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Römische Provinz Britannia

 

Die Wunde am Knie hatte sich entzündet. Der Schmerz trieb dem Mädchen die Tränen in die Augen. Zwischen den Felsbrocken war es so eng, dass sie nur hineinpasste, wenn sie auf der Seite lag und die Beine bis zur Brust anwinkelte. Und auch das klappte nur, weil sie für ihre zehn Jahre noch sehr klein war. Aber es tat höllisch weh.

Sie bereute inzwischen bitter, dass sie geflohen war. Denn wirklich sicher war sie hier nicht. Wenn sie auch nur einen Fuß hinaussetzte, würden die Römer sie entdecken und töten. Wie ihre Familie und ihre Lehrer an der Druidenakademie. Wäre sie bei ihnen geblieben, dann hätte sie die Reise ins Jenseits bereits hinter sich. Stattdessen lag sie hier und musste warten, bis sie von selbst starb.

Doch das war gar nicht so einfach. Denn neben ihrem Versteck floss ein Bach. Sie musste zum Trinken nur die Hand ausstrecken. Und das hatte sie bereits mehrmals getan. Außerdem wurde sie immer hungriger. Bald würde der Wunsch zu essen den Wunsch zu sterben überdecken.

Sie steckte den Kopf hinaus. Die Sonne würde bald untergehen. Im Schutz der Nacht hatte sie vielleicht eine Chance. Da verbarrikadierten die römischen Soldaten sich in ihren Lagern. Nur wenige patrouillierten in der Umgebung. Auf die musste sie eben achten.

Sie wollte sich gerade wieder zusammenrollen, als sie erstarrte. Eine menschliche Stimme! Angestrengt lauschte sie dem vertrauten, beschwörenden Singsang. Aber wie war das möglich? Außer ihr waren doch alle tot? Kam die Stimme etwa aus dem Jenseits? Jedenfalls kam sie von Nordwesten. Vom großen Steinkreis. Stand der denn noch? Hatten die Römer ihn nicht zerstört?

Nichts hielt sie mehr. Sie zwängte sich hinaus und humpelte geduckt auf die Stimme zu. Nach einer Weile wehte der Wind frischen Brandgeruch in ihre Nase. Waren die Römer immer noch unterwegs?

Alle paar Schritte warf sie sich trotz ihrer Schmerzen flach ins Gras und lauschte. Als nach einer Ewigkeit die vertraute Silhouette des Kreises auftauchte, atmete sie auf. Vielleicht waren seine meterhohen Steinquader für die Römer zu schwer gewesen? Und für einen Moment war sie stolz. Ihre Vorfahren hatten diese tonnenschweren Felsen einst hierher geschleppt und nach dem Lauf der Gestirne ausgerichtet. Doch dann wurde ihr klar, dass die Römer schon Mittel und Wege finden würden, auch dieses Bauwerk zu zerstören.

Sie erreichte den ersten der mächtigen Steine, und in diesem Moment hörte der Gesang auf.

Ihr blieb fast das Herz stehen.

Das Pferd stand genau in der Mitte des Kreises und graste friedlich. Es war klein und stämmig. Im Licht der Abendsonne sah sie auf seinem Rücken den vierhörnigen Sattel der verhassten römischen Reitersoldaten.

Eine Weile lag sie einfach nur auf dem Bauch und wagte kaum zu atmen. Aber nichts geschah. Als sie ihren Kopf wieder hob, entdeckte sie die beiden Männer. Einen noch jungen Soldaten, der Lederhosen und ein Kettenhemd trug, und einen Druiden in seinen langen, weißen Gewändern. Auch er war noch nicht alt. Sie standen einander reglos gegenüber. Der Soldat hielt ein Schwert in der Hand. Der Druide war unbewaffnet. Mit ausgebreiteten Armen stand er vor einem der Steine. Es sah aus, als würde er den Soldaten willkommen heißen.

„Was ist los mit dir, Römer“, rief er plötzlich, „warum stößt du nicht zu?“

Der junge Soldat regte sich nicht.

„Komm schon“, fuhr der Druide fort, „dein Befehl lautet, uns auszulöschen.“

Jetzt löste sich der Soldat aus seiner Erstarrung. Aber anstatt sein Schwert in die Eingeweide des Druiden zu rammen, steckte er es in die Scheide zurück.

„Es wurde genug getötet.“

Der Druide sah ihn beinahe amüsiert an. „Hast du dich plötzlich daran erinnert, dass du ein Gewissen hast?“

Er lachte kurz und bitter auf. „Ein bisschen spät, Römer. Ich bin der einzige, der noch lebt.“

„Ich bin kein Römer.“

Der Druide hob die Augenbrauen. „Sag bloß, du gehörst auch einem Volk an, dem sie die Zivilisation brachten?“

„Ich bin Thraker.“

„Du Armer, dann kennst du das ja.“

„Geh. Ich werde dich nicht töten.“

Doch der Druide blieb. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich entspannt an den Stein.

Genau in diesem Moment fiel der letzte Strahl der Abendsonne auf das Gras in seiner Nähe. Er brachte etwas Langes und Schmales zum Funkeln. Auch der Römer entdeckte es.

„Warum hast du dein Schwert weggeworfen?“, fragte er.

„Weil es Zeit ist zu sterben, Thraker.“

„Ich hätte dich im Kampf töten können, wie es sich gehört.“

„Das hättest du nicht, glaube mir.“

„Ich bin ein guter Kämpfer.“

„Nicht so gut wie ich.“

Der junge Soldat beschloss, den seltsamen Wettstreit zu beenden. „Dann hatte ich ja richtig Glück.“

„Das hattest du, Thraker, in der Tat.“

Und die beiden Männer sahen einander schweigend an.