XI
„Dann bittest du den Patienten, seine Augen zu schließen, und tastest durch seine geschlossenen Lider hindurch die Oberfläche des Augapfels ab.“
Der Patient, ein alter Germane, der in Begleitung einer erwachsenen Enkelin gekommen war, schloss die Augen.
Kallisto hob ihre Hände und legte die Daumen auf die Lider des alten Mannes. Behutsam drückte sie zu und bewegte die Kuppen ihrer Daumen hin und her. Danach bat sie den Mann, seine Augen wieder zu öffnen, und trat zur Seite.
„Und jetzt sag mir, was du siehst, Tony.“
„Keine Veränderung. Alles bleibt starr.“
Kallisto nickte zufrieden.
Tony fuhr fort: „Das, zusammen mit der graublauen Farbe des Stars, sagt uns, dass er reif ist und du ihn entfernen kannst.“
„Sehr gut.“
Wieder einmal hatte er bewiesen, dass er keine Fehler machte, wenn es um die Beurteilung des Reifegrads eines Grauen Stars ging. Doch Tony konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals allein, ohne die Hilfe eines erfahrenen Okulisten oder einer Okulistin wie Kallisto, einen solchen Star operieren könnte. Ohne Betäubung wurde dabei dem Patienten ins Auge gestochen und der Star weggedrückt. Und doch war es auch faszinierend. Tony war Wackeron dankbar, dass er seine alte Freundin aus Griechenland gebeten hatte, ihn während seines Aufenthaltes hier in der Augenheilkunde zu unterweisen. Sie war als Okulistin so erfolgreich, dass von nah und fern Menschen mit Augenleiden nach Aquae Granni reisten, um sich von ihr behandeln zu lassen.
„Heute siehst du noch einmal genau zu, und morgen wirst du es selbst versuchen“, sagte Kallisto.
Er hob abwehrend die Hände. „Ich bin noch nicht so weit.“
Kallisto, klein, mollig und lebhaft, mit einen Wust von hochgesteckten, schwarzen Locken, lächelte. „Tony, ich hatte noch nie einen Schüler, der so schnell begriffen hat wie du. Du kannst das, du wirst sehen.“
Wieder wollte Tony widersprechen, doch dann erkannte er, dass es ihn im tiefsten Inneren auch reizte, eine solche Operation durchzuführen.
Schon seit Wochen ging er jeden Morgen zu Kallisto, sah ihr zu und assistierte. Am Nachmittag zog er weiter in die Bibliothek des Grannustempels und las Bücher über Augenheilkunde. Er hatte zwar nicht vor, später als Okulist zu arbeiten, aber er wollte als Arzt in möglichst vielen Gebieten Bescheid wissen. Zumindest in Notfällen wollte er auch Behandlungen durchführen können, die in das Gebiet eines anderen Experten der Heilkunst fielen.
Der Germane saß mit dem Gesicht zum Licht direkt vor dem großen Fenster auf einem Stuhl.
„Du bist bereit?“, fragte Kallisto ihn.
Der Mann nickte.
Seine Enkelin trat vor. „Er hat in den letzten drei Tagen wenig gegessen, aber viel Wasser getrunken.“
Kallisto nickte zufrieden und winkte ihre Assistentin heran. Die legte ein Stück Wolle auf das andere Auge und fixierte sie mit einem Verband. Dieses Auge würde erst dann behandelt werden, wenn das heute operierte verheilt war. Dann stellte sie sich hinter den Stuhl und hielt den Kopf des Mannes fest. Kallisto saß ihm auf einem erhöhten Schemel gegenüber. Auf einem Tischchen neben ihr lagen die Instrumente für die Operation. Sie nahm eine der Starnadeln und näherte sich dem offenen Auge. Mit der einen Hand drückte sie das Augenlid nach oben und mit der anderen stach sie ins Auge. Es geschah alles sehr schnell, und noch nie hatte Kallisto eine Ader getroffen.
Bassus verließ das Behandlungszimmer und betrat den von marmornen Halbsäulen geschmückten Vorraum. Er streckte sich. Nichts. Keine Schmerzen mehr. Die Masseure von Aquae Granni hatten in den letzten Wochen gute Arbeit geleistet.
Ein anderer Patient kam ihm hinkend entgegen und betrat das Zimmer. Bassus ging an der Tür vorbei, die zu den Badebecken mit heißem Wasser führte, und steuerte auf die Regalwand zu, in der die Gäste ihre Sachen aufbewahrten. Gerade als er in sein Fach greifen wollte, lief einer der Sklaven herbei, um ihm zu helfen. Bassus gab ihm das Handtuch, das er um seine Hüften gewickelt hatte, und zog seine bodenlange weiße Tunika an. Beim Anlegen der leichten Sommertoga half ihm ein anderer Sklave. Das einzige Kleidungsstück aus seiner Soldatenzeit, das er weiterhin trug, waren seine Caligae.
Draußen wartete Harpalos. Bassus kraulte ihn ausgiebig hinter den Ohren. Dann machten sie sich auf den Weg. Die Strahlen der Sonne brannten heiß. Was war nur mit dem Frühling geschehen? Auf den Bäumen und Sträuchern lag schon jetzt die Staubschicht eines trockenen Sommers. Schon seit Wochen waren sie hier. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Bassus eine so lange Zeit damit verbracht, einfach nur auszuschlafen, spazieren zu gehen, zu schwimmen, sich massieren zu lassen – und zu lesen. Endlich in Ruhe lesen zu können! Und das angeblich auf Kosten der Armee, denn er war immer noch im aktiven Dienst.
Und zu verdanken hatte er das alles Tony.
Sie waren unbehelligt bis zum Rhein gekommen, wo eine Liburne der Flotte sie bereits erwartete. In Severus’ Haus war er mehrere Tage lang von Morvran und Tony betreut worden. Danach hatten sie ihn ins Valetudinarium der Ala Noricorum gebracht, wo Wackeron sich um ihn kümmerte. Währenddessen organisierte Tony alles. Er war sogar nach Moguntiacum gereist, wo er den Imperator Nerva Trajanus gerade noch antraf, bevor der nach Dakien aufbrach. Inzwischen war der Aufstand dort erfolgreich niedergeschlagen, und Trajanus war jetzt da, wo er sein sollte: in Rom.
Wahrscheinlich würden Bassus und Tony ihren Imperator nie wieder sehen, zumindest ihm nie wieder so nahe kommen wie hier in Germanien. Aber Trajanus hatte noch diesen Kuraufenthalt angeordnet und bezahlte ihn wohl auch. Denn die Armee kam normalerweise nicht auf für die Genesungsaufenthalte ihrer Soldaten außerhalb eines Valetudinariums – es sei denn, das Lager befand sich in der Nähe von Heilquellen.
Am teuersten war die Unterkunft. Bassus wäre auch mit einem sehr viel einfacheren Zimmer zufrieden gewesen, aber Trajanus hatte darauf bestanden, dass er und Tony in einer der teuersten Luxusherbergen der Stadt einquartiert wurden.
Warum hatte Trajanus das getan? Er schuldete Bassus doch nichts. Oder war es die Entschuldigung dafür, dass er Bassus‘ erneute Bitte um Entlassung aus der Armee wieder abgelehnt hatte? Warum nur ließ man ihn nicht ziehen? Als Kundschafter konnte er nach den Ereignissen der vergangenen Monate schließlich nicht mehr arbeiten. Er war viel zu bekannt.
Bassus blickte um sich. Dieses Aquae Granni würde sicher bald zu einem Geheimtipp werden. Jetzt gab es noch große Kontraste, hier pompöse Tempelanlagen, Gästehäuser und Bäder im römischen Stil und dort die einfachen Häuser der einheimischen Bevölkerung. Aber bald würden auch sie durch die stetig zunehmende Zahl von Kurgästen reich werden. Und das hieß, dass sie ihre einfachen Behausungen abrissen und durch größere Häuser im römischen Stil ersetzten.
Bassus traf wieder auf die Soldaten, die seit seiner Ankunft schweißüberströmt an einer neuen Straße bauten. Noch ein paar Tage, und sie würden fertig sein.
Er bog mit Harpalos in den Park ein. Hier kümmerte sich eine Schar von Sklaven den ganzen Tag um die Pflanzen und Teiche. Überall war das Plätschern von Springbrunnen und künstlich angelegten Bächen zu hören, dazu zwitscherten Vögel. Bassus setzte sich neben einer Statue auf eine steinerne Bank. Er hatte Zeit. Während seiner Behandlung verbrachte Tony seine Zeit zuerst bei Kallisto in der Praxis und studierte danach stundenlang in der Bibliothek des Grannustempels. Er schien sich zwar zu freuen, wenn Bassus ihn dort abholte, doch Bassus hatte jedes Mal auch das Gefühl, dass Tony sich losreißen musste von seiner spannenden Lektüre.
Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Das einzige, wofür sie selbst Geld ausgaben, waren Bücher. Und jetzt waren es nicht mehr nur seine eigenen Bücher, sondern auch die von Tony. Zum Glück teilten sie das Interesse an Philosophie und Geschichte und mussten diese Werke nur einmal kaufen, aber Tony sammelte auch Schriften über Heilkunst und beschäftigte sich mit den Druiden.
„Weißt du, was aus dem Druiden von damals geworden ist?“, hatte er Bassus gefragt.
„Ich hoffe, dass er überlebt hat.“
„Das hoffe ich auch. Und falls ja, meinst du, wir werden ihm je begegnen?“
Daran hatte Bassus noch nie gedacht. Aber der Gedanke gefiel ihm.
„Wer weiß? Ich würde ihn gerne wiedersehen.“
Bassus griff in seine Umhängetasche. Eines Tages hatte er dort das Medaillon gefunden. Für einen Moment hatte er geglaubt, dass es vielleicht versehentlich hineingerutscht war. Doch dann hatte er verstanden. Es war Tonys Botschaft an ihn, dass er den Wunsch aufgegeben hatte, in seine eigene Zeit zurückzukehren.
Tony redete ihn zwar immer noch mit „Bassus“ an, aber anderen gegenüber sprach er von ihm als „pater meus“. Das hatte er von Severus, Fabius Pudens und auch von Wackeron und Morvran erfahren. Ohne dass sie je darüber gesprochen hätten, war es also geschehen: Sie waren wirklich Vater und Sohn geworden.
Noch auf dem Gut hatte ihm Severus mit Tonys Erlaubnis seinen Brief an Trajanus zu lesen gegeben. Der Inhalt hatte Bassus erschüttert. Er fühlte sich seither privilegiert, dass dieser Junge, der so viel gelitten hatte in seinem Leben, zu ihm gehörte.
Doch war das auf Dauer das Beste für Tony?
Was konnte er ihm schon bieten? Bücher. Gute Gespräche. Ein Zuhause. War das genug? Und würde Tony wirklich vergessen können, dass der Tod seiner Schwester für immer ungesühnt bleiben würde? Würde sich nicht ein Teil seiner Seele deshalb immer nach der Zeit sehnen, aus der er ursprünglich stammte?
Bassus musste mit ihm über diese Dinge reden. Nicht heute. Aber irgendwann.
Tony spürte sofort, wenn Bassus sich näherte, denn der hatte wieder den festen Schritt des Soldaten. Trotzdem tat Tony jedes Mal so, als bemerkte er ihn nicht. Er wollte einfach, dass Bassus sein tägliches Abholritual beibehielt.
Sobald Bassus unmittelbar hinter ihm stand, sagte er immer leise „Tony“ und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Er hatte sich inzwischen dermaßen an diese Geste gewöhnt, dass er nicht mehr darauf verzichten konnte. Warum er aber trotzdem jedes Mal irgendetwas zurückknurrte, so als müsse er sich schweren Herzens von seiner Lektüre losreißen, wusste er selbst nicht. Zum Glück schien Bassus das nicht weiter zu stören.
Wenn es nach Tony gegangen wäre, hätten sie ruhig für immer so weiter leben können. Aber nur noch wenige Tage, und sie würden nach langer Abwesenheit wieder in ihre Wohnung in der Sieldung Durnomagus zurückkehren. Und von dort würden sie wieder jeden Morgen zum Lager gehen.
Sie traten aus dem kühlen Gebäude und gingen zu ihrem Gästehaus. Für Tony war es immer noch ein ungewohnter Anblick, seinen Adoptivvater in einer langen Tunika und Toga statt in seiner Soldatenkleidung zu sehen. Nun, bald würde er wieder Hose und Hemd eines Reitersoldaten tragen.
Kaum waren sie im Gästehaus, knurrte Tonys Magen so laut, dass auch Bassus es hörte. Sie grinsten sich an und marschierten sofort Richtung Speisesaal. Harpalos bellte und lief ins Atrium. In den Speisesaal durfte er nicht.
Kaum saßen sie, brachte ihnen ein atemloser Bediensteter der Rezeption eine Schriftrolle.
„Post, verehrter Flavius Bassus.“
Sie wussten, von wem. Niemand schrieb so regelmäßig wie Marcia und Severus.
Bassus öffnete die Rolle und reichte Tony mit einem unergründlichen Blick das einzelne Papyrusblatt, das wie immer darin eingewickelt war und auf dem Tonys Name stand. Nicht der offizielle, Titus Flavius Bassus Tonianus, sondern Tony. Und wie immer begann der Brief mit den Worten: „Carus amicus ...“ Und dann folgten die Neuigkeiten aus dem Alltag. Flavia schilderte das Leben auf dem Gut, erzählte lustige Anekdoten. Zum Schluss ermahnte sie ihn, sich gut um Bassus zu kümmern, und versicherte ihm, dass sie jeden Tag für sie beide zu den Göttern betete.
Tony sah auf. Auch Bassus hatte seinen Brief zu Ende gelesen.
„Und?“, fragte er Tony. „Irgendetwas Neues?“
„Nein. Wie immer.“
Bisher hatte Bassus ihn nie nach seiner Beziehung zu Flavia gefragt, doch heute sah er ihn aufmerksam an.
„Du wirkst nicht gerade glücklich. Am Anfang hast du dich über jeden Brief gefreut.“
„Ich freue mich immer noch. Natürlich. Sehr.“
„Ach ja?“
„Klar.“
„Aber?“
Tony zuckte mit den Schultern. „Nichts aber.“
Die Suppe wurde gebracht. Stumm begannen sie zu löffeln. Bassus war zuerst fertig und sah ihm zu. Plötzlich schaffte Tony schaffte es nicht mehr, seine Schüssel leer zu essen, und legte den Löffel hin. Er starrte auf die Tischplatte.
„Sie mag dich sehr“, sagte Bassus.
Tony sah ihn überrascht an. „Woher willst du das wissen?“
Bassus lächelte. „Es ist offensichtlich.“
„Wieso?“
„Nun, sie ist dir in Severus’ Haus praktisch nie von der Seite gewichen.“
„Sie interessiert sich eben für Heilkunst.“
Wieder lächelte Bassus. „Sie wollte in deiner Nähe sein.“
„Das glaube ich nicht.“
„Hast du denn nie bemerkt, wie sie dich ansieht?“
„Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass sie mich insgeheim ausgelacht hat.“
„Solange sie nicht weiß, was du für sie empfindest, möchte sie sich eben keine Blöße geben.“
„Quatsch, sie weiß genau, dass sie mir gefällt.“
„So wie du genau weißt, dass du ihr gefällst?“
„Warum sagt sie es mir dann nicht, sondern schreibt stattdessen diesen blöden Scheiß, der mich nicht die Bohne interessiert?“
„Ach Tony.“
Der Springbrunnen plätscherte. Jetzt gegen Abend war es im Atrium ihrer Nobelherberge angenehm kühl. Mehrere Gäste saßen oder lagen herum und lasen oder unterhielten sich leise. Nach dem Essen hatten sie aus ihrem Zimmer ihre Schriftrollen geholt und es sich hier bequem gemacht. Tony saß auf einer Steinbank und hatte eine Abhandlung über Heilpflanzen auf seinen Knien, konnte sich jedoch einfach nicht darauf konzentrieren. Bassus lag auf einer Holzliege und schien völlig in seine Lektüre versunken. Noch war es hell genug zum Lesen. Aber lange würde es nicht mehr dauern, bis die Sonne unterging und das Atrium in Dunkelheit getaucht werden würde.
Die Liege neben Bassus wurde frei. Tony verließ seine Bank und ließ sich neben Bassus nieder. Die Schriftrolle legte er auf seinem Bauch.
Er blickte hinauf in den Himmel. Und nach einer Weile war ihm, als würde er schweben. Er drehte den Kopf nach rechts und sah die Gischt des Springbrunnens. Als er ihn nach links drehte, sah er die Schriftrolle, die Bassus in seinen kräftigen Händen hielt. Tony wurde warm ums Herz. Er blickte wieder nach oben.
Noch nie hatte er ein solches Gefühl erlebt: Alles war gut.
Dann kam der Schmerz. Wie Schläge in die Magengrube. Eine Welle nach der anderen, und jede war größer und heftiger als die vorhergehende. Er sprang auf und lief ins Zimmer. Dort krümmte er sich zusammen.
Er durfte nichts fühlen.
Auch nichts Schönes. Gerade nichts Schönes. Denn es würde immer böse enden. Der nächste Schlag würde nicht lange auf sich warten lassen.
Nach einer Weile näherten sich Schritte, und Bassus kam herein. Er setzte sich neben Tony und legte ihm den Arm um die Schultern.
Tony wollte fliehen. Aber er blieb. Allmählich entspannte er sich.
Eine ungeheure Last fiel von ihm ab.
In der Nacht hatte er noch einmal die alte Vision: Er lief auf dem Wasser. Wieder schien der Mond hell. Und wieder lief neben ihm eine in Licht getauchte Gestalt, deren Gesichtszüge er nicht erkennen konnte.
Als er aufwachte, saß Bassus neben seinem Bett und las.
Dem Stand der Sonne nach war es früher Nachmittag. Tony schnellte hoch.
„Verdammt, warum weckt mich denn nie jemand? Hat sich denn die ganze Welt verschworen?“
Bassus grinste. „Ich glaube, ich habe dir dadurch noch einen Tag Aufschub gewährt.“
„Aufschub?“
„Auf dem Weg in die Thermen habe ich bei Kallisto vorbeigeschaut. Sie erklärte gerade einer spitznasigen älteren Dame mit einem verängstigten Ehemann, dass einer ihrer jungen Assistenten sie heute operieren würde.“
Tony stöhnte auf. „Oh, nein! Ist Kallisto jetzt böse auf mich?“
„Keine Ahnung. Wenn, dann hat sie es gut verborgen. Du wirst deine Chance also sicher noch bekommen. Außerdem hat sie mich für heute Abend zum Essen eingeladen.“
„Nur dich? Nicht uns beide?“
„Dich sieht sie ja jeden Tag.“
Bassus tat, als lese er weiter.
„Du solltest heute Abend auf dich aufpassen. Sie steht nämlich auf durchtrainierte Männer mit breiten Schultern.“
„Tatsächlich?“
„Und sie ist sehr energisch.“
„Was meinst du damit?“
„Nun, sie lähmt ihre Beute, und dann sticht sie zu.“
„Ich werde mich in Acht nehmen.“
„Andererseits …“
„Ja?“
„Ich glaube, sie hätte kein Problem mit einem One-Night-Stand.“
„Was ist das denn?“
„Englisch. Eine Sprache der Zukunft.“
„Ich verstehe. Und was ist das nun, ein One-Night-Stand?“ Bassus hatte den Ausdruck in perfektem Englisch wiederholt.
„Wow, du bist wirklich sprachbegabt.“
„Danke“, erwiderte Bassus lächelnd, „vergiss nicht, dass ich einer der besten Kundschafter des Imperiums bin. Also, worum handelt es sich dabei?“
„Es bedeutet, eine heiße Nacht mit jemandem zu verbringen, aber ohne ernsthaftere Absichten.“
Bassus dachte nach.
„Ich glaube, ich bin kein Mann für einen One-Night-Stand“, meinte er schließlich.
„Na, dann viel Glück heute Abend.“
Die Nacht schritt voran. Bassus war noch immer nicht zurück. Tony war hellwach. Wahrscheinlich lag es daran, dass er am Vormittag so lange geschlafen hatte.
Wie immer, wenn ihn nichts ablenkte, dachte er an Flavia. Und sofort kam die Sorge um sie wieder. Bassus hatte nach seiner Rettung berichtet, dass es Audica darum gegangen war, alles über Marcia und Severus und das Leben auf dem Gut zu erfahren. Aber am meisten hätte er sich für Flavia interessiert. Ihr hatte sein besonderer Hass gegolten. Er ärgerte sich vor allem darüber, dass Flavia wie ihre Mutter ihren germanischen Namen abgelegt und stattdessen den Namen von Flavius Severus angenommen hatte, was sonst nur bei leiblichen Töchtern üblich war.
Selbstverständlich hatte Severus die Sicherheitsvorkehrungen des Gutes verstärkt. Doch vollkommene Sicherheit gab es nie. Wenn es jemand darauf anlegte, konnte er immer eine Schwachstelle finden und zuschlagen. Außerdem war es Severus bisher noch nicht gelungen herauszufinden, wer aus seiner Umgebung Informationen an Audica weitergab.
Aber was genau plante Audica eigentlich? Das war auch Bassus nie klar geworden. Natürlich suchten alle Einheiten der römischen Armee auf der linken Seite des Rheins und ihre germanischen Verbündeten auf der rechten Seite nach Audica, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Und auch Perpenna war verschwunden. Es war ihm wohl klar geworden, dass er als Mitverschwörer Audicas galt und seinen Kopf diesmal nicht mehr aus der Schlinge ziehen konnte.
Endlich! Bassus betrat leise das Zimmer. Eine ungewohnte Wolke von Wein- und Parfümdüften schlug Tony entgegen. Das hatte er bei Bassus noch nie erlebt.
„Ich bin noch wach.“
„Schlafe!“
„Ich kann nicht schlafen. Erzähl mir lieber, wie es war.“
„Da gibt es nichts zu erzählen.“
Bassus plumpste auf sein Bett. Auch das war ungewöhnlich.
„Kann es sein, dass du etwas betrunken bist?“
Bassus stöhnte. „Sie hat mir immer wieder unverdünnten Wein nachgeschenkt.“
„Und der Parfümgeruch?“
„Ich rieche auch nach Parfüm?“
„Und wie.“
„Oh Jupiter!“
„Bist du immer noch kein Mann für einen One-Night-Stand?“
Es dauerte, bis Bassus kleinlaut antwortete: „So etwas ist mir noch nie passiert.“
„Was hat sie denn mit dir gemacht?“
Wieder stöhnte Bassus. „Dinge, für die du noch zu jung bist.“
„So schlimm?“
„Ich habe jedenfalls einiges gelernt heute Nacht.“
Plötzlich prusteten sie beide los und konnten nicht mehr aufhören. Tony wurde von so heftigen Lachkrämpfen geschüttelt, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen.
Eines Tages musste er Bassus erklären, was vierzehnjährige Jungs in seiner Zeit dank Internet schon so alles wussten.
Kurz bevor er einschlief, kam ihm noch ein Gedanke: Er hatte heute zum ersten Mal in seinem Leben von Herzen gelacht.
„Ich hätte das nicht besser gekonnt. Ich wusste es!“
Tony hatte operiert.
Kallisto strahlte. Ihre Assistentin trug Salbe und Wolle auf das frisch operierte Auge der Frau auf und wickelte um beide Augen einen Verband.
„Wenn es keine Komplikationen gibt, kommt ihr in sieben Tagen wieder. Bis dahin müsste alles verheilt sein.“
Der Ehemann nickte bedrückt und führte seine Frau hinaus. Die Frau war für heute ihre letzte Patientin gewesen.
Als die beiden gegangen waren, sagte Kallisto: „Er hat Angst davor, dass sie bald wieder sehen kann. Der Arme.“
Tony hatte den Eindruck, dass Kallistos Augen heute noch mehr strahlten als sonst. Sie hob ihre Arme, verschränkte sie im Nacken und streckte sich.
„Komm, lass uns etwas essen“, schlug sie vor.
Tony folgte ihr in den Wohnteil. Dort klatschte sie in die Hände. Ihr zehnjähriges Sklavenmädchen erschien mit einem Tablett voller Brot, Käse und Früchten und stellte alles auf dem Tisch ab. Danach lief es wieder hinaus und kam mit zwei Tellern und Gläsern zurück. Karaffen mit Wasser und verdünntem Wein standen bereits da. Kallisto legte sich auf eines der Sofas und klopfte auf den Platz neben sich. Zögernd setzte sich Tony. Sie lächelte.
„Greif zu.“
Er hatte nach der Anstrengung der Operation tatsächlich großen Hunger und bediente sich. Kallisto betrachtete ihn.
„Du hast dieselben dunklen Augen und breiten Schultern wie dein Vater. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du sein leiblicher Sohn bist.“
Bassus hatte ihr also nichts gesagt. Aber ihre Bemerkung zeigte, wie aufmerksam sie war. Denn in Aquae Granni hielt jeder ihn für den leiblichen Sohn von Flavius Bassus. Und das störte Tony nicht im Geringsten.
„Du hast recht. Er hat mich adoptiert.“
Sie lächelte kurz und wurde wieder ernst.
„Ist dir klar, dass du großes Glück hattest, von einem Mann wie ihm adoptiert zu werden?“
Tony hörte auf zu kauen.
„Ich bin mir dessen immer bewusst.“
Sie sah ihn prüfend an. Dann nickte sie und griff nach einem Stück Käse. „Ich wette, dass euch eine sehr ungewöhnliche Geschichte verbindet.“
„Mhm.“
„Die ihr anderen aber nicht gerne erzählt?“
„Sie ist etwas … persönlich.“
Sie strich ihm über die Schulter, und ihm wurde heiß und kalt. Sicher würde sie jetzt weiter bohren, bis sie alles aus ihm herausgeholt hatte. Aber er irrte sich.
„Ich habe um Soldaten bisher immer einen Bogen gemacht“, sagte sie stattdessen.
Verlegen erwiderte er: „Er ist nicht wie andere Soldaten.“
„Allerdings.“
Kallisto schien vor sich hin zu träumen. Schließlich seufzte sie: „Er ist unglaublich süß.“
Bassus? Er war anscheinend nicht nur das Opfer gewesen, als das er sich ausgegeben hatte. Tony musste ihn noch einmal genauer nach dieser Nacht ausfragen.
Außerdem würde er selbst gerne auch einmal etwas tun, das einen dermaßen entrückten Ausdruck in Flavias Gesicht zauberte. Und sie vielleicht dazu brachte, ihn unglaublich süß zu finden.
Tony fühlte, wie er errötete. Kallisto entging es nicht. Er stammelte eine Entschuldigung und floh.
Er war so aufgewühlt, dass er sich in der Bibliothek nicht hätte konzentrieren können. Deshalb ging er zu den Ställen des Gästehauses und sah nach den Pferden. Teres und sein eigenes Pferd Julia, das sie den Erben eines verstorbenen Reitersoldaten abgekauft hatten, standen einträchtig nebeneinander und fraßen Hafer.
Auch sie wurden hier verwöhnt. Es würde sicher hart werden, wenn sie nächste Woche wieder in Durnomagus waren. Ganz zu schweigen von ihrem nächsten Einsatz.