V
Immer noch fiel er. Nach einer Ewigkeit nahm er seltsame Geräusche wahr. Sie klangen wie Meeresrauschen und die Töne, die aus dem Radio kamen, wenn man nachts einen Sender suchte. Irgendwann erkannte er, dass es das Murmeln von Stimmen war. Mal waren sie lauter, mal leiser. Manchmal schienen sie ganz nah zu sein und im nächsten Moment wieder von weit her zu kommen. Es gab zornige und freundliche Stimmen, Schreie und Flüstern, in Sprachen, die er nicht verstand.
Nach einer weiteren Ewigkeit wurde ihm bewusst, dass er sich nicht mehr drehte und auch nicht mehr zu fallen schien. Er war endlich - wo auch immer - angekommen.
Er versuchte sich aufzusetzen. Sofort wurde ihm so übel, dass er die Augen schloss und liegen blieb. Wieder schlief er ein.
Er träumte, dass er in einem Zug saß, der eben anfuhr. Gwanwyn rannte draußen neben dem Zug her. Sie wollte ihm etwas Wichtiges sagen. Er rüttelte am Zugfenster, um es zu öffnen, aber es klemmte. Der Zug fuhr immer schneller, und Gwanwyn blieb zurück. Endlich bekam er das Fenster auf. Aber jetzt war Gwanwyn nur noch ein winziger Punkt in der Ferne. Dann war ihre Stimme plötzlich wieder ganz nah. Sie schien vom Gang des Zuges zu kommen. Komisch. Wie war sie denn in den Zug hereingekommen?
Und warum rief sie lateinische Wörter?
Er wachte auf. Immer noch konnte er jemanden hören. Es war jedoch nicht Gwanwyns Stimme, sondern die eines Mannes. Tony lauschte. In einem hatte er sich aber nicht vertan: Wer auch immer da herumbrüllte, tat es auf Latein. Seltsam.
Vorsichtig richtete er sich mit geschlossenen Augen auf. Sein Kopf tat zwar immer noch weh, aber ihm war zumindest nicht mehr schlecht. Er tastete seine Stirn ab. Feucht. War das Blut? Nun, die Verletzung schien nicht allzu tief zu sein. Dann fiel ihm der Schlag auf den Rücken ein. Er tastete die Stelle ab und stöhnte vor Schmerz auf.
Wo war er? Lag er am Ende immer noch auf dem Boden vor dieser Kellertür? Oder war er in einem Krankenhaus? Nein, dem Geruch und der leichten Brise nach war er draußen, unter freiem Himmel.
Hatten Rolands Handlanger ihn hier abgelegt? Waren sie noch in der Nähe? Plötzlich überkam ihn eine solche Verzweiflung, dass ihm wieder schlecht wurde. Wie waren sie ihm nur auf die Spur gekommen? Er war jedenfalls nicht so schlau und perfekt, wie er gedacht hatte. Regelrechtes Grauen erfasste ihn bei dem Gedanken, er könnte sich in Rolands Gewalt befinden.
Langsam öffnete er die Augen. Was er sah, sagte ihm zunächst gar nichts. Um ihn herum wuchsen Bäume und Sträucher. Dazwischen standen größere und kleinere Steingebilde. Einige von ihnen waren mit Säulen und Statuen verziert. Es gab auch schlichte, aufrecht stehende Steinplatten, auf denen einzelne Menschen oder Gruppen dargestellt waren. In einige Platten war auch nur ein Text eingemeißelt. Genau neben einer solchen Platte saß er auf dem Boden.
Die Dinger sahen aus wie die Grabplatten, die im Römisch-Germanischen Museum herumstanden. Hatten sie ihn, als er bewusstlos war, hierher geschleppt?
Er betrachtete einen der Säulenbauten etwas genauer. Ein ähnlicher stand im Museum im Erdgeschoß. Es war das Grab eines reichen Händlers aus dem Köln der Römerzeit. Franzis Vater hatte es ihnen gezeigt und erzählt, dass die Römer ihre Toten außerhalb der Stadt, entlang der Hauptverkehrsstraße, beerdigt hatten. Ja klar, jetzt wusste er es: Er war auf einem nachgebauten römischen Friedhof. Das hier musste eine Art Freiluftmuseum sein. Nur komisch, dass er nie von so einem Museum gehört hatte.
Neben ihm lag sein Rucksack. Er war erleichtert. Er hatte ihn über der Schulter gehabt, als der Schlag gekommen war. Ob etwas fehlte?
Offenbar nicht. Sogar das Nachtfernglas war noch da - und die Leberwurstbrote und die Apfelschorle! Gott, war er hungrig. Keine fünf Minuten später hatte er alles aufgegessen und die Flasche halb leer getrunken. Trotzdem war er noch hungrig. Er wühlte noch einmal und fand die Schokolade. Gierig verschlang er sie. Köstlich. Hatte er zufällig vielleicht auch Bonbons bei sich? Nein. Er trank den Rest der Apfelschorle. Danach griff er in die Taschen seines Anoraks. Rechts waren das Taschenmesser und Tempotaschentücher, links etwas Kleingeld. In der rechten Hosentasche steckten sein Schlüsselbund, der mit einer Kette am Gürtel befestigt war, und ein Feuerzeug. In der linken war sein Handy. Alles da. Aber nichts mehr zu essen.
Er checkte seine Armbanduhr: Kurz nach vier. Nachmittag also. Das konnte nicht sein! Oder doch?
Er war fast sechzehn Stunden bewusstlos gewesen?
Bedeutete das, dass seine Kopfverletzung schlimmer war, als sie sich anfühlte? Und wo, verdammt noch mal, war er hier? Wo lag dieses Freiluftmuseum? Und wer hatte ihn hierher geschleppt? Rolands Leute, die ihm aufgelauert hatten? Sechzehn Stunden. Theoretisch konnten sie ihn in dieser Zeit sehr weit weg gebracht haben. Sogar irgendwohin ins Ausland. Vielleicht war dieses Museum in Holland oder Belgien? Oder in der anderen Richtung, im Osten? War er am Ende gar in Polen oder in Tschechien? Verflixt, wenn sie ein Flugzeug zur Verfügung hatten, konnte er sogar in der sibirischen Taiga oder in Alaska sein. Aber wie hätten sie ihn durch die Flughafenkontrollen bringen können? Und wieso sollte dort jemand einen römischen Friedhof einrichten? Überhaupt, wozu ein solcher Aufwand? Roland wusste, dass er gut in Fremdsprachen war und sich überall durchschlagen würde. Sie hätten ihn auch einfach in einem Keller in der Nähe einsperren können.
Andererseits … Tony erstarrte. Roland würde ihn niemals am Leben lassen!
War er etwa tot? War das die andere Welt?
Er kniff sich in den Arm. Dann in den Oberschenkel. Er konnte es fühlen. Moment, er hatte auch einen kleinen Taschenspiegel. Hektisch wühlte er in seinem Rucksack. Da! Bevor er hineinsah, holte er tief Luft. Erleichterung. Er konnte sich sehen! Blass und zerzaust. Er war also unmöglich tot.
Wieder hörte Tony Stimmen. In der Richtung, aus der sie kamen, stand eine niedrige Mauer. Er rappelte sich auf und ging darauf zu. Nach wenigen Metern blieb er wieder stehen.
Hinter dem Mäuerchen lag eine Straße mit riesigen Pflastersteinen. Sie war leicht gewölbt, so dass das Regenwasser leichter in die schmalen Gräben an den beiden Seiten fließen konnte.
Von rechts kam ein kräftiger Mann mit einem rot angelaufenen Gesicht. Er trug einen langen, wollenen Umhang und darunter eine Art Hemd, das bis zu den Knien reichte. Um den Bauch hatte er einen Gürtel gebunden, und seine nackten Füße steckten in Sandalen. Er schwang einen Stock, mit dem er fünf bepackte Esel traktierte. Ihretwegen war er so wütend. Eines der Tiere weigerte sich, weiter zu gehen, und die anderen hatten offensichtlich keine Lust, es mitzuziehen.
Aus der anderen Richtung näherte sich ein schwerer hölzerner Karren, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Der Fuhrmann war ähnlich gekleidet wie der Mann mit den Eseln, nur dass sein Hemd kürzer war und er darunter Hosen trug. Er transportierte Säcke. Auf denen saßen ein Junge und ein Mädchen mit langen braunen Haaren.
Während der Ochsenkarren an den Eseln vorbeifuhr, wechselten der Fuhrmann und der Mann mit dem Stock einige scherzhafte Worte über den Charakter von Eseln. Tony konnte ihr Latein ganz gut verstehen.
Er versteckte sich hinter einem Grabstein und beobachtete weiter. Einige Zeit später sprach ein Reiter den Mann mit dem Ochsenkarren an. Er deutete nach Süden und sagte etwas wie: "...Colonia Blabla..." Der Wanderer nickte und antwortete mit: "Nos Agrippinenses ...sumus."
Wieder musste Tony an seine beiden Besuche im Römisch-Germanischen Museum denken. Auf dem Bruchstück eines der römischen Stadttore von Köln waren die Buchstaben CCAA eingemeißelt, laut Dr. Scheffler die Kürzel für den römischen Namen von Köln, Colonia Claudia Ara Agrippinensium. Es bedeutete, dass Köln auf Fürsprache der Kaiserin Agrippina, die in Köln geboren war, von ihrem Gemahl, dem Kaiser Claudius, zur Colonia erhoben worden war. Aus Dankbarkeit nannten sich die Kölner damals nicht "Colonia des Claudius", sondern "Colonia der Agrippina" oder kurz "Agrippinenser".
Tony stöhnte auf. Er musste einen so schweren Schlag abbekommen haben, dass er Halluzinationen hatte.
Er legte sich ins Gras und hoffte, dass er wieder einschlief. Beim nächsten Aufwachen war der Spuk dann sicher vorbei.
Aber so sehr er es auch versuchte, das mit dem Einschlafen klappte einfach nicht. Zum einen fürchtete er, als Rolands Gefangener aufzuwachen, und zum anderen kam er allmählich fast um vor Hunger. Außerdem wurde es ziemlich kühl. Es half nichts, er musste sich vorerst auf diese Situation einlassen.
Aber wo bekam er hier etwas zu essen her und eine Unterkunft für die Nacht?
Sein Kopf tat wieder weh. Ein bohrender, pochender Schmerz, der sich von Minute zu Minute steigerte. Tony wurde nach einer Weile so schlecht, dass er sich übergeben musste. So beschissen hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Jetzt hatte er genug!
Er würde einfach Gwanwyn anrufen.
Sein Handy war zum Glück aufgeladen, doch es gab kein Netz. Während er es in alle Himmelsrichtungen in die Höhe hielt, marschierte er in der Gegend herum. Nichts. Er setzte seinen Rucksack auf und lief in den Wald. Es ging sofort bergauf. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen, und er musste kurz stehen bleiben.
Er hatte furchtbaren Durst. Das Plätschern eines Baches drang an sein Ohr. Er lief auf das Geräusch zu und musste eine Weile wieder bergab gehen. Schließlich erreichte er den Bach. Das Wasser war kristallklar und schien sauber zu sein. Tony legte sich auf den Bauch und trank. Dann erinnerte er sich an die Schmerztabletten in seinem Rucksack. Er schluckte eine von ihnen und legte sich neben dem Bach ins Gras.
Sobald die Tablette zu wirken begann, stand er wieder auf und kletterte in die Richtung, aus der er gekommen war. Das vermutete er zumindest, denn sicher war er nicht. Nach einer Weile musste er sich eingestehen, dass er die Orientierung verloren hatte. Doch schließlich erreichte er die Kuppe des Hügels und betrat eine Lichtung. In ihrer Mitte stand ein großer, verlassener Wachturm. Unten war er aus Steinen gemauert, der Rest war aus Holz. Tony zog die schwere Tür auf und ging hinein. Vorsichtig stieg er mit dem Handy in der anderen Hand die knarrende Treppe hinauf. Oben würde er sicher ein Netz bekommen.
Er erreichte die überdachte Plattform und konnte von dort weit in die Landschaft sehen. Und während er das, was er sah, verarbeitete, begann er unwillkürlich zu zittern. Es war jedoch nicht wegen der Kälte.
Es war, weil er sich plötzlich so verlassen fühlte wie noch nie in seinem Leben. Und er hatte sich weiß Gott schon oft verlassen gefühlt.
Nirgendwo war eine Autobahn zu sehen, es gab auch keine Bahngleise und keine Stromleitungen. Der Rhein war breit wie ein Meer, die Umgebung kaum bebaut. In der Ferne konnte er auf einem breiten gerodeten Streifen zwei weitere hölzerne Wachtürme sehen. Dazwischen ragten Haufen aus dem Gras, aus denen Rauch aufstieg. Er hatte so etwas zwar noch nie gesehen, aber er vermutete, dass es die Meiler von Köhlern waren. Ganz links, inmitten von Feldern und Weiden, standen mehrere Gebäude, aus deren Schornsteinen ebenfalls Rauch kam. Viel Rauch.
Er schätzte, dass er nicht weit von der Stelle war, an der er zusammengeschlagen worden war.
Und trotzdem in unerreichbarer Ferne.
Jemanden anzurufen konnte er vergessen.
Diese Welt kannte keine Handynetze.
Die mit Wald bedeckte Fläche war nicht groß. Aber die Bäume waren viel höher als in seiner Zeit, und das Moos war weicher und die Sträucher undurchdringlich. Urwald.
Tony setzte den Rucksack ab und lehnte sich an einen Baum. Langsam rutschte er nach unten, bis er auf einer der riesigen Wurzeln saß, die aus dem Boden ragten. Resigniert betrachtete er das dichte Gestrüpp ringsherum. Eigentlich war es schön, wie ursprünglich dieser Wald noch war, besonders jetzt, wo die Blätter in der Abendsonne leuchteten.
Und ein Teil von ihm war auch froh, dass er Rolands Handlangern entkommen war.
Aber wie um Himmels willen war er hierher geraten?
Und: Wie kam er hier wieder weg?
Bald würde es dunkel sein. Gab es vielleicht auch noch Bären und Wölfe in den Wäldern? Er hielt den Atem an und lauschte. Hatte da nicht eben ein Zweig geknackt? Er schnellte in die Höhe und starrte in den Dschungel aus Blättern und Zweigen.
Doch es war unmöglich, etwas zu sehen. Gerade als er einige Zweige zur Seite schieben wollte, spürte er an seiner Kehle plötzlich einen stechenden Schmerz.
Er erstarrte.
Was auch immer da gegen seinen Hals gedrückt wurde, war scharf wie ein Rasiermesser. Und es war am Ende eines langen Holzstabs befestigt, der aus dem Gebüsch ragte. Ein weiterer, leiser Druck der scharfen Spitze, und Tony wich sofort einige Schritte zurück. Das scharfe Ding blieb dabei immer in an seinem Hals.
Das Grün teilte sich. Tony blickte in braune Augen über einem kurz geschnittenen, dunklen Vollbart mit einigen grauen Strähnen. Mehr konnte er vom Gesicht nicht sehen, denn der Rest wurde von einem metallenen Helm mit Wangenklappen verdeckt.
Der Mann strahlte Ruhe und Autorität aus, und Tony fragte sich unwillkürlich, wie er mit seinem verwilderten Haarschnitt, dem Daunenanorak, den weiten Jeans und seinen Laufschuhen mit Reflektoren wohl auf ihn wirkte.
Der Römer musterte ihn von oben bis unten. Dabei drückte er ihm weiterhin seinen Speer an den Hals.
Eigentlich hatte Tony sich römische Soldaten etwas anders vorgestellt. Es gab schließlich genug Darstellungen von Legionären in Röcken. Dieser Mann jedoch trug enge, sehr gut sitzende Lederhosen, die etwas unterhalb der Knie endeten. Sein langärmeliges Leinenhemd reichte bis zu den Oberschenkeln, darüber trug er ein Kettenhemd. Am Gürtel hingen weitere Waffen: eine Art Dolch und ein Schwert. An den Füßen trug er wollene Socken und knöchelhohe Sandalen. Und er wirkte äußerst durchtrainiert. Seine breiten Schultern wurden noch dadurch betont, dass ein langer, roter Wollumhang, den er lässig nach hinten geworfen hatte, auf der einen Schulter von einer großen Metallbrosche zusammengehalten wurde.
Was jetzt? Würde der Soldat ihn umbringen?
Tony versuchte, in seinen Augen zu lesen. Er sah wache Aufmerksamkeit.
"Salve“, sagte er und erschrak, weil seine Stimme so krächzend klang.
Der Römer hob leicht die Augenbrauen.
Okay, war vielleicht nicht ganz richtig so. Soldaten haben einen Rang. Aber verdammt, der einzige Rang, der Tony einfiel, war Centurio. War das ein hoher Rang? War er hier angebracht? Keine Ahnung. Ausprobieren.
Tony versuchte es noch einmal: "Salve“ - diesmal klang es etwas besser - und dann unsicher: „Centurio?“
Aber der vermeintliche Centurio schwieg immer noch und verzog keine Miene.
Tony beschloss, sich vorzustellen. "Nomen meus Tony, äh ich meine Tonianus Furmanus. Sum civis Coloniae Agrippinensium." Jetzt hatte er sich auch mutig als Bürger Kölns ausgegeben. Er machte weiter: "Ich hatte einen Unfall. Mein Kopf schmerzt, und ich habe Hunger." So, das Wichtigste war heraus. Halt, noch etwas: "Ich bin 13 Jahre alt."
Das schien zu wirken. Der Soldat zog seinen Speer einige Zentimeter zurück. Er deutete damit auf den Rucksack. Schnell schob Tony ihn mit dem rechten Fuß in seine Richtung. Der Soldat wollte ihn öffnen, kam aber nicht zurecht mit dem Plastikschnappverschluss. Tony deutete an, dass er ihm zeigen könne, wie es geht. Der Soldat trat einen Schritt zurück. Tony öffnete den Verschluss und zog auch den Reißverschluss auf. Der Römer verfolgte jede seiner Handbewegungen. Dann drückte er ihm wieder den Speer an den Hals. Tony verstand und wich zurück. Der Soldat widmete sich dem Rucksack. Mehrmals machte er den Schnappverschluss und auch den Reißverschluss auf und zu. Dann untersuchte er den Inhalt. Seine gleichmütige Miene verriet dabei nichts von seinen Gedanken.
Tony wusste, dass der Mann mit den meisten Gegenständen nichts anfangen konnte. Er wollte sie dem Soldaten erklären und trat einen Schritt näher. Doch der stieß so schnell mit dem Speer nach ihm, dass Tony beim Zurückweichen stolperte und hinfiel. Er schrie auf. Seine Seite brannte wie Feuer, und er wagte nicht, sich zu bewegen, ja nicht einmal zu atmen.
Der Römer tastete ihn ab. Tony stellte sich bewusstlos. Er spürte, wie sein T-Shirt hinaufgeschoben wurde. Dann verharrte der Römer plötzlich.
Tony ahnte warum.
Scheiße. Römerzeit hin oder her. Es war ihm unangenehm, wenn jemand seine alten Narben inspizierte. Er öffnete die Augen und wollte sein T-Shirt gerade wieder hinunterziehen, als er innehielt.
Der Soldat war zurückgewichen und sah ihn an, als ob er einen Geist vor sich hätte.
Oh Gott. War seine Verletzung so schlimm?
Er musste es wissen.
„Gravis?“, fragte er und deutete auf seine Rippen.
Doch so tief seine Erschütterung auch gewesen sein mochte, der Römer fasste sich schnell wieder.
„Non est gravis“, sagte er und wirkte wieder so ruhig und gelassen wie vorher.
Hatte Tony sich die Erschütterung nur eingebildet?
„Ich werde nicht sterben?“, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach.
„Nein. Sicher nicht.“
Tony wollte aufstehen. Weit kam er nicht. In seinem Nacken spürte er plötzlich denselben scharfen Schmerz, den er bereits von vorher kannte. Umzudrehen wagte er sich jedoch nicht.
Verdammt, er hatte niemanden kommen gehört.
Der Soldat vor ihm machte mit der Hand ein Zeichen, und der Druck in seinem Nacken war wieder weg. Ein zweiter Soldat erschien in seinem Blickfeld. Er war jünger als der erste und hatte blaue Augen. Außerdem machte er einen viel netteren Eindruck.
Der ältere Soldat sagte jetzt etwas, das Tony nicht verstand. Der jüngere nickte. Er beugte sich zu Tony hinab und fasste an seinen Hals. Sollte er ihn erwürgen? Doch er griff nur nach der Schnur, an der Gwanwyns Medaillon hing, und zog es Tony über den Kopf. Der Ältere nahm es und lief damit zu einer Stelle, die von der untergehenden Sonne noch erreicht wurde. Dort untersuchte er es.
Als er es Tony wieder brachte, wirkte er sehr verschlossen.
„Veni!“, sagte er barsch zu dem anderen Soldaten und lief davon.
Der Jüngere sah ihm einen Moment verdutzt hinterher. Dann folgte er. Nach wenigen Schritten hatte der Wald die beiden verschluckt.
Was war jetzt los? Ließen sie ihn einfach hier?
Die Sonne würde jeden Moment verschwinden. Tony musste wissen, wie er an Essen und eine Unterkunft kam.
Aber vor allem musste er wissen, wie er, verdammt noch mal, wieder in seine Zeit zurückkam.
Tony setzte seinen Rucksack auf, und für einen Moment blieb ihm vor Schmerz wieder die Luft weg. Dann rannte er den beiden hinterher.
Er musste sich anstrengen, um der Spur der Römer in dem dichten Wald zu folgen. Sie liefen leichtfüßig wie Indianer und waren sehr schnell. Immer wieder stolperte Tony oder knickte ein. Er biss die Zähne zusammen und lief weiter.
Schließlich erreichte er den Waldrand, und die ersten Grabmale tauchten auf. In der Dämmerung wirkten sie fahl und unheimlich. Die beiden Römer hatten jetzt kleine, kräftige Pferde bei sich. Eigentlich sahen sie eher wie große Ponys aus. Und sie waren geschmückt wie Zirkustiere. Routiniert sprangen die Soldaten von hinten auf und ritten los.
Tony würde sie nicht mehr erreichen.
Er blieb stehen und schnappte nach Luft. Den schweren Rucksack legte er ins Moos.
Da geschah es.
Mehrere Männer in knöchellangen bunten Wollhosen stürzten hinter einem Grabmonument hervor. Sie waren mit Speeren und Schwertern bewaffnet und griffen die beiden Reiter an.
Die Römer hatten keine Chance, doch sie verteidigten sich tapfer. Überraschend lange hielten sie ihren Angreifern stand, die sich mehr durch Wut als gute Technik auszeichneten. Trotzdem würden sie sterben.
Tony hatte keinen bewussten Entschluss gefasst. War es, weil er auf dem Boden einen Ast entdeckt hatte, den man gut als Schlagstock benutzen konnte? Egal. Er hob ihn jedenfalls auf. Aber im selben Moment hatte er eine noch bessere Idee. Er wühlte im Rucksack, bis er den Laserpointer fand. Dann legte er los. Immer wieder richtete er ihn auf die Augen der Angreifer. Einige waren schon geblendet und konnten nichts mehr sehen.
So, das müsste reichen. Sein Taschenmesser in der einen und den Stock in der anderen Hand, stürmte er mit lautem Gebrüll auf die Gruppe zu.
Dann war es vorbei. Die Angreifer waren weg. Und sofort setzten die Schmerzen wieder ein. Tony stöhnte und schaffte es gerade noch, zu einer Steinplatte zu kriechen. Der ältere Römer, der selbst an der Wange blutete, kam zu ihm und untersuchte ihn wieder.
Auch der Jüngere kam herbeigehinkt. Blut lief an seinem Arm hinunter. Viel Blut.
„Ich danke dir“, sagte er feierlich zu Tony. Dann verneigte er sich tief und setzte sich neben ihn.
Der Ältere zog aus der Satteltasche seines Pferdes Stoffstreifen und eine hölzerne Dose, die offenbar eine heilende Salbe enthielt. Die strich er dem jüngeren Soldaten auf die Wunde und verband sie. Dann untersuchte er die Pferde und verarztete auch sie mit der Salbe.
Als er fertig war, setzte er sich Tony gegenüber. Lange sah er ihn an. Was passte ihm nicht? Tony fühlte sich wie ein aufgespießtes Insekt und starrte zunehmend grimmig zurück.
„Einige deiner Rippen sind gebrochen“, sagte der Römer schließlich.
„Was kann man da machen?“
„Nichts. Es heilt von selbst. Aber du solltest eine Weile nicht kämpfen.“
„Kein Problem.“
„Du beherrschst beeindruckende Techniken.“
„Danke. Aber ihr seid auch keine schlechten Kämpfer.“
„Ohne dich wären wir verloren gewesen. Wir stehen tief in deiner Schuld, Tonianus Furmanus.“ Er hatte es höflich, aber ohne Begeisterung gesagt. Nicht so, als sei er wirklich dankbar.
„Keine Ursache“, antwortete Tony kühl - wow, der Soldat hatte sich seinen Namen gemerkt - „aber nenn mich bitte Tony.“
„Wie du willst, Tony. Ich bin Titus Flavius Bassus. Für dich einfach Bassus.“ Er deutete auf den jungen Soldaten mit den blauen Augen: „Und das ist Donatus.“
Donatus lächelte Tony etwas freundlicher an.
Bassus stand wieder auf. Trotz der Dunkelheit suchte er den Boden nach etwas ab. Etwas, das wichtig zu sein schien.
Tony knipste seine Taschenlampe an und reichte sie ihm. Bassus zögerte kurz, bevor er sie nahm, und ließ den Lichtstrahl über das Gras wandern. Nach einigen Schritten hatte er gefunden, was er gesucht hatte. Er hob es auf und kam zurück. Zusammen mit er Taschenlampe reichte er es Tony.
Es war Gwanwyns Medaillon. Das Lederband war gerissen.
„Woher hast du das?“
„Eine Frau hat es mir geschenkt.“
Mond und Sterne erschienen am Himmel und verbreiteten ein unwirkliches Licht.
„Wie hieß sie?“
Was sollte das? Der Name würde ihm nichts sagen. Aber gut, wenn er es unbedingt wissen wollte.
„Gwanwyn.“
„Kennst du sie gut?“
„Eigentlich nicht.“
„Warum hat sie es dir dann geschenkt?“
„Das weiß ich nicht. Sie gab es mir einfach und bat mich, es zu tragen.“
„Hat es eine besondere Bewandtnis mit diesem Medaillon?“, fragte Donatus.
Bassus überlegte einen Moment, bevor er sagte: „Es ist ein keltisches Medaillon.“
„Na und? Oder hat es magische Kräfte?“
Tony wurde hellhörig. Gebannt wartete er auf Bassus’ Antwort. Der aber schwieg.
War etwa dieses Medaillon dafür verantwortlich, dass er hier gelandet war? Und hatte Gwanwyn das gewusst? Andererseits: magische Medaillons! So ein Quatsch. Es gab für alles, was in der Welt geschah, eine naturwissenschaftliche Erklärung.
Aber wie war er dann hierher gekommen?
„Hat mich dieses Medaillon hierher gebracht?“, fragte er Bassus.
„Was meinst du mit hierher?“, fragte der zurück.
Mist. Die würden ihn für verrückt halten, wenn er ihnen erklärte, dass er aus der Zukunft kam. Aber er musste es ihnen sagen. Denn vielleicht wussten sie ja, wie er wieder zurückkam.
„In eure Zeit. Die Zeit des Imperium Romanum.“
Die beiden Männer schienen den Atem anzuhalten.
„Aus welcher Zeit kommst du denn?“, fragte Bassus schließlich.
„Aus der Zukunft.“
„Wie weit aus der Zukunft?“
„Etwa zweitausend Jahre.“
Donatus rutschte einen Meter weg. Bassus jedoch beugte sich zu Tony vor.
„Und dort lebt Gwanwyn?“, fragte er.
„Ja.“
„In der Colonia Agrippinensium, die es in zweitausend Jahren immer noch gibt?“
„Ja, es gibt die Stadt noch, aber Gwanwyn ist dort nur zu Besuch. Normalerweise lebt sie in Wales.“
„Wales?“
„In eurer Provinz Britannia.“
Donatus rutschte wieder ein Stück näher.
„Du warst doch auch in Britannia, Bassus.“
„Das ist sehr lange her.“
Dann schwiegen sie.
Nach einer Weile stand Bassus auf. „Nicht weit von hier ist das Gut meines Freundes Severus. Dort werden Donatus und ich erwartet. Du kommst mit.“
Er reichte Tony die Hand. Für einen Moment sah es so aus, als hätte er die Absicht, ihm seine Freundschaft anzubieten, doch er wollte ihm lediglich aufhelfen.
Tony winkte ab. Er arbeitete sich allein hoch. Aber als er endlich stand, wankte er. Bassus packte ihn am Arm und führte ihn zu seinem Pferd. Da es keine Steigbügel hatte und auch der Sattel mit seinen vier Hörnern recht seltsam geformt war, musste Tony sich hinaufhelfen lassen.
Donatus schaffte es trotz seiner Verwundung ohne Hilfe auf sein Pferd.
Sie setzten sich in Bewegung. Bassus lief zwischen den beiden Pferden. Sobald sie die Straße erreicht hatten, wandten sie sich nach Norden. Auf den großen Pflastersteinen klangen Bassus’ Schritte auf einmal sehr laut und metallen. Die Pferde waren da viel leiser. Anscheinend trugen sie keine Hufeisen.
Obwohl es nirgendwo Lampen gab, war es nicht völlig dunkel. Zum ersten Mal in seinem Leben bewegte Tony sich nur im Licht des Mondes und der Sterne. Er war überrascht, wie hell sie leuchteten und wie gut er das Pflaster der Straße erkennen konnte. An den seltsamen Sattel mit den vier Hörnern gewöhnte er sich schnell. Man saß darauf sehr sicher, trotz der fehlenden Steigbügel.
Sie begegneten nur wenigen Menschen. Aber je weiter sie kamen, desto schlechter wurde die Luft. Tony bekam einen Hustenanfall und wurde dabei fast ohnmächtig vor Schmerzen. Seine Begleiter nahmen ihre Halstücher ab und hielten sie sich vor Mund und Nase. Tony zerrte ein Tempo heraus und machte es ihnen nach.
Bassus deutete auf die Silhouette einer Gruppe von Gebäuden.
„Die Ziegelei ist schuld“, erklärte er und fragte: „Kennst du das nicht aus deiner Zeit?“
„Doch, schon. Aber nicht so schlimm.“
„Bei uns ist es ein großes Problem. Hinzu kommen die vielen Meiler überall, in denen die Holzkohle für die Öfen der Brennereien hergestellt wird. Wer es sich leisten kann, zieht in Gegenden, wo die Luft noch sauber ist.“
Deshalb hatte er von oben so wenig Wald gesehen. Es wurde alles abgeholzt. Schade.
Allmählich wurde die Luft wieder klarer.
„Von welcher Legion seid ihr?“, fragte er seine Begleiter.
„Willst du uns beleidigen?“, rief Donatus.
„Ihr seid keine Soldaten?“
„Natürlich sind wir Soldaten“, stellte Bassus richtig, „aber keine Legionäre. Wir sind Reiter. Von der Ala Noricorum aus dem Castellum Durnomagus.“
„Und Kundschafter“, ergänzte Donatus. „Ohne uns könnten die Legionäre einpacken“, fuhr er fort, „Wir holen sie oft genug aus der Scheiße. Trotzdem halten sie sich für etwas Besseres.“
Dies schien ein heikles Thema zu sein. Tony verfolgte es lieber nicht weiter.
Wo dieses Durnomagus wohl lag?
Tony hatte bereits jegliches Gefühl für Zeit verloren, als sie von der großen Straße in eine Art Feldweg abbogen. Unglaublich weit weg, so schien es ihm jedenfalls, sah er ein winziges Licht leuchten. Es kam mit der Zeit näher und verwandelte sich in mehrere Lichter. Tony konnte Gebäude erkennen, die weitläufig von einem hohen Zaun umschlossen waren. Vor einem mit Wachtürmen flankierten Tor hielten sie an. Bassus wechselte mit den Wächtern einige Worte, dann ging das Tor auf.
Kaum hatten sie den Hof betreten, kamen mehrere Männer angerannt und halfen ihnen. Einer der Männer führte die Pferde zu einem Seitengebäude, dessen großes, hölzernes Tor offen stand. Leises Schnauben drang von dort heraus.
Tony wurde mit Bassus und Donatus zum Hauptgebäude dirigiert, einem einstöckigen, lang gestreckten Haus mit einem Ziegeldach. Die gesamte Vorderseite entlang zog sich eine Terrasse. Das Dach überdeckte sie völlig und wurde von Säulen gestützt.
Die Eingangstür ging auf, und ein großer, schlanker Mann in einem bodenlangen, hellen Gewand trat heraus und breitete die Arme aus. Auch er wirkte durchtrainiert, sah jedoch einige Jahre älter aus als Bassus.
„Ave, mein Freund!“, rief er.
„Ave, Severus“, erwiderte Bassus. Die beiden umarmten und küssten sich.
Der Hausherr wandte sich an Donatus. „Ave, Lucius Mamilius. Ist deine Verletzung schlimm?“
„Ave, Publius Flavius. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Donatus verneigte sich und legte dabei die rechte Hand auf sein Herz.
Jetzt fiel der Blick des Hausherrn auf Tony. Dessen seltsame Erscheinung weckte sichtlich sein Misstrauen. Bassus stellte Tony vor und berichtete, dass er ihm und Donatus das Leben gerettet habe. Severus begrüßte ihn daraufhin höflich, aber zurückhaltend, und bat sie einzutreten.
Im Flur hielten ihnen zwei Frauen Schüsseln mit Wasser zum Händewaschen hin und reichten ihnen Handtücher. Ein Mann und eine Frau kamen mit Krügen. Tony atmete auf. Es war frisches Wasser. Gierig trank er, bis ihr Gastgeber in die Hände klatschte und der Mann und die Frauen wieder verschwanden.
Zwei Kinder liefen herbei, ein etwa fünfjähriger, dunkelhaariger Junge und ein Mädchen in Melanies Alter mit blauen Augen und langen blonden Haaren. Severus strich ihnen über die Köpfe.
„Ave“, grüßten sie fröhlich in die Runde.
Zuletzt kam eine Frau, die ihre hellbraunen Haare in einem Zopf um den Kopf geschlungen hatte.
„Salve, Bassus! Salve, Donatus! Bei Jupiter, deine Wunde scheint noch immer zu bluten!“
„Salve, Marcia Flavia“, antworteten Tonys Begleiter.
Donatus und die Frau verneigten sich voreinander. Bassus umarmte sie.
Besorgt sagte sie zu Donatus: „Der Lehrer Herklides ist heilkundig. Er soll sich deine Wunde gleich einmal ansehen.“
Dann wandte sie sich Tony zu. Warmherzig sagte sie: „Ave, Junge. Du bist schrecklich blass. Ich glaube, du brauchst …“
In Tonys Ohren rauschte es auf einmal. War es, weil er müde war, oder weil er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte? Er schwankte und fiel.
Severus saß mit den beiden Soldaten um den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Donatus trug einen neuen Verband.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Severus.
„Das köstliche Abendessen hat mir neue Kräfte verliehen.“
Severus lachte.
Mehrere Öllampen und Kerzen brannten. Griffel und Wachstafeln, eine Schreibfeder auf einem Stapel Papyrusblätter und ein Gefäß mit Tinte auf dem Schreibtisch waren zur Seite geschoben, um Platz zu machen für den Inhalt von Tonys Rucksack. Daneben lagen sein Anorak und seine Sportschuhe und die Dinge, die sie aus den Taschen des Anoraks und seinen Hosentaschen genommen hatten.
Sie hatten jeden einzelnen Gegenstand ausgiebig untersucht und darüber gerätselt, wofür er wohl gebraucht wurde. Die Taschenlampe, das Schnappmesser, der Schlüsselbund, Geldmünzen, Schreibhefte und die Zündholzschachtel leuchteten ihnen ein. Mit dem Rest wussten sie nichts anzufangen.
„Er muss uns alles genau erklären und vorführen“, sagte Severus.
„Jedenfalls kleidet man sich seltsam in seiner Zeit und hat viele Dinge erfunden, die das Leben erleichtern“, sagte Bassus. „Zum Beispiel diese Flasche, sie ist durchsichtig wie Glas, dabei aber ganz leicht und stabil.“
„Ja, sehr praktisch“, bestätigte Severus.
„Ebenso diese Tasche, die man auf dem Rücken trägt, mit ihren vielen Verschlüssen.“
„Mir gefallen besonders die Schuhe“, sagte Donatus, „mit diesen dicken, biegsamen Sohlen.“
Severus nahm wieder das seltsame Ding mit den zwei kurzen Röhren in die Hand, über dessen Zweck sie sich besonders lange den Kopf zerbrochen hatten. Sie hatten bereits mehrmals hineingesehen, waren aber immer noch ratlos. Jetzt drückte Severus es an seine Augen.
„Das gibt es nicht!“, rief er plötzlich aufgeregt.
Er ging zum Fenster, öffnete es und drückte das Ding wieder an seine Augen. „Das ist einfach unglaublich! Man sieht damit alles um ein Vielfaches größer.“ Er dreht sich kurz um. „Aber das ist noch nicht alles, man kann damit sogar im Dunklen sehen!“
Bassus und Donatus sprangen auf und probierten es ebenfalls.
„Stellt euch vor, was für einen Vorteil dieses Ding einem Kundschafter verschaffen würde!“, rief Severus begeistert.
Nach einer Weile gab Bassus ihm das Fernglas wieder.
„Lasst uns jetzt lieber besprechen, was mit dem Jungen geschehen soll.“
„Ihr wärt ohne ihn wirklich verloren gewesen?“, fragte Severus.
„Oh ja. Wir wären jetzt ohne jeden Zweifel im Hades“, bestätigte Bassus.
„Diesen Kampf hätte ich gerne gesehen.“
„Es war schrecklich und gleichzeitig faszinierend. Er schlug und trat wie ein seelenloser Berserker, jedoch mit ungeheurer Präzision. Dabei ist er erst dreizehn“, sagte Donatus.
„Mich beschäftigen seine vielen Narben“, sagte Bassus. „Er scheint sich schon seit Jahren als Krieger zu betätigen.“
Severus zuckte mit den Achseln. „Vielleicht ist die Zukunft trotz dieser vielen praktischen Erfindungen ein schrecklicher Ort.“
„Entweder das, oder er ist ein entlaufener Sklave. Eine Art Gladiator.“
„Nun, das wäre in seiner Zeit und ginge uns nichts an, oder? Außerdem ändert es nichts daran, dass wir ihm unser Leben verdanken“, sagte Donatus nachdrücklich und sah Bassus an.
„Natürlich“, meinte Bassus kühl.
„Wir stehen in seiner Schuld und müssen ihm deshalb unseren Schutz gewähren“, forderte Donatus.
„Selbstverständlich.“
„Was ist denn los, Bassus?“, fragte Donatus befremdet, „so kenne ich dich gar nicht. Warum bist du dem Jungen gegenüber so feindselig?“
Bassus schwieg einen Moment, dann sagte er: „Findest du es denn nicht auch unheimlich, wenn plötzlich jemand in dein Leben tritt, der behauptet, aus einer fernen Zukunft zu sein?“
Donatus hob kurz die Hände. „Vielleicht kommt das ja öfter vor, und wir erfahren es nur nicht. Aber vor allem freue ich mich, dass ich noch lebe. Und das habe ich Tony zu verdanken.“
Bassus brummte etwas Unverständliches.
Severus sah wieder durch das Nachtfernglas. „Fürs Erste kann der Junge hier bleiben. Er muss sich sowieso eine Weile erholen, zumindest bis seine Rippen geheilt sind. Außerdem muss er lernen, sich wie die Menschen unserer Zeit zu verhalten, damit er nicht so auffällt. Danach sehen wir weiter.“
„Und wenn er sich … nun … als schwierig erweist?“, warf Bassus ein.
„Du kennst mich doch. Schwierigkeiten fordern mich heraus.“
Severus stand auf. „Kommt, lasst uns die Sachen in der Truhe verstecken. Die meisten würden sie für böse Zauberei halten. Und das könnte für Tony gefährlich werden.“
Donatus hatte sich bereits schlafen gelegt, während Bassus noch mit Severus und Marcia bei einer Karaffe Wein zusammensaß.
„Wir sollten über Tony so viel wie möglich herausfinden, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben“, sagte er.
Severus nickte. „Sicher. Sobald es ihm besser geht, werden wir ihm gründlich auf den Zahn fühlen.“
„Vielleicht lügt er ja, und er hat Gwanwyn das Medaillon entrissen, so wie sie damals mir.“
„Und hat sich danach, genau wie sie, in Luft aufgelöst?“, warf Severus ein. „So könnte es natürlich gewesen sein.“ An Marcia gewandt sagte er: „Das war jedenfalls die unheimlichste Geschichte, die mir je passiert ist.“
Marcia, die die ganze Zeit nur zugehört hatte, fragte Bassus: „Hat der Druide, der dir das Medaillon geschenkt hat, auch etwas dazu gesagt?“
„Ja. Und es war kompletter Unsinn. Die Wirklichkeit hat es längst widerlegt.“
Marcia sah ihn erwartungsvoll an. Aber mehr wollte Bassus nicht sagen.
Sie tastete sich noch ein Stück vor: „Du bist der Meinung, dass der Druide dir letztendlich nichts Gutes wollte?“
„So ist es. Er hat mich verhöhnt. Aber das ist mir erst viel später klar geworden.“
Marcia kam noch einmal auf Tony zurück: „Die Narben des Jungen könnten auch bedeuten, dass er schreckliche Dinge erlebt hat.“
Severus strich Marcia liebevoll über die Hand. „Auch das ist natürlich möglich. Sobald wir mit Tony reden können, werden wir klüger sein.“ Er sah ihr in die Augen. „Du magst den Jungen, habe ich recht?“
Marcia nickte. „Ich habe vorhin eine Weile bei ihm gesessen. Möglicherweise werden wir es nicht einfach haben mit ihm. Aber in seinem Gesicht ist nichts, was mir Angst macht.“
„Du hast ein gutes Herz, Marcia. Hoffentlich irrst du dich nicht“, sagte Bassus.
Während Severus nach der Weinkaraffe griff, fragte er Bassus auf einmal: „Marcia und ich wundern uns oft, warum du dir nach Orbianas Tod nicht wieder eine Frau gesucht hast. Du lebst seither wie eine männliche Vestalin.“
Bassus schwieg. Severus ließ nicht locker: „Außerdem sollte ein Mann Kinder haben.“
„Und wenn er keine zeugen kann?“, brach es aus Bassus heraus.
Einen Moment lang war es totenstill.
Dann fragte Severus: „Du sprichst von dir selbst?“
Weil Bassus wieder schwieg, legte er ihm die Hand auf den Arm. „Ist es das, was dich seit Jahren bedrückt?“
„Es bedrückt mich schon lange nicht mehr. Es ist eben so.“
„Bist du da sicher? Es könnte doch auch an den Frauen gelegen haben.“
„Ich hatte vor Orbiana schon einmal eine Freundin, und auch mit ihr hat es nicht geklappt. Als sie sich nach mir einem anderen Mann zuwandte, wurde sie sofort schwanger.“
Voller Mitgefühl sagte Marcia: „Ich kann dir nicht sagen, wie leid mir das tut. Trotzdem finde ich, dass du nicht aufgeben solltest. In der Nähe von Moguntiacum gibt es eine wundertätige Quelle. Sie ist der Göttin …“
„Nein, Marcia! Ich habe viele Jahre gebetet und geopfert. Es reicht. Die Götter wollen nicht. Ich muss es akzeptieren.“
„Das heißt aber nicht, dass du ohne Liebe leben musst.“
„Doch. Ich möchte nicht noch einmal eine Frau unglücklich machen, indem ich sie vor die Wahl stelle, zwischen ihrer Liebe zu mir und ihrem Wunsch nach Kindern zu wählen. Orbiana hatte sich für mich entschieden und damit das Opfer gebracht, als kinderlose Frau zu sterben.“
Marcia sah ihn eindringlich an. „Orbiana war sehr glücklich mit dir, Bassus. Sie hätte nichts dagegen, wenn du ein neues Glück fändest.“
Aber Bassus hob abwehrend die Hände. „Nach ihrem Tod habe ich beschlossen, mein Herz nie wieder zu öffnen.“
Er stand auf. „Das Thema ist für alle Zeit erledigt. Gute Nacht!“
Tony hielt seine Augen noch eine Weile geschlossen. Wenn der Spuk nur vorbei wäre und er wieder in seiner Zeit aufwachen würde! Doch die Geräusche und Gerüche sagten ihm etwas anderes. Jemand flüsterte. Jemand, der ganz nah war. Ein feuchtes Tuch wurde auf seine Stirn gelegt. Das tat gut. Er öffnete die Augen.
Es war immer noch Nacht. Auf einem Hocker stand eine Öllampe, und auf seiner Bettkante saß ein älterer Mann in einem knöchellangen Gewand, der eine Decke um sich geschlungen hatte. Er lächelte Tony an und reichte ihm Käse und Fladenbrot. Tony richtete sich auf und verspürte sofort wieder diesen stechenden Schmerz. Er fasste an seine Seite und fühlte einen Verband.
„Ich habe Eure Rippen etwas fixiert“, erklärte der Mann.
„Bist du Arzt?“
„Nein, Herr. Ich bin der Hauslehrer. Aber ich habe mir einige medizinische Kenntnisse angelesen. Ich heiße Herklides.“
„Bist du Grieche?“
„Ja, Herr.“
„Warum nennst du mich Herr?“
„Weil ich ein Sklave bin und Ihr ein freier Gast des Hauses.“
„Ich heiße Tony.“
„Ich weiß, Herr.“
Tony war das peinlich. Aber das Essen schmeckte köstlich. Gierig aß er. Dazwischen schenkte ihm Herklides aus einem Krug immer wieder mit Wasser verdünnten Wein ein. Tony war zwar nicht sicher, ob das für seinen Kopf das Richtige war, aber auch das Getränk schmeckte.
Als er das nächste Mal aufwachte, fühlte er sich großartig. Es war taghell. Er sah auf seine Uhr. Sie war weg! Vorsichtig richtete er sich auf. Bis auf die Kleidung, die er am Körper trug, waren all seine Sachen verschwunden. Er griff in die Taschen seiner Jeans. Leer.
Aus einer Ecke des Zimmers kam leises Rascheln. Dort hatte ein etwa zehnjähriger Junge gesessen, der Tony jetzt ängstlich ansah. Jetzt rannte er zur Tür und rief hinaus, dass Tonianus Furmanus wach sei. Kurz danach näherten sich energische Schritte. Bassus und Severus traten ein. Sie schickten den Jungen weg. Dann rückten sie zwei Stühle vor Tonys Bett und setzten sich.
Tonys Gedanken rasten. Sie würden jetzt alles über ihn wissen wollen. Aber Melanie und Roland gingen sie nichts an. Außerdem: Wenn er ihnen die ganze Wahrheit erzählte, würden sie ihn am Ende vielleicht ebenfalls für Melanies Mörder halten. Nein. Das konnte er nicht riskieren.
Aber all diese Dinge auszulassen und trotzdem eine plausible Geschichte zu erzählen, erwies sich als schwierig. Bassus und Severus begriffen schnell, dass er etwas Wesentliches verbarg.
Und Tony geriet immer wieder ins Stammeln. Dazu kam noch dieses verdammte Latein. Manchmal wollten ihm einfach nicht die passenden Wörter einfallen.
Es war offensichtlich, dass die beiden Römer Übung darin hatten, Menschen zu befragen. Severus ging dabei vor, als würde er annehmen, dass sein Gegenüber log. Das war Tony unangenehm, denn er log die beiden ja nicht an, er verschwieg lediglich vieles. Außerdem verhielt sich Severus äußerst herablassend, so als stünde Tony weit unter ihm.
Bassus hingegen war heute viel netter. Er schien jedenfalls alles zu glauben, was Tony ihm erzählte. Doch dann kam er plötzlich mit Fragen, auf die Tony nicht vorbereitet war. Bassus tat dies so freundlich und aufrichtig interessiert, dass Tony höllisch aufpassen musste, nicht aus Versehen mehr preiszugeben, als er eigentlich wollte.
„Was genau hat Gwanwyn gesagt, als sie dir das Medaillon gab?“, bohrte jetzt wieder Severus.
„Nichts.“
„Das kann nicht sein“
Tony mochte Severus mit seiner spitzen Nase und dem langen Pferdegesicht von Minute zu Minute weniger. Er hoffte, dass er sein Haus bald wieder verlassen konnte. Hilfesuchend wandte er sich an Bassus. Aber der sah ihn nur interessiert an.
„Eines Abends gab sie es mir einfach und bat mich, es immer zu tragen. Das ist alles. Ich schwöre es.“
„Wie hast du dir ihr Verhalten erklärt?“, fragte Bassus.
„Gar nicht. Sie wollte, dass ich das Ding trage, und weil ich ihr zu Dank verpflichtet war, habe ich es eben getan.“
Bassus horchte auf. Scheiße, jetzt hatte er zu viel gesagt.
„Zu Dank verpflichtet? Wofür?“
„Nun, weil sie mir geholfen hatte.“
„Wobei geholfen?“
„Das ist nicht wichtig.“
Jetzt mischte sich Severus wieder ein. „Du lügst. Wieso sollte eine Frau, der du zu Dank verpflichtet bist, dir ein Geschenk machen? In so einem Fall müsstest du ihr etwas schenken, nicht wahr?“
Ja, das war eigentlich logisch.
„Mehr hat sie nicht gesagt. Ehrlich.“
„Erzähle uns noch ein bisschen mehr über Gwanwyn. Was macht sie in Britannia? Und warum ist sie in der Colonia zu Besuch?“
Oh Mann! Er wurde bald wahnsinnig. Wie sollte er das erklären? In der Römerzeit gab es noch keine Universitäten. Ah, er wusste wie.
„Sie ist Lehrerin an einer Akademie. Sie unterrichtet die Geschichte der Kelten. Und sie forscht und veröffentlicht Bücher darüber.“
„Sie ist Geschichtsschreiberin? Wie Plutarch und Xenophon?“
„So in etwa.“
„Als Frau?“
„Natürlich. Frauen sind schließlich genauso klug wie Männer.“
Die Römer verzogen keine Miene.
Und dann fragten sie wieder, zum hundertsten Mal: „Wie hast du Gwanwyn kennengelernt? Und wie kam es, dass sie dir das Medaillon geschenkt hat?“
Und: „Warum wurdest du überfallen? Kanntest du die Angreifer? Hatten sie eine Rechnung mit dir offen? Hattest du dir etwas zuschulden kommen lassen?“
Tony stöhnte schließlich auf und flehte: „Quaeso, können wir diese Fragerei nicht lassen? Es ist doch egal, wer ich bin. Ich möchte einfach wieder zurück in meine Zeit und das alles hier vergessen.“
„Sicher, sicher“, sagte Severus.
„Aber wie? Könnt ihr mir dabei helfen?“
Tony sah Bassus an. Der zuckte mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ich verstehe ja nicht einmal, warum du überhaupt hierher geraten bist.“
Verzweifelt fragte Tony: „Was geschieht jetzt mit mir?“
Severus stand auf. „Zuerst müssen deine Rippen heilen.“
„Und dann?“
„Dann werden wir weitersehen.“
Severus verließ das Zimmer. Bassus blieb sitzen. Tony fiel auf, dass er sehr gut roch. Ihm wurde bewusst, dass er sich schon lange nicht mehr gewaschen hatte. Er hob den Arm und schnüffelte.
„Ich stinke“, sagte er zu Bassus.
Der lächelte zum ersten Mal. „Das stimmt“, sagte er und stand auf. „Komm mit.“
Auf dem Flur klatschte er mehrmals in die Hände. Sofort erschien wieder der Junge, der in Tonys Zimmer gesessen hatte.
„Das ist der Sklave Lentulus“, sagte Bassus und zog Tony mit sich.
Lentulus folgte ihnen.
Das Haus war größer, als es von außen wirkte. Eigentlich waren es vier Gebäude, die um ein Atrium mit einem Springbrunnen und Sitzbänken angeordnet waren. Der überdachte Flur war zum Atrium hin offen und wurde von Säulen gestützt. In einer Nische des Flurs entdeckte Tony eine bunt bemalte große Statue. Zu ihren Füßen standen verschiedene kleinere Statuen. Daneben leuchtete eine Öllampe. Welche Götter hier wohl verehrt wurden?
Hinter der nächsten Tür erstreckte sich ein weiterer Gang, der in den Vorraum eines Nebengebäudes führte. Es war sehr warm dort, und es roch, als hätte jemand jede Menge Duftkerzen aufgestellt. Durch einen offenen Durchgang konnte Tony einen Raum mit einem Wasserbecken im Boden sehen.
Bassus drehte sich zu Lentulus um. „Unser Gast kommt von sehr weit her und ist deshalb mit unseren Gebräuchen nicht vertraut. Du wirst ihm Dinge erklären müssen, die für uns selbstverständlich sind.“
„Ich verstehe, Herr.“
Zu Tony sagte Bassus: „Wir sehen uns später beim Abendessen“, und verschwand.
Lentulus machte sofort Anstalten, Tony beim Ausziehen zu helfen. Er scheuchte ihn weg, und der Junge setzte sich auf eine gemauerte Bank an der Wand. Lieber wäre es Tony gewesen, Lentulus hätte den Raum ganz verlassen.
Tony zog seine schmutzstarrenden Kleider aus. Der Fußboden war richtig heiß. Dann sah er sich um. Er konnte doch nicht so schmutzig in das Becken steigen? Unter einem Wasserhahn an der Wand entdeckte er einen Trog mit einem Abfluss. Der war groß und flach genug, dass man hineinsteigen konnte. Ein Schälchen daneben war mit einer Paste gefüllt.
„Ist das Seife?“, fragte er Lentulus.
Der schüttelte den Kopf. „Nitron. Das ist genauso gut. Aber wir haben auch Seife. Soll ich dir welche holen?“
„Nicht nötig.“
Besonders das Waschen der Haare war eine Erlösung. Das Fett ging mit dem Nitron problemlos heraus. Wenn Lentulus ihn nur nicht die ganze Zeit so anstarren würde!
„Dreh dich um“, bat Tony.
Lentulus gehorchte.
Als er alles abgespült hatte, stieg er in das Wasserbecken. Er konnte darin sogar einige Züge schwimmen. Gott, tat das gut. Was machte denn Lentulus da mit seinen Kleidern? Gerade hob er die Jeans so vorsichtig hoch, als wären sie giftig. So verhielt er sich bei jedem Wäschestück. Am längsten brauchte er ausgerechnet für die Unterhose. Ihre Form und die Elastizität des Materials faszinierten ihn offenbar.
„Lass das, die Kleider sind sehr schmutzig!“
Lentulus grinste, sammelte alles auf und verschwand damit.
Was sollte Tony jetzt anziehen?
Gerade als er aus dem Wasser stieg, kam Lentulus wieder. Er trug ein sauber gefaltetes Bündel von Stoffen auf dem Arm und legte es auf einen Hocker.
Eines der Stoffstücke stellte sich als Handtuch heraus. Während Tony sich abtrocknete, nahm Lentulus zwei Glasgefäße mit Öl aus einem Regal und hielt sie ihm abwechselnd unter die Nase. Igitt, wie süßlich! Tony schüttelte den Kopf. Lentulus stellte sie zurück und brachte zwei neue. Der Zitrusgeruch des zweiten war angenehm. Tony nickte. Lentulus schüttete sich etwas von dem Öl in die Handflächen und wollte ihn damit einreiben. Ausgeschlossen! Das würde er schon selber machen. Es dauerte, bis er Lentulus das klargemacht hatte und der Junge ihm erlaubte, sich selbst einzureiben. Kritisch verfolgte er jedoch jede von Tonys Bewegungen.
Und er war nicht zufrieden.
Anscheinend schmierte Tony für Lentulus’ Begriffe nicht genug von dem Öl auf die Haut. Sollte er denn vor Öl triefen? Dann begriff er. Lentulus brachte einen sichelförmig gebogenen Gegenstand aus Metall. Als er Tonys fragenden Blick sah, erklärte er: „Jetzt müsst Ihr das Strigilis benutzen“, und begann, das Öl damit wieder von Tonys Haut zu schaben.
Tony nahm ihm das Gerät aus der Hand und probierte es selbst. Danach fühlte er sich großartig. Seine Haut war butterweich.
Lentulus brachte ihm die anderen Stoffe. Er zeigte ihm, wie er eines der Stoffstücke zu einer Unterhose binden konnte. Dann reichte er ihm ein Leinenhemd, das bis zu den Knien ging, und zuletzt Sandalen und einen Gürtel.
So, fertig.
Nein. Zu früh gefreut. Lentulus drückte ihn auf einen Hocker. Was kam denn noch? Ein älterer Sklave erschien mit einer Art Rasiermesser. Routiniert schnitt er Tony damit die Haare und verschwand wieder.
„So, jetzt sind wir fertig, Herr“, sagte Lentulus. „Ich bringe Euch zu den anderen, zum Abendessen.“
Herr? Und er siezte ihn?
„Ich bin kein Herr, Lentulus. Ich heiße Tony.“
Lentulus sah verwirrt zur Seite und schwieg.
Tony griff nach einer blank geschliffenen Bronzeplatte, offenbar einem Spiegel. Ein wildfremder Junge blickte ihm entgegen.
Zurück im Haupthaus blieben sie vor einer großen hölzernen Tür mit bunten Schnitzereien stehen. Lentulus öffnete sie und winkte ihn hinein.
Die anderen saßen bereits um den Tisch. Vor ihnen standen viele Teller, Schälchen und Schüsseln, die mit verschiedenen Speisen gefüllt waren. Sklaven liefen hin und her und füllten nach oder räumten ab.
Alle sahen ihn an. Bassus und Donatus grinsten. Tony stand da und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Es war blöd, wenn man keine Hosentaschen mehr hatte. Na schön, dann eben die Daumen in den Gürtel stecken und abwarten. Severus deutete auf das Mädchen in Melanies Alter. Ihre langen blonden Haare waren jetzt zu einem Zopf geflochten.
„Das ist meine Tochter Flavia Severa. Sie freut sich, wenn du dich neben sie setzt.“
Das Mädchen strahlte ihn an und rückte etwas zur Seite. Freundlich sagte es: „Ave, Tony.“
„Ave, Flavia Severa“, erwiderte er.
„Meine Mutter Marcia kennst du ja schon“, sagte Flavia und deutete auf die Frau, die zwischen ihr und dem kleinen Jungen saß. Auch sie lächelte Tony freundlich an.
„Und das ist mein Bruder Aurelius.“ Sie deutete auf den kleinen Jungen.
„Ave, Aurelius“, sagte er.
Aurelius lächelte verlegen und schmiegte sich an seine Mutter.
Einige Gerichte, das gebratene Fleisch und einige Salate waren wirklich lecker. Andere Gerichte dagegen waren bitter oder sogar ranzig. Die Suppe war sauer, schmeckte ihm aber trotzdem. Flavia fiel auf, dass Tony sich bei einigen Speisen überwinden musste. Sie deutete auf ein Kännchen, von denen gleich mehrere auf dem Tisch standen.
„Nimm von dem Garum, dann schmeckt dir alles“, ermutigte sie ihn.
Garum war eine braune Soße. Tony kippte etwas davon über einen Gemüsebrei. Mit einem Stück Fladenbrot schob er sich einen Bissen in den Mund und hätte beinahe alles wieder ausgespuckt. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen, hustete jedoch furchtbar und hielt sich die Rippen.
„Es schmeckt ihm nicht“, sagte Flavia.
Donatus nahm das Garumkännchen und schüttete noch mehr davon auf Tonys Teller.
„Mit Garum bekommt man alles hinunter“, sagte er zuversichtlich.
Tony wedelte abwehrend mit der Hand. „Es tut mir leid, aber das Garum ist das Problem. Woraus wird es denn gemacht?“
„Wein, Essig, Pfeffer und noch vieles mehr“, erklärte Marcia. „Gibt es das nicht, dort, wo du herkommst?“
Tony schüttelte den Kopf.
„Was kippt man denn bei euch über das Essen?“, fragte Flavia.
Er wollte sagen: „Tomatenketschup“, aber er kannte das Wort für Tomaten nicht. Und das konnte er auch gar nicht, weil die Tomate ja aus Amerika stammte und noch unbekannt war. Blöd.
Eine Sklavin reichte ihm eine Süßigkeit aus klein gehackten Nüssen und Früchten, von der der Honig tropfte. Sie schmeckte köstlich und vertrieb den furchtbaren Geschmack des Garums. Dankbar bediente er sich und aß den ganzen Teller leer. Flink füllte die Sklavin wieder nach. Zu trinken gab es Wasser, den sauren verdünnten Wein und Apfelmost. Tony entschied sich für den Most. Ihm wurde im Kopf ganz leicht davon. Satt und entspannt lehnte er sich nach einer Weile zurück und lauschte den Gesprächen.
Seine Gastgeber machten sich große Sorgen wegen der zunehmenden Zahl von Überfällen durch germanische Banden. Sie fragten sich, ob das einsam gelegene Landgut wirklich sicher war. Tony erfuhr, dass die Angreifer von der rechten Rheinseite, dem sogenannten Germania Libera, dem freien Germanien, kamen und sich nach ihren Überfällen wieder dorthin zurückzogen. Außerdem bekam er mit, dass Bassus und Donatus regelmäßig den Rhein überquerten und das feindliche Gebiet als Kundschafter durchstreiften. Er hörte auch heraus, dass das verdammt gefährlich war.
„Wird am Flussufer denn nicht patrouilliert?“, fragte Tony.
Überrascht sah ihn Severus an. „Natürlich patrouillieren unsere Soldaten auf dieser Seite des Ufers und auch auf dem Fluss selbst. Sie tun praktisch nichts anderes. Aber es ist einfach nicht möglich, Tag und Nacht jede Quadratmeile zu überwachen.“
Tony hatte so viel gegessen, dass er fast platzte. Und so ließ seine Konzentration allmählich nach. Es war anstrengend, nur Latein zu hören. Er beobachtete die Leute um sich herum. Am sympathischsten war ihm Donatus. Er sah immer freundlich aus und lachte viel. Severus hingegen ging ihm immer mehr auf die Nerven. Außer wenn er mit Bassus sprach, hatte er eine so unerträglich erzieherische Art an sich, dass Tony sich fragte, wie die anderen das nur aushielten. Er würde aus der Haut fahren, wenn er länger mit Severus unter einem Dach wohnen müsste. Aber von Bassus abgesehen, verhielten sich alle anderen Severus gegenüber äußerst ehrerbietig. Der kleine Aurelius und Flavia neigten sogar ihre Köpfe vor ihm, bevor sie ihm antworteten.
Tony wandte seine Aufmerksamkeit Bassus zu. Irgendwie wurde er nicht schlau aus ihm. Alle schienen ihn zu mögen, einschließlich der Kinder. Gleichzeitig war etwas Abweisendes an ihm. Oder war es einfach nur Strenge und Autorität? Weil er schon ewig lange Soldat war? Nein. Tony fühlte, dass dieses Verhalten nur ihm galt. Aber warum? Er hatte ihm doch nichts getan? Im Gegenteil, er hatte ihm das Leben gerettet.
Severus erzählte Abenteuer aus seiner Militärzeit. Immer wieder bezog er Bassus mit ein. Viele der Geschichten hatten sie offensichtlich gemeinsam erlebt, die meisten in Britannien. Bassus bestätigte zwar lächelnd alles, was Severus erzählte, Tony hatte jedoch das Gefühl, dass es ihm unangenehm war, diese alten Geschichten wieder zu hören.
Schließlich hob Severus die Tafel auf, und Tony konnte endlich in sein Zimmer. Aber dermaßen voll gestopft mit Essen würde er unmöglich schlafen können. Er wandte sich deshalb zum Atrium. Gerade noch rechtzeitig sah er, dass auch Severus seine Schritte dorthin lenkte.
Tony würde sich lieber auf dem Hof noch ein bisschen die Beine vertreten.
Außer den beiden Wächtern auf den Wachtürmen waren keine Menschen mehr zu sehen. Nur Tiere. Gänse, Ziegen und Schweine standen oder lagen in Gattern mit niedrigen, geflochtenen Zäunen. Aus den Ställen hörte er leises Muhen und Blöken.
Zwei große zottelige Hunde liefen gemächlich auf ihn zu. Er hielt ihnen seine Hände hin, und sie schnupperten ausgiebig daran.
„Wie heißen sie?“, rief er zu den Wächtern hinauf.
„Der Braune ist Ferox und der Schwarze Harpalos.“
„Ave, Ferox Harpalosque.“
Die Hunde wedelten mit den Schwänzen und liefen weiter.
Wieder fiel Tony die Helligkeit der Sterne auf. Und abgesehen von den Geräuschen der Tiere die Stille.
Was sollte er hier? Unter diesen wildfremden Menschen, denen er auch nicht annähernd erklären konnte, aus was für einer Welt er kam?
Plötzlich spürte er jemanden hinter sich und drehte sich um. Nicht weit von ihm stand Bassus. Tony erkannte ihn an seiner aufrechten Silhouette und den breiten Schultern. Wieder einmal wunderte er sich darüber, wie geräuschlos der Römer sich bewegen konnte.
Bassus trat näher. „Warum weigerst du dich, über deine Eltern sprechen?“, fragte er.
„Weil ich keine habe.“
„Sind sie tot?“
„Es gibt sie nicht.“
„Wer war bisher für dich verantwortlich?“
„Niemand.“
Bassus fragte nicht weiter und betrachtete stattdessen den Himmel.
„Hängt meine Reise hierher mit dem Medaillon zusammen?“, fragte Tony.
Bassus zögerte einen Moment. „Ich denke schon.“
Plötzlich traf es Tony wie ein Blitz. Dass er nicht schon früher darauf gekommen war!
„Ihr kennt Gwanwyn, nicht wahr?“
Zuerst dachte er, Bassus würde ihm nicht antworten, aber schließlich sagte der: „Ja, Severus und ich sind ihr in Britannia begegnet.“
„Was ist geschehen?“
Er hörte, wie Bassus laut ausatmete. Es klang wie ein Seufzer.
„Das ist eine lange Geschichte, Tony, zu lang für heute Abend. Komm, lass uns ins Haus zurückkehren.“
In seinem Zimmer lauschte Bassus den Atemzügen des schlafenden Donatus und dachte über Tonys Worte nach.
Er hatte nicht gesagt, dass seine Eltern tot waren, sondern, dass es sie nicht gebe. Was für eine seltsame Antwort.
Bassus sah seinen Vater Mucala vor sich. Das tat so weh wie die Erinnerung an Orbiana. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Und seinen Vater hatte er zuletzt in seiner Heimat Thrakien gesehen, als er zwanzig Jahre alt war und römischer Soldat werden musste. Stumm hatte Mucala ihn damals lange an sich gedrückt.
Wenige Jahre später war sein Vater gestorben, und Bassus hatte Jahre gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Mucala und später Orbiana hatten ihm viel Liebe geschenkt. Immer hatte Bassus sich gewünscht, diese Liebe an eigene Kinder weiterzugeben. Und er hatte gefürchtet, es nicht ertragen zu können, wenn ihm dieser Wunsch versagt bliebe. Aber allmählich hatte er sich in sein Schicksal ergeben. Er hatte gelernt, sein Leben nicht so wichtig nehmen. Schon unzählig viele Menschen hatten auf dieser Erde gelebt, an die sich niemand mehr erinnerte.
Es war nichts Besonderes.
Noch immer konnte er nicht einschlafen. Zum ersten Mal nach langer Zeit stieg die Frage in ihm auf, die er sich früher oft gestellt hatte: Hatte der Druide ihn damals verflucht? War er deshalb unfruchtbar?
Der Gedanke schmerzte. Er bedeutete, dass der Druide ein grausames Spiel mit ihm gespielt hatte. Denn Bassus hatte ihm geglaubt. Er hatte geglaubt, dass sie tatsächlich Freunde geworden waren. Trotz allem. Trotz der entsetzlichen Dinge, die die Römer getan hatten.
Aber er hatte sich getäuscht.
Und dabei konnte er es dem Druiden nicht einmal verdenken, dass er ihn hintergangen hatte. Aber es war bitter.
Der tiefste Wunsch seiner Seele. Was für ein Hohn!
Gut, dass der Junge hier bei Severus bleiben konnte.
Diesmal erwachte Tony früh, zusammen mit den anderen Bewohnern des Hauses. Sofort machte er sich auf die Suche nach Bassus, um mehr über Gwanwyn zu erfahren. Wenn er hören könnte, was damals geschehen war, bekam er vielleicht einen Hinweis darauf, wie er wieder zurückreisen konnte.
Aber Bassus schien wie vom Erdboden verschwunden. Als Tony schließlich laut nach ihm zu rufen begann, erschien Severus und erklärte, dass Bassus sich zusammen mit Donatus bereits auf den Weg gemacht habe.
„Wohin?“
„Zurück ins Castellum Durnomagus, zu ihrer Ala.“
„Wann kommt er wieder?“
„Das weiß niemand.“
„Ungefähr?“
„Es kann Tage, aber auch Wochen dauern, bis er wieder hier vorbeikommt.“
Das durfte doch nicht wahr sein.
„Und was ist mit mir?“
„Du gehörst jetzt zu meiner Familie.“
Wie bitte? Verdammt, er wollte keine Familie!
Severus wandte sich zum Gehen.
„Severus!“, rief Tony ihm wütend hinterher und sah, wie die kleine Flavia, die gerade von draußen hereinkam, erschocken die Hand vor den Mund hielt.
Severus drehte sich um. Streng sagte er: „Es wäre mir recht, wenn du mich ab sofort pater nennen würdest“, und eilte davon.
„Ich soll ihn Vater nennen?“, wiederholte Tony fassungslos.
Flavia trat zu ihm. „Du stehst jetzt unter seinem Schutz, damit ist er dein pater familias.“
„Ich brauche keinen pater familias! Und Schutz brauche ich erst recht keinen.“
Flavia sah ihn verstört an. „Wir alle brauchen Schutz.“
Tony zwang sich zur Ruhe.
„Pater familias. Was für Rechte gibt ihm das?“
„Alle Rechte, selbst über Leben und Tod. Er entscheidet, was gut für uns ist, und wir gehorchen ihm.“
Er musste sich an der Wand festhalten.
„Was hast du denn?“, fragte Flavia. Als er nicht antwortete, fügte sie voller Wärme hinzu: „Tony, es ist alles in Ordnung. Du hast jetzt ein Zuhause.“
In den nächsten Tagen hatte er keine Gelegenheit, Severus nach Gwanwyn auszufragen. Der pater familias behandelte ihn wie Luft.
Um nicht verrückt zu werden, wollte Tony sich auf dem Gut ablenken.
Bald kannte er jeden Bewohner und jedes Tier. Immer wieder bot er an zu helfen, aber die Sklaven winkten jedes Mal entsetzt ab. Zum Glück hatten sie nichts dagegen, wenn er Fragen stellte, und sie gaben ihm bereitwillig Auskunft.
So erfuhr Tony zum Beispiel, wie die Pferde ohne Hufeisen laufen konnten. Der Sklave im Stall zeigte ihm, wie er ihre Hufe mit Salben und Teer pflegte.
„Außerdem sind sie meistens im Freien. Das ist für die Hufe am besten.“
„Gibt es eigentlich keine größeren Pferde, mit langen Beinen?“
„Oh doch. Die Garderitter des Imperators haben solche Tiere. Ihr Fell glänzt wie poliertes Ebenholz.“
„Man hätte einen viel besseren Überblick, wenn man auf einem größeren Tier sitzen könnte.“
„Schon, aber ansonsten wäre es nicht sehr praktisch. Man kann zum Beispiel nicht einfach aus dem Stand auf so ein Pferd hinaufspringen.“
Der Sklave klopfte einem der Tiere auf den Rücken. „Außerdem sind diese kleinen Pferde sehr zäh und genügsam. Sie halten alles aus.“ Er verteilte frisches Heu. „Und sie sind klug.“
„Woran merkt man das?“
„An den Augen.“
Tatsächlich? Tony strich dem Pferd, neben dem er gerade stand, die Zottelmähne aus den Augen. Er wäre fast zurückgezuckt, so wach war der Blick, der ihn traf.
Der Sklave lachte. „Habe ich es nicht gesagt?“
Tony nickte beeindruckt.
Der Sklave war noch nicht fertig. „Du hast dir offensichtlich noch nie Teres, das Pferd von Titus Flavius Bassus, genauer angesehen?“
„Nein, warum?“
„Tu es einfach mal, wenn du wieder Gelegenheit dazu hast. Es ist wie ein Mensch. Im Osten gibt es Länder, in denen die Bewohner davon überzeugt sind, dass die Tiere eine Seele haben. Wenn du Teres in die Augen siehst, kommt dir das gar nicht so abwegig vor.“
„Ist Teres ein gebräuchlicher Pferdename?“
„Eigentlich nicht. Es ist der Name eines thrakischen Königs.“
„Weil das Pferd aus Thrakien stammt?“
„Das Pferd nicht. Aber Flavius Bassus.“
„Er ist kein Römer?“
„Inzwischen schon. Aber normalerweise sind bei den Reitertruppen nur die höheren Offiziere Römer.“
„Wie kommt das?“
„Die Reiter sind sogenannte Auxiliaren und werden in den eroberten Provinzen rekrutiert. Erst nach 25 Jahren Dienst bekommen sie das Bürgerrecht, und dann sind sie echte Römer.“
„Ist Severus auch ein Thraker?“
„Nein. Flavius Severus stammt aus Hispania.“
Ein Spanier, das erklärte einiges.
„Und Marcia?“
„Sie ist Germanin.“
So vergingen die Tage. Aber irgendwann gab es draußen nichts Neues mehr zu lernen. Und so kam es, dass Tony schließlich im Unterrichtszimmer landete. Herklides las dort jeden Tag mit Flavia die Werke griechischer und römischer Schriftsteller und Philosophen. Aurelius saß dabei und spielte auf dem Boden mit seinen bunt bemalten Bauernhoffiguren aus Ton. Auch die Kinder der Sklaven, darunter Lentulus, wurden von Herklides in diesem Zimmer unterrichtet.
Bei ihm war Tony auf jemanden gestoßen, dessen Wissensschatz unerschöpflich war. Und das brachte ihn auf eine Idee. Vielleicht wusste Herklides ja weiter? Tony zeigte ihm Gwanwyns Medaillon und erklärte, dass er gerne mehr darüber gewusst hätte.
„Am besten, Ihr fragt Kelten, Herr.“
„Und wo finde ich welche?“
„Zum Beispiel hier ganz in der Nähe, etwa neun Meilen entfernt, ist ein Dorf, in den nur Kelten leben. Vielleicht können die weiterhelfen.“
„In welcher Richtung genau liegt dieses Dorf?“
„Nach Nordosten, aber bittet Severus, Euch bewaffnete Begleiter mitzugeben. Die Wege sind im Moment zu unsicher.“
Severus fragen? Er war doch kein Kleinkind. Er würde allein hingehen.
Schon am nächsten Morgen machte Tony sich auf. Es war frisch, aber die Sonne schien, und der Boden war trocken. In zwei bis drei Stunden müsste er die neun Meilen locker schaffen. Doch der Weg zog sich hin. Er fürchtete, dass er das Dorf verfehlt hatte, obwohl er immer auf dem schmalen Trampelpfad geblieben war, der direkt dorthin führen sollte. Wieder hatte er vor allem gegen den Durst zu kämpfen. In Zukunft musste er unbedingt seine Plastikflasche mitnehmen und mit Wasser füllen. Außerdem hatte er Blasen an den Füßen von den ungewohnten Sandalen. Tony zog sie aus und lief barfuß weiter. Was würde eigentlich geschehen, wenn er an den offenen Blasen eine Infektion bekäme? Theoretisch könnte er dann eine Blutvergiftung bekommen und sterben. Oder hatten die Römer etwas, das antiseptisch wirkte?
Nach einer Ewigkeit tauchten unten in einer Senke strohgedeckte Fachwerkhäuser und mit Flechtzäunen umgebene Gatter auf. Dazwischen war ein Weiher, auf dem Enten schwammen. Tony humpelte hinunter und wurde sofort bemerkt. Zuerst schnatterten die Gänse, dann bellten die Hunde. Als er das erste Haus erreichte, erwartete ihn bereits eine schweigende Gruppe von Menschen. Sie waren ganz anders gekleidet als die Römer. Niemand trug eine Tunika oder Toga. Die langen Hosen der Männer und die Kleider der Frauen hatten bunte Karomuster.
„Avete!“, rief er ihnen zu.
Niemand antwortete. Aber sie sahen nicht unfreundlich aus.
„Ich heiße Tonianus Furmanus. Ich bin Gast auf dem Gut des Publius Flavius Severus.“
Ein älterer Mann trat vor. „Was willst du?“
„Ich habe eine Frage, die nur Kelten mir beantworten können.“
Tony hörte jemanden kichern.
„Um was geht es?“
„Eine Frau hat mir ein keltisches Medaillon geschenkt, und ich hätte gerne gewusst, was es bedeutet.“
Jetzt lachten mehrere Dorfbewohner.
„Sag mal, Junge, bist du allein unterwegs?“, fragte eine Frau.
„Ja.“
„Weiß Publius Flavius das?“
Tony schüttelte den Kopf.
„Das ist aber nicht sehr klug.“
„Ich bin unterwegs niemandem begegnet.“
„Zeig dein Medaillon mal her“, befahl der Ältere.
Tony zog es über den Kopf und gab es ihm. Die anderen drängten sich um den Mann und betrachteten es ebenfalls. Sie begannen, aufgeregt in einer Sprache zu diskutieren, die Tony nicht verstand. Nach einer Weile reichte ihm der Mann das Medaillon ehrfürchtig wieder.
„Kein Wunder, dass du allein in der Gegend herumwanderst.“
„Wieso?“
„Das Medaillon stattet denjenigen, der es trägt, mit einem ganz besonderen Schutz aus.“
„Einem sehr mächtigen Schutz“, fügte ein noch älterer Mann hinzu.
Tony hängte sich das Medaillon wieder um.
„Das ist alles?“, fragte er.
Die Kelten sahen ihn verdutzt an. „Na hör mal, jeder von uns hier wäre froh, wenn er so ein Medaillon hätte“, sagte der Ältere.
„Einige von uns würden für so ein Medaillon sogar morden“, rief wütend ein Mann mit stechenden Augen.
Tony begann sich unwohl zu fühlen. Aber als einige der Kelten ihn angrinsten, merkte er, dass der Mann ihn nur aufziehen wollte.
„Und wie funktioniert das mit dem Schutz?“, fragte er.
Die Kelten sahen ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?“
„Nun, wann tritt der Zauber in Kraft?“
„Das entscheiden die Götter.“
Mann, was sollte er mit so einer Antwort anfangen!
„Kann man da irgendwie nachhelfen?“
„Nachhelfen? Den Göttern?“
„Ja.“
„Wie willst du den Göttern denn nachhelfen?“
„Ich dachte, dass ihr das vielleicht wisst.“
„Nein, wie sollte das denn gehen? Die Götter sind die Götter.“
Er hatte seine Zeit verschwendet.
„Danke“, sagte er. Er legte seine Hand auf sein Herz und verneigte sich. Der ältere Mann tat dasselbe.
Tony war schon einige Schritte gegangen.
„Halt“, rief ihm eine Stimme hinterher.
Er drehte sich um. Bekam er jetzt doch noch Ärger mit den Dorfbewohnern?
„Hast du denn keinen Durst?“ Der Mann mit den stechenden Augen hielt einen Becher hoch.
Die Sonne ging bereits unter, als Severus’ Gut wieder am Horizont auftauchte. Tonys Füße schmerzten unerträglich.
Plötzlich blitzte am Rande eines Waldes etwas auf. Instinktiv duckte er sich und ging hinter einigen Büschen in Deckung. Es sah aus, als würden sich die letzten Strahlen der Sonne irgendwo widerspiegeln. Tony schob die dichten Zweige zur Seite. Speerspitzen! Er hörte auch leises Wiehern. Waren es Römer oder Germanen von der anderen Seite des Rheins?
Geduckt schlich er ein Stück weiter. Er wollte die Reiter aus der Nähe sehen. Gut, dass das Gras so hoch und dicht wie Steppengras wuchs. Hinter einem Baum richtete Tony sich auf. Jetzt sah er die Reiter ganz deutlich. Es waren eindeutig Germanen. Acht Männer. Und sie sahen nicht besonders vertrauenserweckend aus. Vor allem ihr rotblonder Anführer wirkte furchterregend. Er war groß und kräftig und anscheinend etwas jünger als Bassus. Er hatte ein sehr markantes, ebenmäßiges Gesicht. Aber daraus sprach der pure Hass.
Als der Mann plötzlich den Kopf in seine Richtung drehte, konnte Tony seine andere Gesichtshälfte sehen und erschrak. Eine riesige hässliche Brandnarbe bedeckte sie. Er musste einen fürchterlichen Unfall überlebt haben.
Die Germanen beobachteten ohne jeden Zweifel das Gut von Severus. Mehr konnte Tony nicht herausfinden, denn in nächsten Moment begann die Erde leicht zu beben.
Vom Gut her galoppierten Reiter auf sie zu. An ihrer Spitze Severus. Er war regelrecht verwachsen mit seinem Pferd. Gleich würde es einen Kampf geben. Tony sah zu den Germanen. Sie waren weg. Als hätte es sie nie gegeben!
„Tony“, hörte er Severus brüllen.
Verdammter Mist. Sie waren seinetwegen gekommen. Wahrscheinlich hatten sie die Germanen überhaupt nicht bemerkt. Er wappnete sich innerlich und lief Severus entgegen.
„Hier bin ich“, rief er trotzig.
Severus kochte vor Wut.
„Was fällt dir ein, dich ohne meine Erlaubnis zu entfernen?“
„Ich war lediglich im Keltendorf.“
„Du könntest tot sein oder entführt.“
„Bin ich aber nicht. Außerdem kann mir mit diesem Medaillon ja angeblich sowieso nichts geschehen. Es schützt mich vor allen Gefahren.“
„Es schützt dich nicht vor meinem Zorn!“
Severus brachte ihn in sein Zimmer und schimpfte sofort los:
„Mein Problem ist Folgendes:“ Er rückte ganz nah an Tony heran und stieß ihm seinen Zeigefinger in die Brust. „Ich hätte eine Sorge weniger, wenn dir etwas zustoßen würde. Aber Marcia und meine Kinder würden mir dann den Kopf abreißen.“
Tony schluckte. „Mir passiert nichts. Ich kann mich wehren. Bassus und Donatus können das bezeugen.“
„Sei bloß nicht so selbstgefällig. Auch in unserer Zeit gibt es Menschen, die ungewöhnliche Kampfmethoden beherrschen.“
Kein Kung-Fu, dachte Tony, hielt aber den Mund.
„Tony, ich habe dich in meine Familie aufgenommen. Dafür schuldest du mir Gehorsam. So stehen die Dinge nun einmal.“
„Ich habe bisher immer für mich selbst gesorgt.“
„Das war in deiner Zeit. In unserer Zeit kannst du nicht ohne Schutz überleben.“
Tony schwieg. Natürlich konnte er das, auch in der Römerzeit. Er musste nur noch eine Weile beobachten, wie diese Welt funktionierte, dann würde er weglaufen und sich allein durchschlagen. Nach diesem Entschluss ging es ihm wesentlich besser. Sollte Severus sich doch aufregen!
Der aber hatte sich inzwischen wieder beruhigt und setzte sich auf einen Hocker.
„Ich werde dir erzählen, was Bassus und ich mit Gwanwyn erlebt haben. Das ist es doch, was du wissen möchtest, nicht wahr?“
Na endlich. Tony setzte sich auf sein Bett und sah Severus gespannt an.
„Es war in Britannia. Bassus und ich waren dort mit unserer Ala stationiert. Wir hatten große Schwierigkeiten, die keltische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es besser für sie wäre, wenn sie mit uns kooperierten. Am meisten hassten uns die Druiden und wiegelten die Menschen immer wieder gegen uns auf. Auf der Insel Mon war ihr Hauptquartier. Dort wurden sie in allen möglichen Dingen ausgebildet, auch im Einsatz von Magie.“
„Magie?“
„Sie konnten die Zukunft vorhersagen, Träume deuten, einen Menschen mit einem Fluch belegen, solche Sachen eben.“
„Was habt ihr mit diesen Druiden gemacht?“
„Wir haben sie getötet, was sonst.“ Severus sagte es, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.
„Alle?“, fragte Tony.
„Fast alle. Bassus war noch sehr jung damals. Er rettete einem dieser Druiden das Leben, indem er ihn einfach laufen ließ.“
„Wow.“
Severus sah ihn strafend an. „Das war nicht sehr klug von ihm, denn diese Druiden waren gefährlich und heimtückisch.“
„Hat Bassus deswegen Ärger bekommen?“
Severus sah kurz in die Ferne. „Nein. Denn nur ich wusste davon. Und ich habe es nicht weitergesagt.“
„Was hat Gwanwyn mit dieser Geschichte zu tun?“
„Ich komme gleich dazu. Wir sind noch nicht fertig mit dem Druiden. Bevor er verschwand, machte er Bassus dieses Medaillon zum Geschenk.“
Mein Gott. Wie hatte er nur so vernagelt sein können. „T.F.B. Das sind Bassus‘ Initialen!“
„So ist es. Er trug das Medaillon auch brav um den Hals, denn dieser Druide hatte ihn sehr beeindruckt. Nun zu Gwanwyn. Einige Wochen später stießen Bassus und ich in den Ruinen eines Dorfes auf ein etwa zehnjähriges Mädchen. Das war sie. Niemand außer ihr hatte überlebt.“
Tony erschrak. Nie hätte er vermutet, dass Gwanwyn etwas so Schreckliches erlebt hatte.
„Was habt ihr mit ihr gemacht?“
„Bassus entschied, dass wir ihr helfen sollten. Wir gaben ihr von unseren Essensvorräten und erklärten ihr gerade, welche Gegenden sie in Zukunft meiden musste, als mehrere Reiter einer anderen Ala heranstürmten.“
„Und was geschah dann?“
„Sie senkten ihre Speere und ritten auf Gwanwyn zu, um sie zu töten. Wir hätten sie nicht mehr retten können. Trotzdem zog Bassus sie zu sich hoch auf sein Pferd. Und sie riss ihm das Medaillon vom Hals.“
„Und dann?“
„Nichts.“
„Wie, nichts?
„Sie war weg. Verschwunden. Und mit ihr das Medaillon.“
„Und eure Kollegen von der anderen Ala?“
„Die hatten höllische Angst. Bassus und ich konnten sie zum Glück davon überzeugen, dass wir alle Opfer eines druidischen Zaubers geworden waren. Denn hätten sie vermutet, dass wir Gwanwyn helfen wollten, hätten wir Ärger bekommen. Milde ausgedrückt.“
Tony war ganz leicht ums Herz.
Bingo. Jetzt wusste er, wie es ging!
Er musste dafür sorgen, dass jemand sein Leben bedrohte, dann würde das Medaillon ihn wieder in seine Zeit zurückbringen.
„Danke“, sagte er.
Severus sah ihn misstrauisch an. „Gern geschehen. Was denkst du gerade?“
„Ich? Wieso?“, fragte Tony möglichst unschuldig.
„Du hattest doch gerade eine Eingebung. Heraus damit.“
„Es ist nichts, wirklich nicht.“
Severus kniff die Augen zusammen. „Tony, ich sehe, wenn mich jemand anlügt.“
Aber Tony hätte sich eher die Zunge abgebissen, als seine Erkenntnis mit Severus zu teilen.
Einige Tage später stand er mitten im Hof und betrachtete das Treiben. Seit seinem Ausflug wurde er auf dem Gut wie ein Gefangener gehalten. Severus hatte anscheinend alle aufgefordert, sofort Alarm zu schlagen, wenn er sich auch nur einen Meter vom Eingangsportal entfernen sollte.
So konnte es nicht weitergehen.
Tonys Blick fiel auf ein Stück Metall, das in der Sonne glitzerte. Plötzlich schlug er sich mit der Hand an die Stirn. Die Germanen, die er bei seiner Rückkehr vom Keltendorf gesehen hatte! Ob sie das Gut immer noch beobachteten? Eigentlich müssten sie ja erkannt haben, dass ein Überfall sinnlos wäre. Um das gesamte Gelände herum zog sich ein fast drei Meter hoher Zaun mit spitzen Pfählen. An dessen Außenseite war ein tiefer Graben, in dem dichte Brombeersträucher wuchsen. Stacheldraht hätte nicht wirkungsvoller sein können. Die Weidetiere wurden nachts immer in die Ställe geholt. Und Tag und Nacht patrouillierten Wächter auf dem Gelände.
Aber was, wenn sie trotz alledem nicht aufgegeben hatten? Dann boten sie ihm die ideale Gelegenheit, sich in Lebensgefahr zu begeben und – hoffentlich - wieder in seine eigene Zeit zurückzukehren. Das war seine Chance! Er musste weglaufen und sich mit lautem Gebrüll auf diese Germanen stürzen.
Aber etwas hielt ihn zurück.
Was, wenn die Männer Verstärkung geholt hatten? Oder wenn sie in der Nacht angriffen? Mit Feuerpfeilen schossen? Dann konnte es für das Gut kritisch werden. Flavias Leben wäre in Gefahr. Und das des kleinen Aurelius. Auch das ihrer Mutter Marcia, die immer so nett war zu ihm, und das von Herklides und Lentulus.
Er musste unbedingt herausfinden, ob diese Germanen noch da waren!
Ein Blick durch das Nachtfernglas würde eigentlich genügen. Aber leider verwahrte Severus es in seinem Arbeitszimmer.
Es half nichts.
Tony ging zu ihm. Severus saß zusammen mit seinem Verwalter, einem Sklaven, am Schreibtisch und sah ihn überrascht an. Bevor er wieder irgendetwas Erzieherisches sagen konnte, sagte Tony schnell:
„Auf dem Rückweg vom Keltendorf habe ich einen Trupp Germanen mit Pferden gesehen. Sie haben das Gut beobachtet. Mit dem Fernglas könnte man sehen, ob sie sich immer noch da draußen herumtreiben.“
Severus stand sofort auf und holte das Gerät aus der Truhe. Ohne ein Wort zu verlieren, lief er los.
Tony rannte hinter ihm her. Schließlich griff Severus sich eine Leiter und lehnte sie an eine Wand, in der oben eine Luke eingelassen war. Severus kletterte hinauf, Tony hinterher. Die Wand gehörte zu einer Art Speicher unter dem Ziegeldach.
Geduckt liefen sie weiter und erreichten eine weitere Luke. Wieder folgte Tony Severus und stand plötzlich im Freien. Auf dem Dach war eine kleine Aussichtsplattform, die ihm von unten noch nie aufgefallen war. Die Sicht war atemberaubend.
„Wo genau standen sie?“, fragte Severus.
Tony deutete mit dem Finger in die ungefähre Richtung.
Severus fuhr mit dem Fernglas langsam hin und her. Dann hielt er es ganz still.
Tony platzte vor Neugierde. „Sind sie noch da?“
Severus reichte ihm das Glas. „Sieh selbst.“
Er brauchte nicht lange, bis er sie gefunden hatte. „Scheiße“, murmelte er.
„Du sagst es.“
Die Gruppe war inzwischen zu etwa 40 bis an die Zähne bewaffneten Männern angewachsen.
„Wir brauchen Hilfe“, sagte Tony. „Die Kelten. Sie kommen sicher. Ich gehe noch einmal in das Dorf.“
„Das tust du nicht. Die Kelten müssen ihr eigenes Dorf schützen. Wir brauchen Hilfe von der Armee. Außerdem“, Severus sah ihn scharf an, „ist es meine Aufgabe, mich um unsere Sicherheit zu kümmern. Und als ehemaliger Soldat lege ich keinen Wert auf deine Ratschläge. Haben wir uns verstanden?“
Dann eben nicht! Wütend drehte Tony sich um und kletterte wieder hinunter. Er würde sich verstecken und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Germanen in die Arme laufen. Den Menschen hier schuldete er nichts mehr. Er hatte ihnen die Gefahr gezeigt. Der Rest war ihr Problem.
Unter dem Dach des Pferdestalls hatte er das ideale Versteck gefunden, hinter dem Heu. Hier bekam er alles mit, was sich um das Gut herum tat, und konnte den idealen Moment abpassen. Gerade holten Sklaven zwei Pferde aus dem Stall. Tony hörte, dass Bassus’ Decurio Fabius Pudens informiert werden sollte. Bedeutete dies, dass die gesamte Reitertruppe kommen würde?
Wieder betrat jemand den Stall. Ein hohes Stimmchen rief leise: „Tony, bist du da oben?“
Flavia. Sollte er antworten? Aber sie kletterte schon die Leiter herauf.
„Ja, ich bin da“, sagte er resigniert.
Flavia kroch zu ihm.
„Wie hast du mich gefunden?“
Sie lachte. „Das ist kein besonders originelles Versteck.“
Super. Anscheinend konnte hier jeder seine Gedanken lesen.
Gleich danach war ihre Fröhlichkeit aber wie weggeblasen.
„Ich habe schreckliche Angst“, gestand sie.
„Vorhin wurde jemand zum Decurio von Bassus und Donatus geschickt. Uns kann nichts geschehen.“
„Zu Fabius Pudens?“
„Ja, das war der Name.“
„Hoffentlich schaffen sie es rechtzeitig hierher.“
„Wie groß ist eigentlich die Ala von Bassus und Donatus, weißt du das zufällig?“
„Die Ala Noricorum? Natürlich weiß ich das. Mein Vater ist schließlich ein Veteran dieser Ala. In ihr dienen über 500 Reiter.“
„Und wie viele von ihnen würden uns zu Hilfe kommen?“
„Wahrscheinlich die gesamte Turma von Fabius Pudens.“
„Turma?“
„Das sind 32 Reiter.“
32. Das waren nicht besonders viele.
„Falls sie noch rechtzeitig kommen.“
In Flavias Augen standen plötzlich Tränen.
„Ich werde dich beschützen“, rutschte es aus ihm heraus.
Sie strahlte ihn an. „Und Aurelius“, sagte sie, „ihn musst du auch beschützen.“
Er atmete durch. „Klar, auch Aurelius.“
Verflixt. Wieso hatte er seine Klappe nicht halten können? Was bedeuteten ihm Flavia und Aurelius schon?
„Mein Vater war Germane“, sagte sie plötzlich.
„Was?“ Hatte er richtig gehört?
Dann nahm er zum ersten Mal bewusst wahr, dass Flavias Augen blau waren und ihre Haare blond. Der kleine Aurelius hingegen war dunkel und sah aus wie ein Klon von Severus.
„Severus ist nicht dein richtiger Vater?“
„Natürlich ist er mein richtiger Vater, er hat mich schließlich adoptiert.“
„Du magst Severus?“, fragte Tony ungläubig.
„Er ist der beste Vater der Welt.“
„Hm.“
Flavia starrte auf die Holzdielen. Nach einer Weile hob sie den Kopf und sah ihn wieder an.
„Mein leiblicher Vater ist tot. Er war sehr böse.“
„Was hat er getan?“
„Er hat meine Mutter und mich immer geschlagen.“
Für einen Moment war ihm, als würde sein Herz aussetzen. Er zögerte, aber es musste heraus: „Severus ist sehr autoritär. Alle sollen ihm immerzu gehorchen.“
Flavia sah ihn verwundert an. „Natürlich, denn er ist für uns verantwortlich. Wenn wir tun, was er sagt, erleichtern wir ihm seine Aufgabe.“
Sie sah, dass ihre Antwort ihm nicht gefiel. „Du bist bei uns nicht glücklich“, stellte sie traurig fest.
Er schwieg.
„Du möchtest wieder zurück in das Reich, aus dem du kommst, nicht wahr?“
Er nickte.
„Ist dort denn alles besser?“
Was für eine Frage! Er hatte sie sich bisher nicht gestellt.
Sie fragte noch einmal: „Sind die Menschen dort besser als bei uns?“
Er dachte nach. Flavia sah ihn geduldig an. Er wollte ihr sagen, dass es in seiner Welt keine Sklaven gab. Aber er wusste, dass es viele Länder gab, in denen Menschen wie Sklaven lebten. Er wollte erzählen, dass es Strom, Müllabfuhr und Kläranlagen gab, aber er konnte es nicht, weil er wusste, dass auch in seiner Zeit viele Menschen ohne das alles leben mussten. Und er konnte ihr auch nicht sagen, dass man in seiner Zeit nicht einfach ganze Gruppen von Menschen ausrottete, denn sogar das stimmte nicht. Nach einer Weile musste er ihr gestehen: „Nein, besser sind die Menschen in unserem Reich nicht. Ich würde sagen, sie sind dieselben. Es gibt solche und solche.“
„Und ich dachte, dass es nur bei uns besonders grausame Menschen gibt, Menschen wie meinen leiblichen Vater.“
„Die gibt es auch in meinem Reich.“
„Aber warum willst du dann wieder zurück?“
„Da ist eine sehr wichtige Sache, die ich erledigen muss.“
Flavia dachte nach.
„Wirst du uns schon bald wieder verlassen?“, fragte sie nach einer Weile.
„Ich hoffe es. Aber ich weiß nicht, ob es funktionieren wird.“
Als er Flavias traurige Augen sah, fügte er hastig hinzu: „Natürlich erst, wenn ich weiß, dass dir und Aurelius nichts geschehen kann.“
Plötzlich schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihn fest. „Ich wünsche dir viel Glück, Tony.“
Dann verließ sie ihn.
Er saß noch eine Weile mit einem Kloß im Hals da und konnte sich nicht von der Stelle rühren. „Melanie, hilf mir“, flüsterte er schließlich.
Er musste zurück und Roland zur Strecke bringen. Diese Welt hier ging ihn nichts an.
Er kletterte hinunter. Wenn die Kollegen von Bassus nicht rechtzeitig zum Gut gelangten, konnte Tony für Flavia und Aurelius nichts tun. Er musste deshalb einen Ort finden, an dem sie sich zur Not vor den Germanen verbergen konnten. Aber so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, ihm fiel keiner ein. Das Gut war sehr gut durchorganisiert. Alles hatte seinen Platz. Und überall waren Menschen, die entweder etwas holten oder brachten oder einfach nachzählten, wie viel da war.
Seit Severus die germanischen Reiter entdeckt hatte, ging es besonders hektisch zu. Es würde für die Menschen jedoch kein Entkommen geben, wenn die Germanen das Gut überrennen sollten. Es hätte schon geheime unterirdische Gänge geben müssen, wenn sie eine Chance haben sollten. Tony sah sich um, und ihm war klar, solche Gänge gab es nicht.
Am besten, er bot Severus seine Arbeitskraft an.
Das war relativ einfach. Er musste nur seiner Stimme nachgehen, die pausenlos Befehle oder Flüche brüllte.
Severus war, so schien es Tony jedenfalls, erleichtert, ihn zu sehen.
„Wo hast du in den letzten Stunden gesteckt?“, fragte er.
„Ich wollte dir mit meinem Anblick nicht auf die Nerven gehen.“
„Keine schlechte Idee.“
„Hast du irgendwelche Aufgaben für mich?“, fragte Tony und versuchte, möglichst ehrfurchtsvoll auszusehen.
Das erweckte Severus’ Argwohn. Doch er hatte zu viel zu bedenken, um genauer nachzufragen. „Fülle Eimer mit Wasser“, bellte er.
Tony schoss davon. Er hatte beim Überqueren des Hofs bereits gesehen, dass Frauen aus dem Brunnen Holzeimer voll Wasser herausholten und in einer Reihe aufstellten. Zu ihnen ging er.
„Ich soll helfen.“
„Geh zum Bach“, sagte eine der Frauen, „und hilf dort.“
Er lief zum äußersten Rand des Geländes innerhalb des Zaunes. Dort kam ein Bach herein, der unter dem Haupthaus durch Rohre lief und als Wasserleitung und Klospülung verwendet wurde. Auf der anderen Seite, außerhalb des Zauns, floss er mit den Abwässern weiter. Mehrere Sklaven, darunter Lentulus und sogar der Lehrer Herklides, schöpften Wasser in Eimer. Auch der kleine Aurelius war bei ihnen und half. Es waren kaum noch leere Eimer da.
„Wo kann ich noch mehr Eimer holen?“
Diesmal hatten die Sklaven nichts dagegen, dass er half.
„Wir haben keine mehr.“
Er schaffte es, gerade zwei der letzten Eimer zu füllen. Jetzt mussten sie sie nur noch zu den am meisten gefährdeten Stellen tragen, damit sie gleich zur Hand waren, wenn es brennen sollte. Während Tony beim Schleppen half, musste er die ganze Zeit an die Vergeblichkeit ihres Unterfangens denken. Was konnten sie mit ihren Eimern schon ausrichten, wenn sämtliche Gebäude in Flammen aufgehen sollten?
Sie bräuchten Hydranten und Feuerwehrwagen mit Schläuchen. Ach was, sie bräuchten Uzis und Kalaschnikows. Es machte Tony wahnsinnig zu sehen, wie ausgeliefert die Menschen waren.
Tony war gerade um eine Ecke gebogen, als er plötzlich vor Bassus und Donatus stand. Sie kamen aus dem Stall. Tony sah sich um. Außer den beiden waren keine weiteren Soldaten zu sehen.
„Wo sind die anderen?“, fragte er.
„Sie kommen später, von weiter her, auf Umwegen. Die Germanen sollen nicht wissen, dass sie hier von vielen Kämpfern erwartet werden.“
„Warum dürfen sie das nicht wissen? Dann würden sie doch sicher verschwinden?“
„Genau. Sie würden verschwinden, warten, bis wir wieder gegangen sind, und das Gut erst dann überfallen.“
Das leuchtete Tony ein. „Werden die anderen Reiter denn rechtzeitig da sein?“
Jetzt sah er die Sorge in Bassus‘ Augen. „Ich hoffe es. Donatus und ich waren zufällig in der Nähe. Aber die anderen Reiter kommen vom Castellum.“
„Ich werde mit euch kämpfen. Aber es würde helfen, wenn ich Waffen hätte.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, ertönte plötzlich Severus‘ Stimme hinter ihm. „Er ist kein Soldat. Er würde nur Unordnung stiften.“
Tony wollte etwas erwidern, Aber Bassus legte ihm die Hand auf die Schulter. „Tony ist ein guter Kämpfer“, sagte er ruhig, „wir können es uns nicht leisten, auf ihn zu verzichten.“
Severus gab nicht nach. „Ich erlaube es nicht.“
„Severus …“, versuchte Bassus noch einmal.
„Er bekommt keine Waffen. Basta.“
Bassus gab auf. „Wie du willst.“
Severus hatte sich bereits einige Schritte entfernt, als er sich noch einmal umdrehte und auf ihn deutete. „Am wohlsten wäre mir, wenn wir ihn einsperren würden.“
Kaum war Severus weg, sagte Tony trotzig zu Bassus: „Ich brauche ein Messer und einen Speer.“
Bassus schwieg. Donatus sah ihn gespannt an. „In Ordnung“, sagte Bassus schließlich. Er wandte sich an Donatus. „Sorge dafür, dass er die Sachen bekommt.“
Bassus eilte davon, und Tony lief hinter Donatus her. Sie betraten ein Seitengebäude mit mehreren Vorratskammern. Aus einer von ihnen trugen Männer Waffen heraus. In der Kammer entdeckte Tony nicht nur Schwerter, Messer und Speere, sondern auch Bogen und Pfeile in Köchern und Schlagstöcke, die mit Metall verstärkt waren.
„Damit könnte man eine ganze Legion ausstatten.“
Donatus lachte. „Für ein Gut ist das beeindruckend, aber für eine Legion wäre es ein Witz. Außerdem: Was nützen die besten Waffen, wenn die Bewohner nicht damit umgehen können!“
„Severus wird es ihnen schon beigebracht haben.“
Donatus zog eine Augenbraue hoch.
„Hat er nicht?“
„Nein. Er sammelt die Waffen eigentlich nur.“
„Müsste das Gut denn nicht immer auf solche Angriffe vorbereitet sein?“
Donatus schüttelte den Kopf. „Hier herrscht schon seit Jahren Frieden zwischen Römern und Germanen. Dass der Trupp da draußen sich auf unserer Seite des Rheins herumtreibt und Unheil stiftet, ist unbegreiflich. Wir versuchen schon seit Monaten herauszufinden, was dahinter steckt.“
„Machen sie nicht einfach Raubzüge?“
„Nein. Sie morden vor allem. Sie hassen alles Römische. Aber wir wissen nicht warum. Wir sind schließlich schon lange hier. Außerdem haben wir es längst aufgegeben, die rechte Rheinseite zu erobern. In Germania Libera sind sie daher sicher vor uns.“
Mit einem Messer und einem Speer bewaffnet machte Tony sich auf die Suche nach Flavia und Aurelius. Dabei vermied er, Severus zu begegnen.
Die Bewohner des Guts wirkten inzwischen sehr bedrückt. Sie versuchten jedoch, sich möglichst so wie immer zu verhalten, damit die Germanen keinen Verdacht schöpften. Die sollten glauben, dass auf dem Gut alles seinen gewohnten Gang ging.
Die erwarteten Soldaten der Ala waren immer noch nicht eingetroffen.
Tony fand Flavia und Aurelius bei Lentulus und den Kindern der Sklaven im Unterrichtszimmer. Sie hatten sich um Herklides versammelt. Tony setzte sich mit seinen Waffen neben die Tür. Flavia wirkte jetzt, wo er da war, zuversichtlicher. Zusammen mit Herklides forderte sie die anderen Kinder auf, sich auf die Holzbänke zu setzen und das Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ zu spielen.
Tony selbst war ganz ruhig. Er hatte seinen Plan. Sobald die Germanen das Haus betraten, würde er vor die Tür des Zimmers treten und auf dem Korridor mit ihnen kämpfen. Solange er nur konnte, würde er sie daran hindern, das Unterrichtszimmer zu betreten. Alles Weitere lag nicht in seiner Hand. Er hätte dann jedenfalls alles in seiner Macht Stehende getan, um die Kinder zu schützen. Und sich selbst brachte er gleichzeitig in Lebensgefahr und würde so wieder in seiner Zeit landen. Er musste nur noch abwarten.
Doch lange hielt diese innere Ruhe nicht an. Flavia und Aurelius taten ihm leid. Eigentlich taten ihm alle leid. Und auf einmal bedauerte er auch, dass er diese Menschen nun nicht mehr näher kennen lernen würde. Gut, auf Severus konnte er natürlich verzichten. Aber er hätte ganz gerne die römische Stadt Köln gesehen und das Lager der Reitersoldaten in Durnomagus. Dann hätte er Franzis Vater davon erzählen können.
Eigentlich könnte ja auch Gwanwyn beschreiben, wie es in der Römerzeit ausgesehen hatte. Wie schaffte sie es nur, den Mund zu halten und ihr Wissen für sich zu behalten? Und wie war sie zurechtgekommen, als sie als Zehnjährige plötzlich 2000 Jahre später zu sich gekommen war? Was für ein furchtbarer Schock musste das gewesen sein. Er musste sie das alles unbedingt fragen.
Bald würde sein Aufenthalt hier Vergangenheit sein. Deswegen musste er sich seine Umgebung noch einmal gut einprägen, damit er später alles wieder abrufen konnte, das Unterrichtszimmer, die Kinder…
Flavia lächelte ihn tapfer an. Tony spürte einen leisen Schmerz. Melanie! Sie hatte ganz ähnlich gelächelt. Möglichst aufmunternd lächelte er zurück. Dann öffnete er die Tür einen Spalt breit und spähte hinaus. Der Korridor wirkte im schummrigen Licht der wenigen Öllampen heimelig. Tony konnte die leisen, flehenden Stimmen von Frauen hören und sah in die Richtung, aus der sie kamen. Vor der Nische mit den Hausgöttern stand eine Gruppe, unter ihnen Marcia, und betete.
Die Menschen auf dem Gut litten Todesangst. Tony schämte sich einen Moment lang dafür, dass er nur an sich gedacht hatte. Und er beschloss, sein Bestes zu geben.
Flavia kam zu ihm und brachte ihren Mund ganz nah an sein Ohr. Was sie sagte, ließ ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren: „Tony, wenn sie kommen und siegen, musst du mich und Aurelius töten.“
Er hatte keine Gelegenheit zu reagieren. Von draußen drang Kampflärm. Die Germanen waren da.
Flavia rannte zu Aurelius und nahm ihn in die Arme. Herklides trat neben Tony und raunte: „Die Verstärkung von der Ala ist nicht eingetroffen. Wir sind verloren.“
Tony kannte Schreie und Stöhnen aus dem Kampfsportclub. Aber das war nichts im Vergleich zu den Kampfschreien und Schmerzlauten, die er jetzt hörte. Er hätte sich auch nie vorstellen können, dass Menschen, die nur einfache Waffen hatten, einen solchen Lärm machen konnten. Es klang wie Donnergrollen oder wie ein riesiges Tier, ein wütender Drache aus der Urzeit. Holz brach - oder waren es Knochen? Holz schlug auf Holz, Metall auf Holz und Holz oder Metall auf Stein. Dazwischen das Wiehern von Pferden und immer wieder die schrecklichen Schreie von Männern.
Ganz nah begann etwas zu rattern. Wie eine Spielzeugeisenbahn, die über ihre Weichen holpert. Es dauerte eine Weile, bis Tony bewusst wurde, dass es das Klappern seiner Zähne war. Mit aller Macht biss er sie zusammen.
Dann zerbarst die Eingangstür.
Die Frauen vom Hausaltar kamen angerannt und stürzten ins Zimmer.
Tony gab Herklides ein Zeichen, dass er hinter ihm die Tür verriegeln sollte. Dann war er allein. Den Speer behielt er in der Hand. Das Messer steckte er in den Gürtel.
Jetzt war er wieder ganz ruhig, wie immer vor einem Kampf. Er zog sich an den Ort tief in seinem Inneren zurück und wurde zur Maschine. Kalt sah er dem Germanen entgegen, der als erster auf ihn zukam. Während der wenigen Schritte, die der Mann brauchte, um ihn zu erreichen, taxierte Tony ihn. Der Germane war mit dunklen Spritzern und Flecken bedeckt. In der linken Hand hielt er ein Schwert, in der rechten eine Axt. Von beiden tropfte etwas. Der Mann bewegte sich wie ein Panzer vorwärts und schien keinen Schmerz mehr zu fühlen.
Okay. Wenn er kein Linkshänder war, fühlte er sich mit der Axt offensichtlich wohler als mit dem Schwert.
Tony ließ ihn ganz nah herankommen. Der Geruch nach Blut und Schweiß, der von dem Mann ausging, war überwältigend. Er registrierte es jedoch nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Für mehr war keine Zeit. Ihm entging kein Wimpernschlag seines Gegners. Der erste Stoß musste sitzen und tödlich sein. Für Melanie! Für Flavia! Der Germane hob die Hand mit der Axt. Sehr gut. Tony sah alles wie in Zeitlupe. Die Hand hob sich immer höher und höher. Am höchsten Punkt schien sie still zu stehen. Die hassverzerrte Miene des Germanen erstarrte. Dann war der Mann tot.
Schnell zog Tony den Speer aus dem Herzen des Toten.
Der nächste Gegner stolperte fast über seinen gefallenen Kameraden. Tony hörte einen grauenhaften Schrei. Doch der zweite Germane hatte lediglich die Zähne gefletscht und stieß grunzende Laute aus.
Es war Tony selbst, es war sein eigener Schrei gewesen. Er hatte nicht gewusst, dass er so furchterregend brüllen konnte. Und es machte ihm Spaß.
„Vater!“, schrie er plötzlich und stach zu und hieb und schlug und trat. „Vater!“ Dann „Pater!“, damit sie es auch ja verstanden. „Für Melanie! Für Flavia! Für Aurelius!“
In seinen Ohren begann es zu rauschen. Es klang wie das Donnern eines Tsunamis. Er sah den dämmrigen Korridor nur noch durch einen roten Filter. Und er bewegte sich ohne Pause, mit immer größerer Leichtigkeit. Er schien zu fliegen, ja, er schwebte hinauf an die Decke. Jetzt war er in einem Raumschiff, aber nicht so langsam wie die Astronauten in einer Raumkapsel. Er war schwerelos und dabei so schnell wie eine wütende Kobra, nein, wie eine Mamba, eine schwarze, äußerst gereizte Mamba.
„Ooooooiiiiiiii! Oooooooiiiiiii“, tönte es durch das Rauschen.
Er fiel. Und er landete hart.
„Oooooiiiiii!“ Es war die Stimme von Bassus.
Was meinte er? Tonys Blick wurde klar. Der Korridor war jetzt hell. Viele Öllampen brannten - und Fackeln. Jemand hielt Tony fest. Er fühlte, dass er keuchte. Er hörte sich an wie die Frau, die er einmal im Fernsehen gesehen hatte, die gerade ein Baby zur Welt brachte. Er versuchte das Keuchen zu unterdrücken und stattdessen lautlos zu atmen. Ein, aus. Ein, aus. Es gelang ihm nicht sofort. Aber allmählich ging sein Atem gleichmäßiger. Das Rauschen verebbte.
Jetzt hörte er Bassus’ Stimme ganz deutlich und sehr nah. „Tony“, sagte er, „Tony.“
Sämtliche Kräfte verließen ihn. Als hätte sie jemand abgesaugt. Nicht einmal seinen Kopf konnte er mehr zur Seite drehen. Er wollte etwas sagen, doch es kam kein Laut über seine Lippen.
Das Gesicht von Bassus erschien über ihm, erschöpft und besorgt. „Hörst du mich?“, fragte er.
Mit einer unendlichen Anstrengung gelang es Tony zu nicken.
„Es ist vorbei, Tony.“
Vorbei? Hinter Bassus standen Donatus und Severus. Auch sie sahen müde aus. Und sie sahen ihn an. Er konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten. Sie wirkten jedenfalls ernst. Nicht wie Männer, die sich über einen Sieg freuten.
Oh Gott! Nein!
Jetzt konnte er endlich ein Wort herauspressen: „Flavia?“
„Die Kinder leben“, sagte Bassus, „alle Kinder leben.“
Die Erleichterung überwältigte Tony. Fast wie ein Glücksgefühl brach sie über ihn herein. Donatus und Severus entfernten sich aus seinem Blickwinkel. Stattdessen tauchten fremde Männer auf, in Lederhosen und Kettenhemden. Ihre verschwitzten Haare klebten an den Schädeln, die metallenen Helme hatten sie abgenommen. Auch sie wichen zur Seite, um ihren Anführer durchzulassen. Der war groß und hager, mit dem Profil eines Adlers. Und er trug seinen Helm mit dem roten Busch noch, der aussah wie ein quer gestellter Hahnenkamm.
„Ist er verletzt?“, fragte er Bassus.
„Nein, Decurio, nur erschöpft.“
„Kein Wunder.“
Die Reiter der Ala waren also doch noch rechtzeitig gekommen!
Bassus nahm von einer Sklavin einen Krug entgegen. Er schob Tony seinen Arm unter den Kopf.
„Trink“, befahl er.
Gierig schluckte er. Wieder dieser saure Wein. Stärker diesmal, nicht ganz so stark mit Wasser verdünnt.
Nach einer Weile wollte Bassus den Krug zurückziehen, doch Tony hielt seinen Arm fest und trank weiter. Schließlich entwand Bassus ihm den Krug und zog ihn hoch. Einer der fremden Soldaten half ihm, und so führten sie ihn zu seinem Zimmer.
Tony ging, als würde er gerade erst das Laufen lernen.
Kurz bevor er wegdriftete, fiel ihm auf, dass er in letzter Zeit dauernd entweder bewusstlos oder halb bewusstlos in den Schlaf fiel und danach immer in der Römerzeit aufwachte.
Und er wusste, diesmal würde es nicht anders sein. Denn die Gefahr war vorbei. Aber er war noch immer hier.