte Tony.

„Diese Felder gehören der römischen Armee“, erklärte Severus, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

„Hier? In Germania Libera?“

„Auf unserer Seite reichen die Anbauflächen nicht aus. Deshalb pachten wir hier Land von örtlichen Heerführern.“

„Und darauf lassen sie sich ein?“

„Natürlich. Wir bezahlen sie schließlich gut. Auch das haben sie dem Frieden zu verdanken. Wären wir noch im Krieg, würden wir uns einfach nehmen, was wir brauchen.“

Am Abend kehrte ihre Gruppe in einer Herberge ein. Sie mussten zwar nicht bei den Tieren schlafen, waren dafür aber auf einem Speicher untergebracht. Da sie ihn nur über eine Leiter erreichen konnten, blieb Harpalos unten und schlief bei den Pferden. Bevor Tony einschlief, hörte er in der Schenke unter ihnen die Germanen reden und ärgerte sich darüber, dass er kein Wort verstand. Sie hätten genauso gut Suaheli sprechen können.

 

Gegen Mittag des nächsten Tages waren sie bereits einige Meilen im Landesinneren. Nachdem sie die Straße verlassen hatten, die parallel zum Rhein verlief, waren sie am Rand eines Waldes entlang geritten. Er war dunkler und dichter als alle Wälder, die Tony je gesehen hatte. Der Himmel war bedeckt, und es war bedeutend kälter als am Tag davor. In der Nacht hatte es auch wieder Frost gegeben. Das drückte zwar die Stimmung, aber wenigstens war der Boden wieder fest. Heute hielten sie auch die ganze Zeit über ihre Speere wurfbereit in der Hand. Angeblich gab es hier Bären, Auerochsen und Wildschweine.

„Auf unserer Seite sind die Bären fast ausgerottet“, sagte Severus.

„Warum das?“

„Weil sie für die Arena mit Fallen gejagt werden.“

„Für welche Arena?“

„Die nächste ist in der Colonia Agrippinensium. Aber die Bären werden ins gesamte Imperium verschickt.“

„Die Armen.“

Severus zuckte mit den Schultern. „Es sind Tiere.“

„Trotzdem.“

Ildiger hatte unrecht. Auch die Römer waren nicht wirklich zivilisiert.

„Übrigens, Bassus lehnt es grundsätzlich ab, in die Arena zu gehen. Er findet es eines Menschen unwürdig, sich solche Spektakel anzusehen“, fügte Severus hinzu.

Bassus!

Endlich erreichten sie ein Dorf. Nachdem auch hier die Geschäfte erledigt waren, lud der Besitzer des größten Hauses sie ein und tischte ihnen Brot, kaltes Fleisch und Met auf. Fast die gesamte Bevölkerung des Dorfes setzte sich dazu. Ildiger unterhielt alle mit Anekdoten von der anderen Seite des Rheins. Dabei ahmte er Stimmen und Gesten so gut nach, dass die Menschen Tränen lachten. Selbst Tony musste lachen, obwohl er überhaupt nichts verstand. Ildiger hätte im Fernsehen problemlos Karriere als Stand-up-Comedian machen können.

Ein ähnlich talentierter Dorfbewohner begann ebenfalls zu erzählen. Und immer wieder wurde Met nachgeschenkt, ob man wollte oder nicht. Als sie Stunden später sturzbetrunken wieder aus dem Haus taumelten, war der Nachmittag bereits weit fortgeschritten.

„Ist es denn eine gute Idee, jetzt noch weiterzureisen?“, fragte Tony.

„Wir müssen“, erklärte Severus, „im nächsten Dorf ist unser Nachtquartier. Dort wohnt nämlich Baudio.“

„Es war ja nett von Ildiger, die Leute so zu unterhalten. Aber es wäre sicher besser gewesen, wenn wir gleich weiter gezogen wären.“

„Oh nein. Dieser Aufenthalt hat sich gelohnt. Wir haben etwas Neues erfahren.“

Doch mehr gab Severus im Moment nicht preis. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, das Geschirr wieder sicher auf dem Wagen zu verpacken. Aufreizend langsam legte er Strohbüschel zwischen die einzelnen Teile und rüttelte dann an den Körben, um sicher zu gehen, dass das Geschirr das Geruckel auf dem Wagen gut überstehen würde.

Tony wollte ihn gerade antreiben, als er bemerkte, dass Severus während dieser Tätigkeit Ildiger und Baudio genau beobachtete. Die beiden Germanen scherzten immer noch mit den Dorfbewohnern.

„Verstehst du denn, was sie sagen?“

Severus sah ihn verwundert an. „Natürlich. Schließlich lebe ich in Germania und bin mit einer Germanin verheiratet.“

„Aber Marcia spricht doch fließend Latein.“

„Ich habe immer die Sprache der Menschen gelernt, unter denen ich längere Zeit gelebt habe.“

In diesem Moment verabschiedeten sich Baudio und Ildiger endlich.

Tony musste unbedingt Germanisch lernen.

 

Erst als vom Dorf nichts mehr zu sehen war, tauschten sie sich über das Gehörte aus.

„Es muss nichts mit Bassus zu tun haben“, sagte Severus, „aber wir haben erfahren, dass nach einem ausgebrochenen Gefangenen gesucht wird.“

Tony wagte nicht zu hoffen. „Haben sie auch erzählt, dass es sich dabei um einen römischen Reiter handelt?“

Baudio mischte sich ein. „Falls es tatsächlich Bassus ist, haben sie es besonders schlau angestellt. Sie haben nämlich verbreiten lassen, dass er ein gefährlicher Verrückter ist, der sich manchmal als römischer Soldat ausgibt.“

„Das ist er!“, rief Tony aus.

„Vielleicht“, dämpfte Baudio.

Grimmig sagte Severus: „Sie raten, den Mann nicht einzufangen, sondern ihn sofort zu töten.“ 

„Wie kann Bassus unter diesen Umständen überleben?“, fragte Tony verzweifelt. „Es ist Winter. Wer würde ihm zu essen geben oder eine Unterkunft?“

„Ein Kundschafter weiß, was er unter solchen Umständen zu tun hat“, erklärte Severus. „Er hat gelernt, wie man Waffen und Fallen herstellt, um Tiere zu jagen. Und er weiß, wie man seine äußere Erscheinung verändert.“

„Aber was, wenn er verletzt ist? Oder Fieber hat?“

Severus war mit seinem Pferd stehen geblieben und sah Tony an.

„Ich weiß es nicht, Tony. Vielleicht ist er dann schon tot. Aber wenn dieser entlaufene Gefangene tatsächlich Bassus ist, dann war er zumindest noch bis vor kurzem lebendig.“

 

Ihre Ankunft in Baudios Haus hatte Tony nur durch einen Nebel wahrgenommen. Es war bereits nach Mitternacht und nur Baudios Frau und ihre Mutter hatten sie begrüßt. Diesmal waren sie wirklich zusammen mit den Tieren in einem großen Raum untergebracht, dessen Decke von kräftigen Holzbalken gestützt wurde. Trotzdem war es gemütlich. Beim Einschlafen beschäftigte Tony der Gedanke, dass Bassus vielleicht erst vor kurzem gestorben war. Dass sie nur wenige Tage zu spät kamen. Hätte er doch nur früher nach ihm gesucht!

Obwohl er todmüde war, wäre er am liebsten sofort wieder aufgebrochen.

Severus schnarchte. Und für einen Moment hasste Tony ihn, weil er schlafen konnte, während sein Freund vielleicht irgendwo da draußen war und jede Sekunde zählte. Doch dann sah er ein: Das war nicht fair. Immerhin war Severus da. Tony war nicht allein. Und nicht nur das. Alle Menschen, die in diesem Raum bei ihm schliefen, waren seine Verbündeten.

Auf einmal war er froh, mit ihnen zusammen unter diesem großen, strohgedeckten Dach zu liegen. Auch mit den Tieren. Eine Weile versuchte er herauszufinden, ob die Atemzüge und die Seufzer, die er hörte, von einem Menschen oder einem Tier waren. Darüber schlief er ein.

 

Am nächsten Morgen tauchte er nur langsam aus einem Traum auf, in dem er nackt durch Straßen einer Stadt aus seiner Zeit gelaufen war. Die Menschen hatten dicht gedrängt gestanden und ihn angestarrt. Beim Aufwachen tastete er mit noch geschlossenen Augen an sich herunter und stellte erleichtert fest, dass er angezogen und mit einer dicken Wolldecke zugedeckt war. Er öffnete die Augen. Das mit dem Anstarren stimmte jedoch. Es waren circa zehn Augenpaare, die aus neugierigen Kindergesichtern fasziniert auf ihn herabsahen. Jetzt kicherten die Kinder.

Tony richtete sich auf. Baudios Frau rief etwas, und die Kinder entfernten sich zögernd. Danach war nur noch ein Augenpaar auf ihn gerichtet. Und zwar das von Harpalos.

Wo waren Severus, Baudio und Ildiger?

Erschrocken fragte er: „Sind die anderen ohne mich weiter gezogen?“

„Nein“, beruhigte ihn Baudios Frau mit einem starken germanischen Akzent, „sie sind bei meinem Bruder. Er wohnt nebenan.“

„Warum hat mich niemand geweckt?“

„Severus hat es verboten. Er meinte, du bräuchtest deinen Schlaf.“

Tony kämpfte gegen widerstreitende Gefühle, Rührung über die Fürsorge, Ärger über sich selbst, weil er so lange geschlafen hatte, und Wut auf Severus, weil er ihn wie ein Kind behandelte. Er musste doch dabei sein, wenn das weitere Vorgehen besprochen wurde!

 

Als Tony in Harpalos‘ Begleitung aus dem Haus trat, nahm ihm die Kälte für einen Moment den Atem. Offenbar war der Frühling doch noch nicht da. Im Nachbarhaus jedoch war es warm wie in einer Sauna. Einige Männer saßen sogar mit entblößtem Oberkörper da und zeigten beneidenswerte Muskeln.

Es gab Rührei mit Speck, dazu fetttriefenden, gebackenen Schafskäse und grobes Brot. Genau das Richtige.

„Und, was habt ihr beschlossen?“, fragte er, während er kaute.

„Wir werden uns aufteilen und in alle Himmelsrichtungen ausschwärmen“, antwortete Severus.

„Als Geschirrhändler?“

Baudio deutete auf seine Nachbarn. „Sie natürlich nicht. Sie werden einfach nur Verwandte besuchen und sich bei ihnen betrinken.“

Tony sah die germanischen Männer an, die um ihn herum saßen. Severus, Ildiger und Baudio traute er zu, dass sie ein Gegenüber behutsam ausfragen konnten. Aber bei den anderen Männern hatte er da gewaltige Zweifel. Sie waren sicher gute Krieger, aber ebenso sicher keine subtilen Psychologen. Hoffentlich irrte er sich, denn sonst konnten sie Bassus’ Leben zusätzlich in Gefahr bringen. Falls es nicht sowieso schon längst zu spät war.

Tony verging der Appetit. Was sollte das Gerede? Sie durften keine Zeit verlieren!

Er sprang auf und verkündete: „Also, ich ziehe jetzt los“, und wandte sich der Tür zu.

„Und wie willst du dich zurechtfinden?“, fragte Severus.

Tony blieb stehen. Wenn Severus ihm jetzt einen dieser Muskelmänner als Begleiter mitgab, würde er sich weigern und alleine gehen. Er würde schon klarkommen. Schließlich hatte er Harpalos dabei. Und der verlor nie die Orientierung. Mit seiner feinen Nase würde er Bassus überall aufspüren. Genau. Er würde alleine gehen. Basta! Gerade als er Severus seinen Entschluss mitteilen wollte, befahl dieser: „Du gehst mit Ildiger.“

Tony atmete durch. Ildiger, das war okay. Außerdem konnte er ihn unterwegs als Germanischlehrer einspannen.

„Ihr geht wieder als Geschirrhändler“, sagte Severus. „Erklärt den Leuten, dass die Konkurrenz unter den Händlern auf der römischen Seite so groß ist, dass ihr jetzt versucht, im Inneren von Germania Libera neue Kunden zu finden.“

 

Der Wald war dunkel. Sie ritten hintereinander auf einem schmalen, kaum sichtbaren Pfad. Eine Zeit lang hatte Harpalos versucht, neben oder zwischen ihnen zu laufen. Aber es war zu mühsam gewesen, denn Ildiger legte ein ziemliches Tempo vor. Jetzt saß der Hund zwischen zwei Geschirrkörben auf dem Rücken des Packpferdes, das zwischen Ildiger und Tony trabte.

„Wie wollen die Verwandten von Baudio Bassus denn erkennen?“, brüllte Tony nach vorne.

Ildiger wandte sich um. „Sie kennen ihn. Er und Donatus haben immer bei Baudio übernachtet. Bassus ist sehr beliebt bei ihnen.“

Nicht zum ersten Mal fragte Tony sich, wie er Bassus gegenübertreten sollte, wenn sie sich wieder begegneten. Auf der einen Seite gab es nichts, was er sich sehnlicher wünschte, aber auf der anderen Seite schämte er sich so sehr für sein früheres Verhalten, dass ihm vor diesem Wiedersehen auch ein bisschen graute.

Inzwischen war er froh, dass zumindest Ildiger ihn begleitete. Von ihm Germanisch zu lernen, konnte er unter den Umständen zwar vergessen, aber der Wald war so dicht und düster, dass er es nie im Leben allein geschafft hätte. Dann noch diese vielen Spuren im Schnee! Obwohl die Schneedecke dünner wurde, waren sie noch gut sichtbar. Hin und wieder war die Erde tief aufgewühlt, und der Schnee war mit Blut getränkt. Bei jedem Knacken zuckte Tony daher innerlich zusammen.

„Den Spuren nach wimmelt es hier regelrecht von Tieren“, rief er nach vorne.

„Das sieht schlimmer aus, als es ist. Du musst bedenken, dass es die Spuren vieler Monate sind.“

„Ach so!“ Aber wirklich beruhigt war Tony nicht.

Er stellte sich vor, wie Bassus sich ohne Pferd durch einen solchen Wald kämpfte, und verzweifelte wieder. Ohrenbetäubender Lärm riss ihn nach einer Weile aus seiner trüben Stimmung. Für einen Moment bebte die Erde. Was war das? Eine Herde Auerochsen?

„Ildiger!“

„Wir haben bald das nächste Dorf erreicht.“

„Oh, gut. Aber was war das für ein Lärm eben?“

„Vermutlich ist ein Baum umgefallen.“

„Einfach so?“

„Das kommt vor. Bäume leben nicht ewig.“

Toll. Kritisch musterte er von nun an jeden Baumstamm, und bald tränten ihm die Augen vor Anstrengung.

Die meisten Bäume waren fast doppelt so hoch wie die Bäume in seiner Zeit. Und einige sahen sehr, sehr alt aus. Jetzt wurde Tony auch bewusst, was er die ganze Zeit nur unterschwellig registriert hatte: Die Bäume ächzten. Und einige ächzten mehr als andere.

Er sah hinauf in ihre Kronen. Sie wiegten sich heftig hin und her. Ihm wurde schwindelig. Der Wind musste ziemlich stark wehen. Nur hier unten bekamen sie nichts davon mit. Woher kam das? Er fragte Ildiger.

„Wir befinden uns in einer Mulde. Die Kronen der Bäume ragen darüber hinaus.“

Wie es wohl war, von einem Baum erschlagen zu werden, dessen Stamm einen Umfang von mehreren Metern hatte? Was, wenn man nur mit den Beinen darunter geriet?

Das waren keine aufbauenden Gedanken. Tony schob das Thema Bäume beiseite.

„Wann kommen wir denn endlich zu dem Dorf?“

„Eigentlich müssten wir längst da sein.“

„Sag bitte nicht, dass du dich verirrt hast.“

„Wenn wir es nicht bald erreichen, könnte das zutreffen.“

„Ich dachte, du kennst hier jeden Baum und Strauch.“

„Leider nicht“, rief Ildiger fröhlich, „genau genommen bin ich heute zum ersten Mal in dieser Gegend.“

Das durfte doch nicht wahr sein!

„Aber ich habe mir den Weg genau beschreiben lassen“, fügte er hinzu und hörte sich überhaupt nicht besorgt an.

 

Stunden später hielten sie an und aßen und gaben auch den Pferden Futter. Ildiger kaute mit gesundem Appetit.

„Ich schätze, es ist früher Nachmittag. Dem Moos auf den Baumrinden nach müssen wir uns ab jetzt eher in diese Richtung bewegen.“ Er deutete irgendwo zwischen die Bäume.

„Und wenn wir das Dorf trotzdem verfehlen?“

„Wir haben es längst verfehlt. Als nächstes treffen wir auf ein anderes Dorf weiter im Osten. Es liegt jedoch noch eine Tagesreise entfernt.“

„Wo werden wir übernachten?“

„Hier im Wald. Wo sonst?“

Da Ildiger weiterhin guter Dinge war, dürften wilde Tiere keine Gefahr darstellen.

„Gibt es hier Hochsitze?“

„Hochsitze? Was ist das?“

„Jäger bauen sie aus Holz auf hohen Stelzen und legen eine Leiter an. Im Notfall kann man die Leiter dann heraufziehen.“

„Ah, jetzt verstehe ich.“ Ildiger lachte. „Nein, das gibt es hier nicht. Schade eigentlich, denn das wäre natürlich praktisch gewesen.“

„Was machen wir wegen der Bären und Wölfe?“

„Die Bären schlafen noch.“

Das hätten sie ihm doch schon gestern sagen können!

„Und die Wölfe?“

„Wir bringen sie dazu, uns in Ruhe zu lassen.“

„Wie?“

„Da gibt es Möglichkeiten.“

 

Noch nie war Tony ein Lagerfeuer weniger heimelig vorgekommen. Fast hätte er sein Benzinfeuerzeug gezückt, weil es so lange gedauert hatte, bis es endlich brannte. Nun saßen sie davor und starrten auf einen mit Schnee gefüllten Kochtopf, der über den Flammen hing. Was wollte Ildiger denn kochen? Sie hatten schon Brot und geräucherte Würste gegessen. Und gegen den Durst konnte man sich Schnee in den Mund stopfen. Tony wollte jedoch nicht fragen, um nicht dauernd unwissend zu wirken. Ildiger wusste schließlich nicht, dass er aus einer anderen Zeit kam. Doch dann fiel ihm ein, dass er Bassus immer zu wenige Fragen gestellt hatte. Und das war auch nicht gut gewesen.

„Was werden wir mit dem geschmolzenen Schnee machen?“, fragte er.

„Unser Revier abstecken.“

Was sollte das nun wieder? Doch er fragte nicht weiter. Er würde schon sehen, was passierte.

Es knackte. Tony starrte angestrengt in den Wald. Aber da war nur eine schwarze Wand.

Und dann sah er sie.

Augen.

Sie leuchteten. Und nicht sehr hoch über dem Boden. Also keine großen Tiere. Wildschweine? Luchse? Oder schon die Wölfe, die sich die Lippen leckten? Da waren die Augen auch schon weg. Kurz danach leuchteten woanders Augen. Kleine. Direkt über dem Boden.

„Ich dachte, die kleineren Tiere halten alle Winterschlaf?“

„Einige sind schon wach. Sie spüren den nahenden Frühling.“

Tony verdaute diese Information. „Könnten da, zumindest theoretisch, nicht auch schon einige Bären wach sein?“

„Das will ich nicht hoffen. Nach ihrem Winterschlaf sind sie ganz schön ausgehungert.“ Und nach einer Pause: „Sie sind dann regelrecht wahnsinnig vor Hunger.“

Super! Vielleicht würden sie ja von einem Bären gefressen. Oder von einem Rudel Wölfe. Und obwohl Tony eigentlich lieber gestorben wäre, als ohne Bassus in dieser Welt weiter zu leben, fand er keine dieser Todesarten erstrebenswert.

Als hätten die Wölfe seine Gedanken gelesen, stimmten sie auf einmal ihr Geheul an. Kurz danach reckte auch Harpalos seine Schnauze in den Himmel und heulte. Es klang herzerweichend. Tony erschrak. Harpalos lockte die Wölfe mit seinem Gejaule doch geradewegs an!

Aber offenbar hatte er sie stattdessen zum Schweigen gebracht. Harpalos bellte. Niemand gab Antwort.

Jedenfalls schien Harpalos vor den Wölfen keine Angst zu haben. Was wohl in ihm vorgegangen war, als er die Stimmen seiner wilden Brüder gehört hatte? Fühlte er sich ihnen näher als den Menschen?

Musste Tony jetzt Angst vor Harpalos haben?

Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Hund aus, doch der blieb friedlich. Tony legte ihm die Hand auf den Kopf. Harpalos schien das, wie immer, zu mögen.

Eine seltsame Ruhe breitete sich auf einmal in Tony aus. Hier irgendwo musste doch die Stelle sein, wo sich in seiner Zeit die Waldhütte befand, in der er wochenlang gelebt hatte und wo Gwanwyn ihn aufgespürt hatte? Hatte er dort in der nächtlichen Einsamkeit je Angst verspürt? Wenn ja, war es ihm nie bewusst geworden. Nein, wahrscheinlich nicht. Er kannte damals nur ein Gefühl: Trauer um Melanie. Darüber hinaus war er damit beschäftigt gewesen, Pläne zu Rolands Vernichtung zu schmieden. Außerdem war es damals etwas wärmer gewesen. Und er hatte Kerzen, eine Taschenlampe, einen Spirituskocher, einen Schlafsack, ein funktionierendes Handy mit Netz, …

Und jetzt war er wieder in diesem Wald, neben einem Germanen, der nur sechs oder sieben Jahre älter war als er selbst und sich keine Gedanken zu machen schien.

Das Schneewasser begann zu kochen. Ildiger warf Kräuter hinein.

Würden sie jetzt etwa Tee trinken?

 

„Komm schon. Der Kreis muss möglichst groß sein.“

Doch noch immer rührte Tony sich nicht.

„Was… ?“

„Wir markieren unser Revier.“

Da ihm fast die Blase platzte, trat Tony schließlich neben Ildiger, der um ihren Lagerplatz herum in einem großen Kreis alle paar Meter in den Schnee pinkelte.

„Du musst deine Marke an der Außenseite des Kreises direkt neben meine setzen, dann steigen die Chancen, dass sie es akzeptieren. Es sieht für sie dann nämlich so aus, als habe schon ein anderes Tier meine Grenzen respektiert.“

Er legte los. Oh, tat das gut.

„Nicht so viel auf einmal. Sonst musst du die halbe Nacht von dem Zeug trinken und pinkeln.“

Er dosierte.

Später lag er in seine Decken gewickelt neben Ildiger am Feuer. Harpalos hatte sich der Länge nach zwischen sie geschmiegt.

Als Tony aufwachte, war der Tag bereits angebrochen, und Ildiger teilte sein Frühstück mit Harpalos. Alle hatten sich offenbar verschworen, ihn unter keinen Umständen je zu wecken.

„Werden wir von jetzt an immer im Freien übernachten?“

Ildiger lachte. „Wenn du möchtest.“

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Es war schon so gedacht, dass wir in den Dörfern übernachten.“

„Wirst du das nächste Dorf denn finden?“

„He, nicht so frech.“

„Aber was, wenn wir uns doch wieder verirren?“

„Dann gehen wir eben den Weg zurück, den wir gekommen sind.“

Tony drehte sich um die eigene Achse. Wären da nicht ihre Spuren im Schnee gewesen, hätte er nicht einmal sagen können, von wo sie gestern Abend gekommen waren.

Gut, dass im Laufe des Tages die Sonne hervorkam. Obwohl sie nur an wenigen Stellen bis zum Boden durchdrang, fühlte Tony sich sofort zuversichtlicher. Und dann, Stunden später, hörten sie es: gleichmäßige Schläge, wahrscheinlich von einer Axt. Jemand, der Holz spaltete? Dann hörten sie auch Stimmen. Männerstimmen. Und kurze Zeit später eine Frau, die einen Namen rief.

„Glückwunsch!“, sagte Tony trocken.

Ildiger grinste.

 

Die Dorfbewohner starrten sie feindselig an. Ildiger übersetzte für Tony.

„Wir brauchen kein römisches Geschirr“, erklärte eine grauhaarige Frau.

„Weder aus Sigillata noch aus Glas“, rief hinter ihnen jemand spöttisch.

„Hier gelten die germanischen Sitten“, sagte eine andere Frau.

Tony fühlte sich immer unbehaglicher. Irgendetwas lief hier total schief. Am liebsten hätte er Ildiger am Ärmel gepackt und in den Wald zurückgezogen. Doch der gab nicht so schnell auf und redete auf die Menschen ein.

Aufmerksam betrachtete Tony die Gesichter. Einige Leute schien Ildiger zu überzeugen. Aber die meisten blieben abweisend. Es machte keinen Sinn, hier zu bleiben. Hier konnten sie auf keinen Fall Fragen stellen, wie harmlos die auch klingen mochten. Warum verabschiedete Ildiger sich nicht einfach und entschuldigte sich für die Störung?

Doch jetzt fragte Ildiger etwas, das er verstand, denn er kannte inzwischen zumindest das germanische Wort für übernachten. War Ildiger wahnsinnig? Tony wollte hier nicht übernachten!

Er raunte ihm zu: „Lass uns lieber wieder im Wald schlafen.“

Überraschend trat jedoch plötzlich ein Mann vor, der der Anführer zu sein schien, und erklärte auf Latein: „Selbstverständlich seid ihr heute Nacht unsere Gäste. Kommt mit.“

Die bewaffneten jungen Männer, die ihnen folgten, waren zwar die Söhne des Mannes, trotzdem fühlte Tony sich wie ein Gefangener. Sie stellten Ildiger unterwegs auf Germanisch Fragen, die der ruhig und freundlich beantwortete.

Schließlich erreichte ihre Gruppe ein Gehöft, das weit außerhalb lag. Ein geflochtener Zaun umgab das Gelände und reichte bis zum Horizont. Das Haupthaus war mehr als doppelt so groß wie die anderen Häuser des Dorfes, und dahinter standen mehrere kleinere hölzerne Gebäude. Dorthin führte einer der Söhne ihre Pferde.

Zwei vornehm gekleidete Frauen in germanischer Tracht, die eine noch jung, die andere im Alter ihres Gastgebers, standen an der Tür des Haupthauses und sahen ihnen mit verschlossenen Gesichtern entgegen.

„Mein Frau und meine Tochter“, sagte ihr Gastgeber, nannte aber keinen Namen. „Und dies sind Festus und Ildiger, Geschirrhändler von der anderen Seite. Morgen werden sie weiterziehen.“

Die ältere Frau bat Tony und Ildiger in einen hallenartigen Raum, in dem es wohlig warm war. Eine lange Tischreihe war mit Leinen und einfachem Geschirr aus Holz und Ton gedeckt. Es gab viel mehr Gedecke als Gäste.

„Erwartet ihr noch jemanden?“, fragte Ildiger.

„Einen römischen Freund“, antwortete ihr Gastgeber.

Was für ein Zufall! Eigentlich hätte Tony erleichtert sein müssen, dass die Leute hier offensichtlich doch keine Römerhasser waren, aber in seinem Inneren begann etwas zu vibrieren.

„Hier stimmt etwas nicht“, flüsterte er Ildiger zu.

„Es ist nur bis morgen früh“, flüsterte der zurück. Aber auch er wirkte angespannt und blickte immer wieder um sich, als erwartete er jeden Moment, dass ihn jemand von hinten ansprang.

Die Frau und das Mädchen verteilten Teller und Schalen mit Essen auf den Tisch.

Ihr Gastgeber erklärte: „Lasst uns nicht auf die anderen warten. Vielleicht kommen sie erst mitten in der Nacht oder gegen Morgen.“

Zusammen mit der Familie setzten sie sich an den langen Tisch.

Wieder stieß Tony Ildiger an: „Harpalos ist nicht da.“

„Er ist sicher bei den Pferden.“

An irgendetwas erinnerte ihn diese Situation. Wo hatte er etwas Ähnliches erlebt? Aber er kam nicht darauf. Er war ohne Harpalos gewesen, und es hatte gutes Essen gegeben. Was war es nur? Und wann und wo? Es wollte ihm einfach nicht einfallen. Plötzlich wurde ihm übel. Hatte ihr Gastgeber ihnen etwas ins Essen mischen lassen? Doch Ildiger, der mit sehr viel größerem Appetit aß, schien keine Probleme zu haben. Spielten ihm seine Nerven einen Streich? Tony rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dann wollte er nur noch aufspringen und davonlaufen, denn jetzt erinnerte er sich.

Im selben Moment wurde es draußen laut. Ihr Gastgeber und seine Söhne erhoben sich. Kam es ihm nur so vor, oder hatten sich seine Frau und seine Tochter tatsächlich besorgte Blicke zugeworfen?

Und dann hörte er die Stimme, von der er gehofft hatte, dass er sie nie wieder in seinem Leben hören musste.

Er sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten flog.

„Was ist?“, fragte Ildiger

Tony rannte aus der Tür, um gleich darauf abrupt stehen zu bleiben. Vor ihm stand eine Gruppe bewaffneter Reiter.

An ihrer Spitze der Mann mit der Brandnarbe.

Doch für ihn interessierte Tony sich nicht. Jedenfalls nicht in erster Linie. Stattdessen konzentrierte er sich auf den römisch gekleideten Mann, der gerade von seinem Pferd sprang.

„Wer ist das?“, fragte Ildiger, der ihm gefolgt war.

Tonys Beine gaben nach. Ildiger konnte ihn gerade noch stützen.

Ihr Gastgeber ging auf die neuen Gäste zu. Mit ausgebreiteten Armen rief er: „Ich heiße euch willkommen, Audica und Perpenna!“

„Scheiße“, zischte Ildiger.

Da kam Perpenna auch schon auf Tony zu. Als wären sie die besten Freunde, rief er erfreut: „Oh, Bassus Tonianus, was für eine Überraschung!“, und verneigte sich.

„Wieso Bassus?“, fragte ihr Gastgeber. „Er hat sich hier als Festus vorgestellt.“

„Entschuldigt“, sagte Perpenna und wedelte theatralisch mit seinen Armen, „der junge Mann ist der Adoptivsohn des verschwundenen Kundschafters von der Ala Noricorum. Sicher stimmt auch Festus. Ihr wisst ja, wie das ist bei römischen Adoptionen. Man bekommt meist ganz viele Namen verpasst, nicht wahr, Festus Bassus?“, fragte er und strahlte.

Die Germanen tuschelten aufgeregt miteinander. Audica wandte sich an Ildiger. „Du kommst mir auch bekannt vor“, sagte er.

Feindselig erwiderte Ildiger: „Hallo, Onkel Audica! Ich war noch ein Kind, als du mich das letzte Mal gesehen hast.“

Audica lächelte. „Da kann man wieder einmal sehen, wie die Zeit vergeht. Was machst du hier zusammen mit dem Sohn des Kundschafters Flavius Bassus?“

„Geschirr verkaufen“, sagte ihr Gastgeber höhnisch.

„Aus dir ist ein Händler geworden?“, rief Perpenna, an Tony gewandt. „Ich hätte nie gedacht, dass wir uns eines Tages als Kollegen wieder begegnen.“

„Wir sind keine Kollegen!“, brach es aus Tony heraus.

Wieder hob Perpenna die Hände. „Ich weiß, ich weiß, wir handeln mit unterschiedlichen Waren“, sagte er zerknirscht. Dann wandte er sich an ihren Gastgeber: „Womit wir beim Thema sind. Hast du meine Ware?“

Der Germane warf einen undefinierbaren Blick auf Tony und Ildiger und erwiderte: „Deine Ware ist nicht hier. Aber ich bin sicher, dass wir sie dir bald übergeben können. Sei bitte bis dahin mein Gast.“

„Nun, wenn es nicht für allzu lange ist, denn du weißt ja“, sagte Perpenna lächelnd, „wir Händler haben immer viel zu tun.“

Ihr Gastgeber lachte unsicher. „Keine Sorge. Es wird sich lediglich um ein oder zwei Tage handeln. Und wir tun unser Bestes, um es dir bequem zu machen.“

 

Audica aß nur wenig. Stattdessen ließ er seine Blicke hin und her schweifen. Man konnte jedoch unmöglich ahnen, was in ihm vorging. Seine Miene war unergründlich. Gerade wegen der schrecklichen Narbe, die seine komplette linke Gesichtshälfte verunstaltete, fiel auf, dass er einmal ein außergewöhnlich gut aussehender Mann gewesen sein musste. Ohne die Narbe hätte er sogar Perpenna in den Schatten gestellt.

Im Gegensatz zu Audica ließ der es sich schmecken. Aber es war offensichtlich, dass ihr Gastgeber ihn verachtete. Besonders als Perpenna die Frau des Hauses und die Tochter freundlich anlächelte und ihnen Komplimente wegen des Essens machte, konnte ihr Gastgeber seinen Abscheu kaum verbergen.

Einige der Begleiter von Audica und Perpenna aßen ebenfalls am Tisch mit. Die übrigen saßen auf einer Bank an der Längswand und aßen von Tellern, die sie auf den Knien hielten. Tony musterte sie kurz. Einer hielt seinen Kopf besonders tief, und irgendetwas an ihm wirkte vertraut. Tony betrachtete ihn genauer. Der Mann trug die typische germanische Tracht mit knöchellangen Hosen. Als seinem Nachbarn ein Stück Brot herunterfiel und ihm vor die Füße rollte, hob er es auf und wandte sich seinem Nachbarn kurz zu. Tony erschrak. Es war der Kundschafter, der ihn auf der Liburne angesprochen hatte. Hampus. Doch jetzt erinnerte nichts mehr an den römischen Soldaten.

Ildiger sah immer wieder zu Tony hin, als wollte er um Entschuldigung bitten. Aber es war zu spät. Jeden Moment würde man sie in Ketten legen.

„Wir müssen uns töten“, flüsterte Tony Ildiger zu. „Lass es uns jetzt gleich tun, solange wir noch ein Messer in Reichweite haben.“

Entsetzt sah ihn Ildiger an. „Lass uns doch erst einmal abwarten. Perpenna kann gar nichts von uns wollen. Er hat kein Recht, uns zu versklaven. Wir sind keine Kriegsgefangenen.“

„Das interessiert ihn nicht. Es geht nicht darum, uns weiter zu verkaufen. Er will uns sterben sehen, langsam und qualvoll. Und die Ware, auf die er wartet, ist sicher Bassus. Das ist Perpennas Rache dafür, dass Bassus mich gerettet hat.“

„Aber was hat das alles mit Audica zu tun?“

„Bassus ist Severus’ Freund und hat ihm beim Überfall von Audicas Männern geholfen. Vergiss nicht, dass Audica dabei seinen Bruder verloren hat.“

„Wenn sie uns tatsächlich gefangen nehmen sollten, werden wir eben wieder fliehen. Bassus ist es doch offensichtlich auch gelungen.“

„Es mag ja möglich sein, Audica zu entkommen. Aber aus den Fängen Perpennas gibt es kein Entfliehen.“ Tony holte tief Luft und raunte: „Ich werde mich jetzt töten. Und ich rate dir, dasselbe zu tun.“

Bevor Ildiger reagieren konnte, hatte Tony ein Messer ergriffen und wollte es sich ins Herz stechen. Doch plötzlich umklammerte ihn die Tochter seines Gastgebers von hinten. Sie war stark. Mit einem seiner Kung-Fu-Griffe wäre er trotzdem mühelos mit ihr fertig geworden, wenn nicht Hampus und seine Gefährten der jungen Frau blitzschnell zu Hilfe gekommen wären. Tony sah, wie ihr Gastgeber und Audica Ildiger überwältigten. Dann wurden seine Oberarme mit einem Seil an seinen Körper gefesselt.

 

Man hatte sie in eins der Nebengebäude geschleppt. Dort war es stockdunkel. 

Nach einer Weile brach Ildiger das Schweigen: „Was wird mit uns geschehen?“

Tony schwieg. Er hatte sich wieder auf den Weg zum Ort des Vergessens gemacht. Meter für Meter ließ er sich hinabsinken in die ewige Dunkelheit und Stille. Das war es also. Das war das Ende. Diesmal gab es keine Tür, von der ein Morvran ihn zurückreißen konnte. Da, wo er jetzt hinging, würde ihn niemand mehr erreichen können.

Eine schwielige Hand legte sich auf seinen Mund, und die Stimme von Hampus flüsterte: „Kein Laut.“

Er nahm Tony die Fesseln ab und half ihm auf die Füße. Ein Gefährte von Hampus half Ildiger.

Sie schlichen hinaus und über das Gelände. Am liebsten wäre Tony gerannt, aber ihre Befreier bestanden darauf, dass sie sich langsam bewegten, um die Tiere auf dem Hof nicht in Unruhe zu versetzen. Trotz der Kälte und des Schneckentempos war Tony bald schweißbedeckt.

Sie krochen durch ein Loch im Zaun. Nach einer Ewigkeit ließen sie auch die Felder des Dorfes hinter sich und betraten den Wald. Würden sie jetzt den ganzen Weg zurück ins römische Germanien laufen?

Aber auf einer Lichtung standen ihre Pferde. Hampus’ Gefährte hatte die Tiere am Abend statt in den Stall sofort wieder in den Wald geführt und dort festgebunden. Teres und das Pferd von Ildiger und ihr Packpferd hatte er ebenfalls dorthin gebracht.

„Werden sie uns nicht verfolgen?“, fragte Tony.

Hampus schüttelte den Kopf. „Jetzt hätten sie keine Chance gegen uns. Es wird sicher eine Weile dauern, bis wir ihre Rache zu spüren bekommen.“

 

Es dämmerte bereits, als sie zum ersten Mal eine Pause machten.

Ildiger fragte: „Warum bist du so still, Tony?“

„Es ist wegen Harpalos. Seid ihr wirklich ganz sicher, dass er nicht mehr in diesem Dorf ist?“

„Dann hätte er doch gebellt oder gewinselt, und das hätten wir in der Nacht gehört.“

„Könnten sie ihn erschlagen haben?“

„Ich glaube eher, dass es ihn zu seinen Verwandten im Wald gezogen hat. Er war doch schon gleich nach unserer Ankunft verschwunden“, meinte Ildiger.

„Würde ein gezähmter Hund denn von einem Wolfsrudel akzeptiert werden?“

„Wenn er sich richtig verhält, warum nicht?“

Tony hoffte, dass es so war. Und doch tat es weh, den schwarzen Hund, der seit so vielen Monaten sein Begleiter gewesen war, vielleicht nie wieder zu sehen.

Unterwegs ließ er sich von den anderen überholen und bildete das Schlusslicht ihrer Truppe. Ununterbrochen suchte er den Boden zwischen den Stämmen ab und hoffte, dass Harpalos auftauchen würde.

Inzwischen wusste er, dass Hampus in Trajanus’ Auftrag unterwegs war. Um näher an Audica heranzukommen, hatte er sich als Feind der Römer ausgeben, der die Seiten wechseln wollte. Audica war darauf hereingefallen und hatte ihn beauftragt, eine Gruppe von Männern zusammenzustellen, die den Sklavenhändler Perpenna auf einer wichtigen Mission begleiten sollte.

„Audica hat bestätigt, dass Bassus ihnen entkommen ist. Sie gehen jedoch davon aus, dass sie ihn bald wieder einfangen werden, denn Bassus ist in keiner guten Verfassung.“

Tony hatte sich bei diesen Worten der Magen umgedreht. „Was haben sie mit Bassus gemacht?“, hatte er Hampus gefragt.

„Sie haben mir nur gesagt, dass sie ihn wochenlang befragt haben, aber nichts Brauchbares aus ihm herausbekommen haben.“

„Worüber befragt?“

„Das konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich habe aber festgestellt, dass er gegen Bassus und noch mehr gegen dich, Tony, einen abgrundtiefen Hass nährt.“

„Und da hast du ihm brühwarm erzählt, dass er uns beide haben kann?“

Hampus hatte ihn verwundert angesehen. „Das hätte ich niemals getan. Sie wussten schon, dass du in Germania Libera bist. Jemand anderes muss eure Abreise von Severus’ Gut beobachtet und weiter gemeldet haben.“

Tony war erschrocken. War es jemand, der auf dem Gut lebte, jemand, dem alle dort vertrauten?

„Jedenfalls war es gefährlich, um nicht zu sagen dumm, dass ihr hierhergekommen seid. Um euch zu retten, ist meine Deckung aufgeflogen, und ich kann meine Mission nicht mehr zu Ende bringen.“

„Wenn du uns gleich auf der Liburne erklärt hättest, was du vorhast, hätten wir dieses Dorf meiden können, und das alles wäre nicht passiert.“

„Entschuldige, Tony, aber das war völlig ausgeschlossen. Es ist ein ehernes Gesetz, dass ein Kundschafter niemals, nicht einmal gegenüber seinen engsten Freunden, seinen Auftrag preisgibt.“

 

Tony hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr umgesehen, hatte nur auf die Mähne von Teres gestarrt. Jetzt war er so weit zurückgeblieben, dass er seine Begleiter weder sehen noch hören konnte. Panik stieg für einen Moment in ihm hoch. Er unterdrückte sie. Teres musste einfach etwas schneller den Spuren der anderen folgen, um wieder zu ihnen aufzuschließen.

Plötzlich zog er an Teres’ Zügeln, und das Pferd blieb stehen. Hatte er es sich nur eingebildet oder hatte er wirklich einen Hund winseln gehört? Er lauschte angestrengt. Nichts zu hören. Dass jedoch auch Teres etwas vernommen haben musste, sah Tony am heftigen Spiel seiner Ohren. Und jetzt drehte sich Teres auch noch nach rechts. Genau von dort war das Winseln gekommen, wenn es denn ein Winseln gewesen war. Tony ließ Teres in die Richtung gehen. Und obwohl er sich immer unbehaglicher fühlte, je tiefer sie in den Wald gerieten, so konnte er doch einfach nicht anders. Es war, als zöge ihn eine unwiderstehliche Kraft dorthin. Teres schien es genauso zu gehen.

Auf einmal lichtete sich der Wald, und sie standen vor einer riesigen gerodeten Fläche. Teres wich einen Schritt zurück. Auch Tony wäre zurückgewichen, wenn er nicht auf dem Pferd gesessen hätte. Eine ungeheure Energie schien von dem Ort auszugehen. Es war jedoch keine gute Energie. Seltsame hölzerne Figuren standen da, düstere, Furcht einflößende Gestalten. Tony musste sofort an Menschenopfer denken und suchte nach ausgebleichten Knochen. Er wusste, dass man diese Felder nicht betreten durfte, oder man war des Todes. Aber da war wieder dieses seltsame Winseln. Es klang, als ob jemand einem Hund die Nase zuhielt.

„Harpalos!“, schrie Tony.

Mit lautem Gejaule jagte ein schwarzes Etwas über die weiße Fläche auf ihn zu. Tony sprang vom Pferd und schloss den Hund in seine Arme. Gleich danach richtete er sich wieder auf. Hier musste noch jemand sein. Jemand, der Harpalos festgehalten hatte und der ihn sicher töten würde, wenn er den heiligen Ort entweihte. Tony sprang wieder auf Teres und galoppierte zurück in den Wald. Harpalos jedoch blieb stehen und sah immer wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Tony wollte ihn rufen, ihn antreiben, damit sie von hier wegkamen. Doch dann begriff er.

Diese weite, weiße Fläche! Er kannte sie! Er hatte sie in seinen Träumen gesehen.

Er steuerte Teres mitten in sie hinein. Sie folgten Harpalos‘ Spuren. Das war nicht leicht, denn auch die Wölfe hatten ihre Spuren hinterlassen.

„Bassus!“, rief Tony immer wieder.

Aber er wagte nicht, allzu laut zu rufen, damit nicht etwa herumstreunende Germanen ihn hörten. Auf der gegenüber liegenden Seite des Feldes hätte er fast die kleine Erhebung am Fuß eines riesigen Baumes übersehen. Er steuerte darauf zu. Es sah aus, als hätten die Wurzeln des Baumes ein Stück Boden nach oben gedrückt. Und genau das war auch geschehen. Darunter befand sich ein kleiner Hohlraum.

Tony sprang von Teres und kniete im Schnee. Er musste sich sehr tief hinabbeugen, um in die Höhle zu sehen.

„Bassus?“, flüsterte er.

„Tony“, kam es wie ein Windhauch zurück.

Auf einmal knieten Hampus und Ildiger neben ihm. Sie waren seiner Spur gefolgt. Behutsam zogen sie Bassus hervor und legten ihn auf eine Decke. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann von siebenundvierzig Jahren, er wirkte eher wie ein uralter Greis. Tiefschwarze Ringe lagen unter seinen Augen. Der lange Bart war verfilzt.