IV
Gwanwyn stand in einem Ausstellungsraum des Museums vor dem Grabstein. Sie berührte kurz das Medaillon. Seit Tonys Verschwinden trug sie es immer um den Hals.
Wo er wohl steckte? Es war jetzt fünf Wochen her, dass er aus der psychiatrischen Klinik geflohen war. Und noch immer fehlte jede Spur von ihm.
Seine Eltern hatten vor der Presse eine beeindruckende Rührnummer abgezogen nach dem Motto: Er ist zwar total gestört, aber trotzdem unser Kind.
„Da wir aber wissen, dass er gefährlich ist und anderen Menschen Schaden zufügen könnte, haben wir für sein Aufgreifen eine Belohnung ausgesetzt“, hatte Roland Fuhrmann erklärt. Dabei hatte er den Arm um seine Frau gelegt.
Wieder berührte Gwanwyn das Medaillon. Seltsam. Am Anfang, in den ersten Monaten nach ihrer Rettung, hatte sie es Tag und Nacht getragen. Wie am Spieß hatte sie geschrieen, wenn es ihr jemand wegnehmen wollte - den einzigen Gegenstand aus ihrer alten Welt. Auch wenn es eine grausame Welt gewesen war. Denn die neue Welt war ihr kalt und hässlich vorgekommen. Es dauerte, bis sie begriff, dass sie hier sicher war und Möglichkeiten hatte, von denen sie in der Römerzeit als Frau nicht einmal träumen konnte.
Auf dem Rasen eines Ferienhäuschens in Wales war sie zu sich gekommen. Ein kleiner Pudel sprang um sie herum und bellte, bis eine Frau kam und sie entdeckte.
Sie musste furchtbar ausgesehen haben. Mit zerrissenen Kleidern. Barfuß. Aus vielen Wunden blutend.
Und sie verstand nichts.
Die Frau war ein Feriengast aus Deutschland und sprach nur Englisch. Aber als endlich keltisch sprechende Menschen herbeikamen, half Gwanwyn das auch nicht weiter. Die Sprache hatte sich in zweitausend Jahren zu sehr verändert. Zum Glück gab es ihren Namen noch. Deshalb durfte sie ihn behalten. Das war, nachdem die Leute endlich aufgegeben hatten, jemals herauszufinden, woher sie gekommen war.
Die Evans, ihre Pflegeeltern, waren gut zu ihr. Keine zwei Jahre später fühlte sie sich in der neuen Welt bereits so zuhause, dass sie Angst bekam, eines Tages plötzlich wieder herausgerissen zu werden. Von da an wollte sie mit dem Medaillon nichts mehr zu tun haben und bat ihre Pflegemutter, es aufzubewahren.
Bis vor kurzem. Bis das Manuskript aufgetaucht war. Danach hatte Gwanwyn ihre Pflegemutter gebeten, es ihr wieder zu geben.
Noch einmal streifte ihr Blick über den Grabstein. Dann riss sie sich los und kehrte in den Forschungstrakt des Museums zurück.
Tony zündete mehrere Teelichter an und stellte sie auf den Tisch. Danach holte er die Erdnussbutter und das Vollkornbrot aus dem Regal. Sogar Geschirr hatte er, wenn auch aus Pappe. Er schälte eine Banane. Was für ein Glück, dass er die Hütte wieder gefunden hatte. Es war zwar sehr kalt, weil der Frühling noch auf sich warten ließ, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis es wärmer wurde. Bis dahin hatte er hoffentlich eine bessere Lösung gefunden, denn früher oder später würde sich sicher ein Waldarbeiter oder Förster hierher verirren.
Die Abende, und vor allem die Nächte, waren zuerst unerträglich gewesen. Er hatte sich entsetzlich verlassen gefühlt. Erst hier hatte er so richtig begriffen, was es bedeutete, dass Melanie nicht mehr da war.
Doch dann, vor einigen Abenden, war etwas geschehen. Er hatte auf einmal das Gefühl, dass er nicht allein war. Eine warme, tröstende Gegenwart hatte ihn umgeben. So, als wäre Melanie irgendwie wieder in seiner Nähe. Jedenfalls hatte ihm das Erlebnis dabei geholfen, überhaupt weiterleben zu wollen.
Außerdem hatte er wieder ein Ziel.
Es ließ ihm einfach keine Ruhe, dass Roland nicht für Melanies Tod bestraft werden sollte. Deshalb hatte er beschlossen, seinem Vater wieder nachzuspionieren. Er würde ihn noch einmal mit der jungen Frau fotografieren. Die Bilder würde er seiner Mutter und der Polizei schicken. Selbst wenn er damit vorerst nichts erreichte, konnte er Roland zumindest Ärger bereiten und ihm klarmachen, dass er niemals sicher sein würde.
Es würde seinen Eltern auch nichts nützen, dass sie ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatten. Er hatte sein Aussehen längst verändert. Noch besser wäre es natürlich, wenn er bei dieser Sache Helfer hätte. Aber wer würde sich auf so etwas einlassen?
Ralf und Franzi kamen ihm in den Sinn. Sie hatten ihn besucht, als er noch im normalen Krankenhaus lag. Er hatte nicht reagiert. Aber jetzt, im Nachhinein, wurde ihm klar, dass dieser Besuch für ihn wichtig gewesen war.
„Ob er überhaupt mitbekommt, dass wir da sind?“, hatte Franzi gefragt.
„Ich weiß nicht“, hatte Ralf geantwortet, „aber falls doch, sollten wir ihm sagen, was wir hier wollen.“ Dann hatte Ralf etwas lauter gesagt: „He, Tony, wir sind deine Freunde. Wir wissen, dass du Melanie nie etwas getan hättest.“
Ob sie wussten, dass auch Franzis Mutter, die Kommissarin, ihn besucht hatte? Und zwar mehrere Male?
„Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst“, hatte Elisabeth Scheffler zu ihm gesagt. Und hinzugefügt: „Bitte gib nicht auf.“
Und dann hatte er eines Abends den Eindruck gehabt, dass auch diese seltsame Gwanwyn an seinem Bett stand. Aber ganz sicher war er nicht.
Waren es auch diese Besuche gewesen, die ihn letztendlich weiterleben ließen?
Waren diese Menschen seine Freunde? Sollte er sich an sie wenden?
Er schmierte Erdnussbutter auf mehrere Stücke Vollkornbrot. Sein Lebensmittellager war gut gefüllt. Und er ernährte sich auch wieder gesund. Nicht mehr mit dem süßen und fetten Dreck, den er in der ersten Zeit wahllos in sich hineingestopft hatte.
Gut, dass er seine Ersparnisse hatte. Niemand hatte das Versteck gefunden.
Er hielt inne. Nein. Er konnte diese selbst ernannten Freunde nicht in seine Geschichte hineinziehen. Er konnte ihnen nicht zumuten, gegen Gesetze zu verstoßen. Besonders von einer Kriminalkommissarin konnte er das nicht erwarten. Und außerdem, eigentlich kannte er sie ja auch gar nicht richtig. Würden sie denn alle dichthalten? Nun, Ralf wahrscheinlich schon, das hatte er bewiesen. Aber Franzi? Und die Kommissarin? Nein, das war kein Weg.
Außerdem wollte er niemandem mehr nahe sein. Nie wieder.
Er musste es selbst tun. Er musste sich eben genial gut verkleiden.
Entschlossen schnitt er die Banane in Scheiben und belegte damit die Erdnussbutterbrote. Er brauchte Kraft.
„War in irgendeinem Zusammenhang einmal von einem Versteck die Rede? Einem Ort, wo man untertauchen könnte?“
Gwanwyn hatte Franzi und Ralf zu sich eingeladen und konnte direkt sehen, wie sie angestrengt nachdachten. Ralf hatte sich auf dem Sofa zurückgelehnt und die Arme im Nacken verschränkt.
Plötzlich richtete er sich wieder auf.
„Ist dir etwas eingefallen?“
„Wir haben letztes Jahr mit der Klasse mal eine Wanderung gemacht. Unser Biolehrer hatte einen Förster engagiert, der uns alles über das Ökosystem Wald erzählen sollte.“
„Ja, stimmt“, unterbrach ihn Franzi und sah Gwanwyn an. „Dauernd mussten wir uns in die Büsche schlagen und nach Tieren oder Pflanzen Ausschau halten.“
„Genau. Ich war mit Tony besonders weit gegangen. Und da haben wir eine Holzhütte entdeckt. Sie war völlig heruntergekommen. Man konnte sehen, dass sie schon lange von niemandem mehr benutzt wurde.“
„Bingo“, sagte Gwanwyn feierlich, „dort ist er, wetten?“
Ralf schüttelte den Kopf. „In so einer Bruchbude? Außerdem würde ich da nie wieder hinfinden. Und Tony auch nicht. Da bin ich mir ganz sicher. Ich weiß nicht einmal mehr, wo genau wir bei diesem Ausflug überhaupt waren. Wir sind ewig mit dem Bus durch die Landschaft gefahren.“
„Wir fragen einfach den Biolehrer“, sagte Franzi.
Ralf runzelte die Stirn. Dann nickte er.
Es gab kaum noch Internetcafés. In der Nähe eines Asylbewerberheims hatte er endlich eines aufgetrieben. Mit dunkler Schminke sorgte er dafür, dass er nicht auffiel. So konnte er in aller Ruhe recherchieren. Mit „professionelles beschatten von personen“ hatte er begonnen. Aber die Ausbeute war mager. Erst als er zu englischen Suchwörtern überging, bekam er brauchbare Informationen. „Surveillance techniques”, “covert observation”, “scouting”, „clandestine activities“, „reconnaissance methods and techniques“, „tailing and disguising“, “espionage techniques.” Wow, wow, wow.
Er las gebannt und druckte alles aus.
Es wurde bereits dunkel, als er mit seinem geklauten Fahrrad durch den Wald zur Hütte fuhr. Er musste sich beeilen. Wenn es ganz dunkel war, würde er den Weg nie finden, auch wenn er ihn in den letzten Wochen schon einige Male zurückgelegt hatte.
Er schaffte es im letzten Moment. Als er die Tür aufstieß, war es bereits Nacht.
Drinnen zündete er gerade seine Teelichter an, als eine Stimme sagte: „Bitte erschrick nicht, Tony.“
In der Tür stand Gwanwyn.
Sie hob beschwichtigend die Hände.
„Ich bin als Freundin hier. Und ich soll dich von Franzi und Ralf grüßen.“
Da er schwieg, fuhr sie fort: „Niemand wird erfahren, dass du hier bist. Du kannst dich darauf verlassen.“
Ihm wurde bewusst, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
„Wir müssen reden, Tony. Darf ich mich setzen?“
Er atmete aus.
„Ich habe dir auch etwas Obst und Kekse mitgebracht.“ Sie deutete auf eine Plastiktüte.
„Ich bin versorgt.“
„Bitte, Tony. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“
Widerstrebend bot er ihr einen Hocker an.
Es hatte Stunden gedauert, bis sie allmählich zu ihm durchgedrungen war. Als sie ihn am nächsten Morgen bei Tageslicht sah, erschrak sie. Er war bleich, mit tiefen, schwarzen Ringen unter den Augen. Und die kamen nicht von der Schminke. Am meisten erschrak sie über seinen Gesichtsausdruck. Seine maskenhafte Härte.
Für einen Moment zweifelte Gwanwyn, ob ihr Plan eine gute Idee war. Aber dann dachte sie an das Medaillon, und sie half ihm, seine Spuren zu beseitigen. Seine Sachen packten sie auf das Fahrrad. Nach über einer Stunde erreichten sie den Waldparkplatz, auf dem sie ihren Leihwagen stehen hatte. Tony warf das Fahrrad ins Gebüsch, und sie fuhren los.
Sie war bisher nicht wirklich an ihn herangekommen.
Aber irgendwann hatte er gefragt: „Hast du mich damals im Krankenhaus besucht?“
„Ja, ich war da. Und ich weiß, dass Ralf und Franzi und Franzis Mutter auch da waren.“
Danach hatte Tony ihr erklärt, was er vorhatte. Sie beschwor ihn, sich helfen zu lassen. So habe er doch viel mehr Möglichkeiten, seinem Vater das Leben schwer zu machen.
„Aber die Kriminalkommissarin darf nichts davon erfahren“, hatte er schließlich verlangt.
„Warum nicht?“
„Ich möchte nicht, dass sie wegen mir in einen Gewissenskonflikt gerät.“
„Na schön. Dann weihen wir sie eben nicht ein.“
„Aber wird Franzi es schaffen, ihrer Mutter nichts zu sagen?“
„Ganz sicher. Sie hat ihr auch nicht gesagt, dass sie dich im Krankenhaus besucht hat. Sie hat es nur mir erzählt.“
Danach hatte er lange geschwiegen. Sie wusste, dass er immer noch mit sich rang. Es musste da noch einen Punkt geben. Schließlich war Tony damit herausgerückt: „Ich muss für mich sein, wenn ich bei dir einziehe. Wir machen nicht auf Familie.“
„In Ordnung.“
Gwanwyn sah zum Beifahrersitz hinüber. Je mehr sie sich Köln näherten, desto verkrampfter saß Tony da. Doch auch etwas anderes fiel ihr auf einmal an ihm auf: eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jungen Soldaten, dem sie vor fast 25 Jahren das Medaillon entrissen hatte.
Oder bildete sie sich das nur ein?
Sie deutete auf das Campingbett in der Abstellkammer.
„Es ist zwar eng, aber hier bist du für dich.“
Er zuckte nur mit den Achseln. Und wieder fragte Gwanwyn sich, ob sie das Richtige tat. Sollte sie nicht offen mit ihm sprechen? Nein. Ausgeschlossen. Er hätte sie für verrückt gehalten und wäre wieder untergetaucht.
Während Tony sich einrichtete, bereitete sie das Mittagessen vor.
Ihre Gedanken waren woanders.
„Ich kann das nicht annehmen“, stammelt der Reitersoldat.
Aber der Druide hält ihm auf seiner ausgestreckten Hand weiter das Medaillon hin.
„Du würdest mir damit eine große Freude machen.“
Zögernd nimmt es der Soldat und zieht es über seinen Kopf.
Der Druide sieht ihm in die Augen.
„Hör zu, Thraker. Dieses Medaillon wird einst den tiefsten Wunsch deiner Seele erfüllen. Aber habe Geduld. Denn die Götter lassen sich Zeit und gehen verschlungene Wege.“
Gwanwyn warf Wiener Würstchen in den Eintopf. Was mochte der junge Thraker sich wohl aus ganzer Seele gewünscht haben? Und nützte es ihm überhaupt noch etwas, wenn dieser Wunsch erst ein Vierteljahrhundert später erfüllt wurde?
Und selbst wenn. Wie sollte das geschehen?
Sie berührte das Medaillon und horchte in sich hinein.
Für einen Moment schien es, als wollte Franzi Tony umarmen, aber weil er zurückwich, stand sie unschlüssig da.
Ralf trat schnell vor und sagte einfach: „Hallo.“
„Hallo“, erwiderte Tony.
Sie setzten sich im Kreis auf den Wohnzimmerteppich, und während Tony schwieg, berichtete Gwanwyn den beiden, was er vorhatte.
Ralf reagierte sofort: „Zuerst müssen wir herausfinden, ob die Freundin deines Vaters … äh … ich meine Rolands, noch in der alten Wohnung ist.“
„Da wohnt jetzt jemand anders“, sagte Tony, „Ich habe schon nachgesehen. Aber fragen konnte ich natürlich nicht. Das wäre zu auffällig gewesen.“
„Wir brauchen also ein Auto, um Roland zu beschatten.“
Tony nickte. „Aber ein Auto, das nicht auffällt, und mit einer Person am Steuer, die auch nicht auffällt.“
„Das heißt, einer erwachsenen und Roland unbekannten Person“, ergänzte Ralf.
Jetzt sahen alle zu Gwanwyn hin. Sie nickte.
„Kein Problem.“
Franzi wandte sich an Tony: „Könnte dein Großvater dir denn nicht helfen?“
Tony gab ein undefinierbares Geräusch von sich. „Er findet Roland toll, gerade weil er weiß, dass er ein Schläger ist. Er ist selbst einer. Meine Mutter und ihre Geschwister wurden ihre ganze Kindheit hindurch von ihm misshandelt. Melanie und ich hatten nie einen Draht zu ihm.“
Für einen Moment trat Stille ein. Es war schwer, an Tonys Miene abzulesen, was in ihm vorging. Gwanwyn kam sie jedoch nicht mehr ganz so versteinert vor.
Nach einer Weile räusperte sich Tony. „Hier sind übrigens Infos über Beschattungstechniken.“
Er reichte ihnen eine Mappe. Es waren englischsprachige Artikel aus dem Internet.
„Du verstehst das alles?“, fragte Gwanwyn überrascht.
„Klar“, antwortete Franzi anstelle von Tony.
Und Ralf fügte hinzu, „Tony ist ein Sprachengenie, aber nicht nur in Englisch. Auch in Latein.“
Er lag auf dem Campingbett und las. Immer wenn er Roland nicht hinterher spionierte, arbeitete er sich durch die Bibliothek von Gwanwyns Vermieterin.
Gwanwyn hatte die neue Adresse der Freundin in wenigen Tagen herausgefunden. Dann hatte er weiter gemacht. Mit Franzis und Ralfs Hilfe schlüpfte er dabei dauernd in neue Rollen. Mal war er eine Musikschülerin mit Geigenkasten, mal ein älterer Mann mit Stock, mal eine Hausfrau mit einem Einkaufstrolley.
Er musste auch keine neue Kamera stehlen, denn Gwanwyn hatte ihm ihre gegeben. Und als er andeutete, dass er ein Nachtfernglas gebrauchen könnte, hatte Gwanwyn ihn gebeten, eines im Internet auszusuchen.
Tony fühlte sich ein bisschen schuldig, weil er ihr nicht verriet, dass er jede Menge Geld besaß. Aber das war besser so, er wusste schließlich nicht, wofür er es noch brauchen würde.
Jemand schloss die Wohnungstür auf. Kurz danach betrat Gwanwyn mit einem Päckchen unter dem Arm seine Kammer und setzte sich auf einen Hocker.
„Tony“, sagte sie feierlich und sah ihm dabei ungewohnt ernst in die Augen. „Bevor ich dir das Nachtfernglas gebe, habe ich noch eine Bitte an dich.“
„Okay, schieß los.“ Was hatte sie denn?
Sie zog ein bronzenes Medaillon aus ihrem Pullover.
„Könntest du mir einen Gefallen tun und das hier tragen?“ „Klar, kein Problem.“
Gwanwyn lächelte. „Danke.“
Tony betrachtete es interessiert. Auf der einen Seite war ein Ornament, das wie ein komplizierter, verschlungener Knoten aussah. Auf der Rückseite waren Buchstaben eingeritzt.
„T.F.B.? Was bedeutet das?“
„Es sind die Anfangsbuchstaben eines Namens.“
„Das Ornament sieht keltisch aus, aber das Ding ist neu. Es kann also nicht ausgegraben worden sein.“
„Du überraschst mich immer wieder, Tony“, sagte Gwanwyn anerkennend. „Ja, es ist ein altes keltisches Amulett, und es ist gleichzeitig neu. Mehr kann ich dir dazu leider nicht sagen.“
Alt und gleichzeitig neu? Gwanwyn war manchmal wirklich ein bisschen seltsam.
Er zog die Kette mit dem Medaillon über den Kopf.
„Aber sehen muss man es nicht, oder?“
„Nein, du kannst es ruhig verstecken.“
„Gut.“ Er stopfte das Medaillon in seinen Kragen.
Sie schien erleichtert und gab ihm das Päckchen.
Als sie am nächsten Abend nach Hause kam, packte er das Nachtfernglas gerade in seinen Rucksack. Zuvor hatte er ihn komplett geleert. Er war überrascht gewesen, als er sah, was er seit seiner Flucht aus der Psychiatrie so alles zusammengesammelt hatte: Eine Taschenlampe, einen Laserpointer, Heftpflaster, mehrere Kugelschreiber, ein Schreibheft, Schmerztabletten, ein Feuerzeug, einen solarbetriebenen Taschenrechner, Kaugummi, Schokolade und natürlich sein Taschenmesser. Dazu kam weiterer Kleinkram in den Seitentaschen. Was man eben so brauchte. Er konnte auf nichts davon verzichten.
„Ist der Platz, den du gefunden hast, auch wirklich sicher?“, fragte Gwanwyn.
„Ja. Es ist der Speicher eines Mehrfamilienhauses in der Nähe.“
„Und wie kommst du da hinein?“
„Ich habe einen Weg gefunden.“
„Pass gut auf dich auf, Tony.“
„Keine Sorge.“
Sie aßen gemeinsam zu Abend. Danach schmierte Gwanwyn ihm noch Leberwurstbrote und steckte sie in eine Papiertüte. Sie reichte sie ihm zusammen mit einer großen Plastikflasche voll Apfelschorle. Er packte alles ein. Dann zog er seinen Anorak an, setzte den schweren Rucksack auf und verließ die Wohnung.
Zuerst fuhr er mit der S-Bahn nach Norden. Danach folgte er zu Fuß einer Hauptverkehrsstraße, auf der trotz des späten Abends noch viele Autos unterwegs waren. Wahrscheinlich war es wegen des morgigen Feiertags. Der erste Mai. Wahnsinn. Wo war der April geblieben?
Tony bog in eine Seitenstraße ein und lief weiter. Er war jetzt in einem vornehmeren Viertel. Die Häuser lagen weit auseinander, mit viel Grün dazwischen. Trotz seines schweren Rucksacks ging er lautlos und schnell. Er hoffte, dass er so am wenigsten auffiel.
Er erreichte den vierstöckigen Wohnblock und schlüpfte durch eine Lücke im Zaun in den hinteren Hof. An den Mülltonnen vorbei ging er zur Kellertür und schloss sie auf. Bei einem seiner früheren Erkundungsgänge war er im Gras auf einen Schlüsselbund getreten. Ein glücklicher Zufall. Er betrachtete ihn als gutes Omen. Die Schlüssel hatte er alle nachmachen lassen und danach im Haus auf die Treppe gelegt. Gott sei Dank war niemand auf die Idee gekommen, deswegen alle Schlösser auszutauschen.
Leise stieg Tony die Treppe hinauf. Oben betrat er einen Speicherraum, in dem einige Möbelstücke gelagert wurden, und schloss hinter sich ab.
Er trug den kleinen viereckigen Tisch zum Dachfenster und stellte einen Korbstuhl darauf. Als er saß, öffnete er das Dachfenster einen Spalt breit und nahm das Nachtfernglas aus dem Rucksack. Er erschrak, als er Roland plötzlich direkt vor sich sah. Er war so nah, dass Tony für einen Moment fürchtete, sein Vater könnte seine Gegenwart spüren. Aber das war natürlich Unsinn.
Ein leerer Babykorb stand neben dem Sofa, und zwischen Roland und der jungen Mutter war die Beziehung nicht mehr so rosig wie noch im Dezember. Roland wirkte genervt. Die junge Frau legte die Arme um seinen Hals. Er stieß sie weg. Sie war klug genug, es nicht noch einmal zu versuchen, sondern wich einige Schritte zurück und redete besänftigend auf ihn ein. Seinem Gesichtsausdruck nach brüllte er sie an. Sie lief aus dem Zimmer. Roland griff in seine Hosentasche und holte sein Handy hervor. Aufmerksam hörte er zu und drehte sich dabei weg.
Irgendetwas an seiner Haltung wirkte beunruhigend.
Roland steckte das Handy wieder ein und schien etwas zu rufen. Er zog seine Jacke an. Die junge Frau kehrte mit dem Baby auf dem Arm zurück. Roland sagte etwas zu ihr. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Er ließ es geschehen, küsste sie aber nicht zurück. Auch das Baby küsste er nicht; er ging einfach.
Tony richtete das Fernglas auf den Eingangsbereich. Roland kam in Begleitung eines muskelbepackten, jüngeren Mannes heraus, der in ein Funksprechgerät sprach. Mit dem Chauffeur, der im Wagen wartete, sprach er jedoch nicht.
Es gab also noch einen weiteren Bodyguard. Aber wo war der?
Doch so gründlich Tony die Umgebung auch absuchte, er konnte niemanden entdecken. Roland und der muskelbepackte Mann stiegen in den Wagen, und der Chauffeur fuhr los.
Danach beobachtete Tony noch eine Weile die junge Frau. Sie sah sehr unglücklich aus. Und er hatte den Eindruck, als ob es nicht deshalb war, weil Roland gegangen war.
Tony war sicher, dass Roland heute Abend nicht wieder kommen würde, und so packte er seine Sachen zusammen und stellte den Tisch und die Stühle an ihre Plätze zurück.
Gerade als er die Kellertür wieder hinter sich abgeschlossen hatte, hörte er ein Geräusch. Blitzschnell drehte er sich um, sah aber nur noch eine große, kräftige Gestalt mit einem stockähnlichen Gegenstand. Tony duckte sich weg, und der Schlag traf ihn seitlich auf den Rücken. Er war mit solcher Wucht geführt worden, dass er auf sein Gesicht fiel und keine Luft mehr bekam. Der nächste Schlag würde tödlich sein. Aber Tony spürte ihn nicht mehr. Es war nur noch dunkel, und er fiel ins Bodenlose.
So also war es zu sterben. Wo war der Tunnel mit dem hellen Licht am Ende, auf das man angeblich zuschwebte?