II
Köln
Tony spürte nichts mehr. Gleichzeitig war es still geworden. So still, dass er selbst die Schläge und Tritte, die sie austeilten oder einsteckten, nicht mehr hören konnte. Er schwang sich hinauf. Jetzt schwebte er über dem Geschehen und nahm es wie einen Stummfilm wahr. Das gelang ihm in letzter Zeit immer öfter. Seine Trainer und Kampfgegner fürchteten ihn deswegen, denn er traf in diesem Zustand präziser denn je. Doch es funktionierte auch umgekehrt: Sogar wenn er so stark getroffen war, dass er zu Boden ging, schienen ihn die Schläge seiner Gegner nicht wirklich zu erreichen.
Und das war gut so.
Denn gegen Schläge konnte man nichts tun. Das Leben teilte sie aus. Vor allem sogenannte Väter teilten sie aus. Aber ob man sich davon beeindrucken ließ, das hatte man sehr wohl in der Hand.
Als er noch kleiner war und sich nicht zur Wehr setzen konnte, war die Gefühllosigkeit sein erster Schutz gewesen. Während die Schläge auf ihn einprasselten, stellte er sich vor, dass er seinen Körper verließ und in eine dunkle Höhle hinabkletterte. Dort traf er auf ein Ungeheuer, das er besiegen musste. Noch war es ihm nicht gelungen, obwohl er schon oft in der Höhle war. Das Ungeheuer lebte munter weiter. Aber jedes Mal, wenn er hinabstieg, versuchte er es aufs Neue.
Im Lauf der Zeit hatte er gelernt, einzuschätzen, wann die Schläge kamen. Aber immer funktionierte das nicht, denn sein Vater Roland brauchte keinen vernünftigen Grund, um auszurasten. Es war mit ihm wie mit einer riesigen Klapperschlange, einer besonders wachen und bösen Schlange. Man musste sie immerzu im Auge behalten, sich jede Bewegung genau überlegen und ihr vor allem nie den Rücken zukehren. Wie bei dem Ungeheuer in der Höhle.
Dann hatte er seinen ersten Kung-Fu-Film gesehen. Mit offenem Mund und immer heftiger pochendem Herzen hatte er vor dem Fernseher gesessen. Es war eine Offenbarung gewesen. Da gab es eine Kampfkunst, bei der man nicht groß und stark sein musste und auch keine teuren Waffen brauchte, nein, die Hände und Füße, und natürlich der Kopf, das heißt das, was drinnen war, der Verstand, waren dazu nötig. Denn diese chinesischen Kämpfer, die sich gegen übermächtige Gegner zur Wehr setzten, waren auch verdammt listig. Und er hatte Verstand. Das wusste er.
Seine erste List hatte darin bestanden, sich vor zwei Jahren unter falschem Namen mit einer gefälschten Erlaubnis seiner angeblichen Eltern in diesem Kampfsportclub anzumelden. Und jetzt war er einer der besten.
Seine Gegner wurden immer älter und besser. Und heute kämpfte er gegen Uwe. Er war der allerbeste. Und er war schon achtzehn. Ganze fünf Jahre älter.
Da, bumpf, noch ein Schlag. Uwe sackte zusammen.
„Es ist gut, Siggi!“, brüllte der Trainer Shifu Reinhold.
Siggi. Was für ein saublöder Name. Aber er war selbst schuld. Schließlich war es seine Entscheidung gewesen, sich hier als Siegfried Schwarz anzumelden. Tony trat einige Schritte zurück und verneigte sich. Es war immer noch still in der Halle. Und erst jetzt bemerkte er, dass niemand mehr trainierte. Alle hatten den Kampf beobachtet und starrten jetzt stumm und entsetzt auf ihn und den sich am Boden krümmenden Uwe.
Tony peilte die Tür zu den Umkleidekabinen an und floh. Respektvoll bildeten seine Zuschauer ein Spalier. Es war schmal. Und es war unangenehm, hindurchgehen zu müssen. Von der Situation eines Kampfes abgesehen, hasste er es, in zu engen Körperkontakt mit anderen zu kommen. Er setzte seinen grimmigsten Gesichtsausdruck auf sein sowieso schon grimmiges Gesicht, und sofort wichen sie zurück.
Nur einer hatte sich von Anfang an einige Meter entfernt gehalten, denn er kannte ihn besser als alle anderen. Das war sein Klassenkamerad Ralf. Als ihre Blicke sich jetzt trafen, nickte Ralf lediglich anerkennend. Das war auszuhalten.
Es war für Tony ein Schock gewesen, ihn hier vorzufinden, den einzigen Menschen, der wusste, dass er Tony Fuhrmann und nicht Siegfried Schwarz hieß. Doch Ralf hielt einfach die Klappe.
Tony betrat den Umkleideraum. Leer. Erleichtert lehnte er sich an die Wand. Und jetzt kam die Euphorie. Es hatte Uwe besiegt. Wow. Dann atmete er einige Male langsam ein und aus, bis das Glücksgefühl verebbte und er sich wieder nüchtern fühlte. Gefühle, auch schöne, gerade die schönen, waren gefährlich. Sie konnten überheblich machen, und dann war man weniger wachsam.
Er dachte an den Tag, an dem er seinem Vater Roland zum ersten Mal Schmerzen zugefügt hatte. Das war erst wenige Wochen her, und es war in der Garage gewesen. Tony hatte gerade sein Fahrrad geputzt, als plötzlich ein Schatten über ihn gefallen war.
„Ich habe dich schon mehrmals gerufen.“
Das stimmte nicht. Er hätte es gehört. Deshalb schwieg er und putzte weiter. Aber aus den Augenwinkeln behielt er Roland fest im Blick. Der kam näher.
„Das letzte Mal vor zehn Minuten.“
Tony gab noch immer keine Antwort. Da packte Roland ihn am Oberarm und zerrte ihn hoch. Sie sahen sich in die Augen. Schon oft hatte Tony sich anhören müssen, dass sein Vater sehr gut aussah. Aber niemand, der nicht sein Kind oder seine Frau war, wusste, dass er in Wirklichkeit ein brutaler Schläger war. Im Gegenteil, seine Familie wurde dafür beneidet, dass sie mit ihm zusammenleben durfte. Auch dass er Charme habe, hieß es immer. Er könne jeden um den Finger wickeln. Außerdem war er groß. Mit seinen dreizehn Jahren reichte Tony ihm gerade mal bis an die Schultern. Und sein Vater war gut in Form. Aber er betrieb keinen Kampfsport. Er spielte lediglich Tennis.
Jetzt hob er die Hand und holte aus. Aber statt Tony ins Gesicht zu treffen, prallte seine Hand auf eine Eisenstange. So jedenfalls musste es sich angefühlt haben, als Tony seine Kung-Fu-Faust im genau richtigen Winkel und mit einer ungeheuren Kraft, die er aus dem Bauch herausholte, dem Schlägerarm seines Vaters entgegensetzte.
Nie würde er Rolands Aufschrei vergessen. Überrascht und regelrecht fassungslos hatte er seinen schmerzenden Arm gehalten und seinen Sohn angestarrt. Gerne hätte Tony gelacht, doch er wusste, die Schlange würde jetzt noch gefährlicher werden. Er musste auf der Hut sein und sich keine Blöße geben, sich nur ja nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Nein, er musste eins draufsetzen. Roland noch mehr Angst einjagen. Deshalb verzog Tony keine Miene. Mit der kältesten Kälte, zu der er fähig war, starrte er zurück.
Dann sah er für einen kurzen Moment die Unsicherheit in Rolands Augen. Danach kam die Wut. Aber das hatte Tony vorausgesehen. Sein Vater stürzte sich auf ihn, und wieder konterte Tony gezielt. Er duckte sich weg und rammte seinem Vater den Ellenbogen in die Nieren. Roland krümmte sich zusammen und musste sich an einem Metallregal festhalten.
Aus ein paar Schritten Entfernung, wieder im breitbeinigen Ausfallschritt der Kampfposition, betrachtete Tony ihn ohne jede Regung. Roland richtete sich langsam auf.
„Dafür wirst du büßen“, sagte er ruhig. Dann ging er.
Tony wusste, dass er von jetzt an noch besser aufpassen musste. Jede Sekunde seines Lebens. Tag und Nacht. Und trotzdem war die Welt seither anders geworden. Gefährlicher, sicher, aber auch besser. Eindeutig. Er war jedenfalls gewappnet. Er würde diesen Krieg gewinnen.
Konnte er es riskieren, sich kurz unter die Dusche zu stellen? Er öffnete die Tür einen Spalt und blickte in die Halle. Uwe saß jetzt auf einer Bank und versuchte immer noch zu begreifen, was geschehen war. Er schien jedoch in Ordnung zu sein. Gut. Tony schätzte, dass in den nächsten drei Minuten wohl niemand duschen würde. Nachdem er die Tür wieder zugemacht hatte, zog er sich blitzschnell aus und lief in den Duschraum. Als er fertig war und mit dem Handtuch um die Hüften wieder in den Umkleideraum kam, vermied er es, in den großen Spiegel zu sehen, der dort hing. Selbst heute, wo er sich stärker denn je fühlte, hätte er den Anblick der vielen Narben auf seinem Körper nicht ertragen. Mit Lichtgeschwindigkeit schlüpfte er in seine Straßenkleider, stopfte die Sportsachen und das Handtuch mit dem Duschgel in seinen Rucksack und verließ den Club.
Eine halbe Stunde später stieg er aus der U-Bahn und fuhr auf der Rolltreppe nach oben. Er senkte den Kopf, denn der Wind war eiskalt, und Schneeflocken wirbelten durch die Luft.
An einer Seitenstraße bog er rechts ab und betrat den Hof eines einstöckigen Gebäudes, dessen Fenster mit bunten Scherenschnitten verziert waren. An verlassenen Spielgeräten vorbei lief er zum Eingang. Hinter einer Glasfront näherte sich ein kleines Mädchen, das mit schnellen Bewegungen die Räder seines Rollstuhls anschob.
„Ich habe dich durch das Fenster gesehen. Du bist früh dran heute.“
Sie streckte ihm ihre schmalen Arme entgegen, und Tony drückte sie fest an sich.
„Melanie, stell dir vor, ich habe heute Uwe vernichtet.“
„Boah!“ Dann hielt sie erschrocken die Hand vor den Mund. „Aber nicht richtig, oder?“
„Natürlich nicht, es geht ihm gut.“
Er begleitete sie den Gang hinunter zu einem großen, hellen Raum. Mehrere Betreuer kümmerten sich dort um die anderen Kinder mit Behinderungen.
„Niemand kann uns etwas anhaben. Wir sind stark“, sagte er kurz vor der Schwelle.
„Du bist stark“, verbesserte sie ihn. „Aber das reicht auch, denn du passt auf mich mit auf.“
In ihrer Stimme lag grenzenloses Vertrauen in ihren großen Bruder. Und wie immer wurde ihm dabei warm ums Herz.
Im Raum lächelten ihn alle an. Einige der Kinder winkten ihm sogar zu, und er winkte zurück.
„Du bist früh heute. Nimmst du Melanie gleich mit oder bleibst du noch ein bisschen?“, fragte die Betreuerin Irmtraud.
„Ich bleibe noch.“
„Schön.“
Nicht nur Irmtraud freute sich, auch die anderen. Ein Junge, dessen wie Krallen gekrümmte Hände dauernd in Bewegung waren, versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte tiefrote Kratzspuren im Gesicht. Zwischen zischenden und ächzenden Lauten brachte er hervor.
„Ony, ie ie ie u mmmir ww wa …“
„Was vor?“, fragte Tony.
Der Junge nickte.
„Klar lese ich dir was vor.“
Irmtraud brachte ein Buch, und Tony setzte sich neben den Jungen. Melanie war wieder an ihren Tisch zurückgekehrt und malte ein Bild fertig.
Als sie sich eine Stunde später ihrem Zuhause näherten, schneite es heftig. Eine Zeitlang hatte Melanie ihr Gesicht in den Himmel gehalten, damit die Schneeflocken darauf schmelzen konnten. Jetzt saß sie kreidebleich und verkrampft in ihrem Rollstuhl.
„Ist dir kalt?“, fragte er besorgt.
„Nein.“ Und leise fügte sie hinzu. „Nicht von außen.“
Tony verstand sie. Auch er spürte einen eisigen Ring, der sich um seinen Brustkorb zusammenzog. Immer fester, je näher sie kamen. Ein fast unerträgliches Gefühl von Verlassenheit machte sich in ihm breit, und er sah sich und Melanie wie Gespenster auf das schmiedeeiserne Tor zugehen.
Er riss sich zusammen und drückte auf den Klingelknopf direkt unter dem Auge der Kamera. Er machte sich nicht die Mühe hinaufzusehen. Der Sehwinkel war weit genug, um ihn und Melanie komplett zu zeigen. Es surrte, und das Tor glitt majestätisch auf. Er schob Melanie in die Auffahrt, auf die riesige Villa zu.
Im zweiten Stock, auf dem Weg zu Melanies Zimmer, kamen sie am sogenannten Tageszimmer ihrer Mutter vorbei.
„Wir sind wieder da“, rief Melanie zu der verschlossenen Tür.
Nichts geschah. Doch sie wussten, dass ihre Mutter dort drinnen war, vor einem riesigen begehbaren Kleiderschrank, und dass sie sich wie jeden Tag zigmal umziehen würde, bevor Roland nach Hause kam. Sie konnte sich jetzt auf nichts anderes konzentrieren.
Doch das Wunder geschah. Die Tür ging auf und ihre Mutter kam heraus. Sie war bereits sorgfältig geschminkt, und selbst Tony musste zugeben, dass sie sehr schön war. Sie drehte sich um die eigene Achse.
„Wie sehe ich aus?“
Melanie strahlte. „Toll, Mama.“
Ihre Mutter wartete darauf, dass auch er etwas sagte, denn seine Meinung war ihr aus einem unerfindlichen Grund viel wichtiger. Aber Tony schwieg und schob Melanie wortlos weiter. Ihre Mutter folgte ihnen. Das machte ihn noch wütender. Sie konnte einfach nicht damit umgehen, wenn er nicht mit ihr sprach.
„Wie war es in der Schule, Tony?“, fragte sie.
Und obwohl er sich schon hundertmal vorgenommen hatte, ihr Spiel nicht mitzumachen, fuhr es wieder aus ihm heraus.
„Das interessiert dich doch nicht wirklich. Geh dich lieber noch mal umziehen. Diese Bluse sitzt nicht richtig. Das wird Roland nicht gefallen.“
„Nenn ihn nicht immer Roland. Er ist dein Vater.“
Er ärgerte sich über sich selbst. Damit das Ganze nicht wieder in eines dieser sinnlosen Streitgespräche ausartete, zog er sich zurück.
Bevor er seine Zimmertür zukickte, konnte er noch hören, wie seine Mutter Melanie fragte: „Was meinst du zu der Bluse?“
Gleich danach eilte sie wieder in ihr Tageszimmer. In dem verzweifelten Versuch, sich noch attraktiver zu machen. Für Roland.
Gott, noch fünf Jahre, noch scheißverdammte fünf ganze Jahre, bis er achtzehn und volljährig war. Und dann noch einmal drei Jahre, bis Melanie volljährig war. Und wieder kam, wie jeden Tag, der Gedanke an eine Flucht. Eine Flucht zusammen mit Melanie.
Die Betreuerin Irmtraud kam zur selben Zeit wie ihr Sohn Ralf vor dem Eingang des mehrstöckigen Hauses an, in dem sie zur Miete wohnten. Sie stiegen die Treppen hinauf. Ralf, der gerade aus dem Training kam, sprang leichtfüßig nach oben, seine Mutter war sofort aus der Puste.
„Mama, du solltest Sport treiben.“
„Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen.“
„Das ist die falsche Art von Bewegung.“
„Danke.“
„Natürlich musst du auch weniger essen.“
„Das versuche ich doch.“
„Und dann futterst du wieder eine ganze Tafel Schokolade.“
„Ich brauche auch ein bisschen Freude im Leben.“
„Dir fehlt ein Mann.“
Jetzt reichte es Irmtraud. „Das ganz bestimmt nicht.“
„Doch.“
„Du redest Unsinn, mein Sohn. Subject closed. Los, schließ die Tür auf.“
Ralf holte seinen Schlüssel aus der Hosentasche. „Tony hat heute beim Training Uwe besiegt.“
„Da war er sicher ganz schön stolz.“
Ralf schloss auf, und sie gingen hinein. „Keine Ahnung. Man weiß ja nie, was in ihm vorgeht. Außerdem war er gleich danach weg.“
„Ach, deshalb ist er heute früher gekommen.“
„Redet er bei euch eigentlich? Ich meine, antwortet er auf Fragen?“
Irmtraud sah ihren Sohn verwundert an. „Natürlich. Ich finde ihn sehr nett. Er ist außergewöhnlich erwachsen für sein Alter, sehr einfühlsam. Alle mögen ihn und freuen sich, wenn er etwas länger bleibt.“
Ralf konnte es nicht fassen. „Beim Kampfsport verstehe ich sein Verhalten ja noch. Er will einfach richtig gut werden und keine Zeit mit Quatschen verschwenden. Aber in der Schule ist es echt lästig. Nur Franzi hat so eine Art Beziehung zu ihm.“
Er begann, den Tisch zu decken. Irmtraud warf mehrere Weißwürste in einen Topf mit heißem Wasser.
„Franziska ist mit Tony befreundet?“, fragte sie.
„Nein, das nicht direkt. Er ist mit niemandem befreundet.“
Ralf nahm den süßen Senf aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Tisch.
„Statt ihm Fragen zu stellen, die er sowieso nicht beantwortet, wendet sie sich immer wieder mit Bemerkungen an ihn, auf die man nichts sagen muss. Das lässt er sich gefallen. So sieht es dann aus, als kämen sie prima miteinander klar.“
„Das heißt, sie bezieht ihn einfach mit ein?“
„Genau.“
„Das ist ziemlich klug.“
„Sie will ja auch mal Psychologin werden.“
„Nicht Archäologin wie ihr Vater?“
„Auf keinen Fall. Sie wird Polizeipsychologin. Wusstest du, dass ihre Mutter Kommissarin bei der Kriminalpolizei ist?“
„Nein, das wusste ich nicht. Franziska hat wirklich interessante Eltern.“
„Du könntest dir einen Polizisten suchen.“
„Vergiss es.“
„Oder einen Archäologen. Oh, da fällt mir noch was ein. Bei Franzis Vater im Museum arbeitet jetzt eine Frau aus Wales als Researcherin. Die hat einen irren Namen.“
„Wie heißt sie denn?“
„Gwanwyn. Das ist walisisches Keltisch. Toll nicht?“
„Catherine Zeta-Jones ist auch Waliserin.“
„Wer?“
Irmtraud seufzte. „Die Schauspielerin, die in Zorro die Tochter spielt.“
„Die? Echt?“
Ralf schüttete die frischen Brezeln, die seine Mutter gekauft hatte, in ein Körbchen und stellte es auf den Tisch. Mit seinen Gedanken war er jedoch immer noch bei seinem seltsamen Klassenkameraden.
„Hast du Tonys Eltern mal kennen gelernt?“
„Ja, bei der Theateraufführung waren sie da.“
„Wie sind die so?“
„Sehr nett. Vor allem von seinem Vater waren alle sehr angetan.“
„Wieso ist Tony dann so zu?“
„Weißt du, ich mochte seinen Vater trotzdem nicht. Ich glaube, der spielt nur etwas vor und ist in Wirklichkeit ganz anders.“
Ralf blieb mit dem Mineralwasser in der Hand stehen und sah seine Mutter überrascht an. „Wie kommst du darauf?“
„Weil Melanie panische Angst vor ihm hat.“
„Und Tony?“
Sie setzten sich an den Tisch.
„Keine Ahnung. Ich konnte nicht so darauf achten.“
„Hm.“ Ralf kaute nachdenklich. Er hätte gerne gewusst, warum Tony sich unter einem falschen Namen im Club angemeldet hatte. Doch das hatte er nicht einmal seiner Mutter erzählt.
Melanie und Tony waren mit dem Abendessen fertig. Ihre Mutter war gerade hereingekommen, aß jedoch nichts. Sie wollte mit Roland essen, egal, wie spät er nach Hause kam. Für ihn und die Mutter war im Esszimmer immer alles fein gedeckt - obwohl er meist schon gegessen hatte, wenn er kam. Dann aß ihre Mutter fast gar nichts mehr. Sie wollte schlank bleiben.
Plötzlich hörten sie, wie die Haustür zuschlug und Rolands Schritte sich der Küche näherten. Ihre Mutter sprang auf.
Tony lächelte Melanie aufmunternd an und sah, dass auf ihrer Kleidung und dem Fußboden um sie herum Nahrungsreste lagen. Sie konnte nichts dafür, es wurde immer schwieriger für sie, die Bewegungen ihrer Hände zu kontrollieren. Er sprang auf, schnappte einen Lappen und fegte damit zumindest die Reste von Melanies Pullover. Frau Zenker, die Haushaltshilfe, strich sich über die Haare und die makellose Schürze.
Roland erschien im Türrahmen. Sein dunkelblauer Geschäftsanzug saß perfekt und ließ ihn noch größer erscheinen.
Wie immer versetzte ihm der Anblick seines Vaters einen Stich, denn er wusste, dass er ihm sehr ähnlich sah. Nur dass Roland blonde Haare und blaue Augen hatte, während seine Haare und Augen braun waren. Einmal hatte er zufällig gehört, wie ein Gast seiner Eltern zu seiner Frau sagte, dass Tony und sein Vater wie die dunkle und die helle Seite des Mondes wirkten. Und die Frau hatte erwidert, dass der Junge wirklich düster und unheimlich sei und Herr Fuhrmann ihr leid tun könne.
„Guten Tag, Herr Fuhrmann. Essen Sie heute zu Hause? Ich könnte Ihnen und Ihrer Frau eine Minestrone und danach eine Forelle servieren.“
„Gerne, Frau Zenker. Das hört sich gut an.“
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Frau Zenker drehte sich errötend um und machte sich ans Werk. So bekam sie nicht mit, wie missbilligend Roland jetzt Melanie betrachtete, ganz so, als beleidige es seine Augen, dass es sie gab. Melanie wurde sofort noch kleiner und blasser, und Tonys Herz krampfte sich zusammen. Einst, als sie noch gesund war, war sie Rolands Liebling gewesen. Zart und schön wie ein Engel, war sie das einzige Lebewesen, das ihn besänftigen konnte. Doch je kränker sie wurde und dabei immer mehr die Kontrolle über ihre Bewegungen und vor allem über ihre Gesichtszüge verlor, hatte sich sein Wohlwollen allmählich in Abscheu verwandelt. Eine solche Tochter wollte er nicht.
Für seinen Sohn hatte er von Anfang an keine zärtlichen Gefühle gehegt. Tony war für seinen Geschmack zu eigenwillig und zu wenig liebenswürdig. Dabei ging Tony, seit er denken konnte, seinem Vater nur deshalb aus dem Weg, weil er Angst vor ihm hatte. Doch das verzieh ihm Roland nicht. Zum Ausdruck brachte er das, indem er ihn schon früh regelmäßig schlug. Mehrmals musste seine Mutter mit Tony ins Krankenhaus und dort etwas von einem Unfall faseln, um ihn, ohne Verdacht zu erwecken, behandeln zu lassen. Melanie dagegen war anschmiegsam und schien Rolands Wünsche immer zu erahnen. Solange sie noch gesund war, schlug er sie nie. Doch als die Krankheit immer weiter fortschritt, hielt er sich auch bei ihr nicht mehr zurück. Weil sie ihn mit ihrer Behinderung enttäuscht hatte, schlug er sie sogar noch heftiger als seinen Sohn.
Doch eines Tages begann Tony sich dazwischen zu werfen, wenn Roland Melanie schlug. Er umklammerte sie dabei so fest, dass er die meisten Schläge abbekam. So war es jedenfalls, bis er seinem Vater zum ersten Mal Schmerzen zugefügt hatte. Seither waren er und Melanie verschont geblieben.
Dafür bekam ihre Mutter jetzt mehr Schläge. Sie stritt das allerdings ab, wenn Tony sie zum soundsovielten Mal bat, mit Melanie in ein Frauenhaus zu fliehen.
Was konnte er tun? Er musste doch in die Schule, und er musste Melanie zum Tagesheim bringen und wieder abholen. Er konnte sich nicht auch noch um ihre Mutter kümmern.
Roland, der immer noch in der Küchentür stand, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Nach einem kurzen Blick in das feindselige Gesicht seines Sohnes ließ er es jedoch sein. Als er endlich ging, atmete Melanie sichtlich auf. Tony hingegen spannte sich erst recht an. Er wusste, dass er Roland noch wütender gemacht hatte. Denn wieder einmal hatte er gewonnen. Es war zwar nur ein ganz kleiner Sieg. Aber irgendjemand würde das büßen müssen.
Während er Melanie zum Fahrstuhl schob, wurde ihm immer unwohler zu Mute.
Oben angekommen, brachte er sie in ihr Zimmer. Solange Frau Zenker im Haus war, würde nichts geschehen. Roland war noch nie vor Zeugen die Hand ausgerutscht.
Hinter den Kulissen des Römisch-Germanischen Museums schaltete Dr. Wolfgang Scheffler seinen PC aus und bemerkte erst jetzt, dass es draußen schon dunkel war. Der Schnee hatte sich in Schneeregen verwandelt und schmolz, sobald er den Boden berührt hatte. Auf dem nassen Pflaster spiegelten sich die Weihnachtslichter der Stadt.
Er hörte, wie Schritte aus dem Büro links von ihm kamen und an seiner Tür vorbei gingen. Gwanwyn Evans. Sie war sicher wieder auf dem Weg zum Kopierer. Er öffnete seine Tür, und wie er vermutet hatte, sah er Gwanwyn in ihrem bunt karierten Schottenrock, weiß und grün gestreiften Wollstrumpfhosen und einem weiten Norwegerpullover. Sie lief jedoch nicht zum Kopiergerät, sondern schlüpfte durch die Tür, die zu den Exponaten führte.
Was wollte sie dort? Die für die Öffentlichkeit zugänglichen Teile des Museums waren bereits geschlossen und wurden gerade von den Putzfrauen gereinigt. Zuerst wollte er Gwanwyn nachschleichen, doch dann fand er, dass das blöde war, und kehrte in sein Zimmer zurück.
Während er seinen Schreibtisch aufräumte, kreisten seine Gedanken weiter um die unkonventionelle junge Frau, die normalerweise an der Universität von Bangor in Wales unterrichtete. Mit ihrer komischen Kleidung sah sie weiß Gott nicht wie eine ernsthafte Wissenschaftlerin aus, aber sie hatte einen Doktortitel in keltischer Geschichte und seither noch zwei weitere Bücher veröffentlicht. Ihre Muttersprache war Walisisch. Er beneidete sie darum. Er hatte sich eine Zeitlang ebenfalls mit keltischen Sprachen herumgequält, war aber dann lieber bei Latein geblieben. Doch Gwanwyn beherrschte auch die lateinische Sprache wie sonst niemand, den er kannte.
Was sie jedoch hier in Köln wollte, verstand er nicht so richtig. Sie sagte, sie wolle die Lebensläufe von römischen Reitersoldaten rekonstruieren, die sowohl in Britannien als auch in Germanien gedient hatten. Was für ein seltsames Forschungsthema. Außer den Informationen auf ihren Grabsteinen war doch so gut wie nichts über sie bekannt! Er musste da noch einmal nachbohren. Andererseits – was ging es ihn an? Gwanwyn Evans kostete das Römisch-Germanische Museum nicht einen Cent, denn sie finanzierte ihren Forschungsaufenthalt selbst.
Außerdem hatten seine Frau Elisabeth und seine Tochter Franziska an Gwanwyn einen Narren gefressen.
Nachdem Tony seine Hausaufgaben in Melanies Zimmer gemacht hatte, klickte er sich wie fast jeden Tag im Internet durch medizinische Forschungsberichte zu ihrer Krankheit. Melanie sah sich einen Zeichentrickfilm an und kicherte hin und wieder. Als er den PC ausmachte und aufstand, sah sie zu ihm hoch.
„Du musst dir den Film ansehen. Der ist lustig.“
Er hob einen der Kopfhörer hoch und sagte in ihr Ohr: „Ich muss zuerst noch etwas in meinem Zimmer erledigen. Das dauert ein bisschen.“
„Okay“, antwortete sie.
Nie beklagte sie sich über irgendetwas.
In seinem Zimmer zog er aus dem obersten Fach des Bücherregals mehrere Taschenbücher über alternative Heilmethoden. Doch an ihnen war er im Moment ausnahmsweise nicht interessiert. Er brauchte die Digitalkamera mit dem mächtigen Zoom, die er hinter den Büchern versteckt hatte. Erst gestern hatte er sie in einem Medienmarkt mitgehen lassen. Wie viele andere Sachen, die er gestohlen hatte. Die meisten verkaufte er an einen Typen aus dem Kampfsportclub, der sie über das Internet vertickte. Von den Einnahmen bezahlte Tony die Gebühr für den Club. Den Großteil jedoch sparte er und bewahrte ihn in einem Versteck auf.
Er hoffte, dass die Kamera bald zum Einsatz kommen konnte, denn er wollte damit seine und Melanies Situation entscheidend verbessern.
Von unten hörte er Geräusche. Kein Zweifel, Roland verließ noch einmal das Haus. Tony steckte die Kamera in eine Sporttasche und wartete, bis der Chauffeur mit dem Wagen vom Grundstück gefahren war. Dann rannte er zu Melanie.
„Ich gehe noch mal aus dem Haus. Roland ist weg.“
„Fährst du ihm wieder nach?“
„Ja.“
„Pass auf, Tony.“
„Du musst keine Angst um mich haben.“
Er schlich die Treppe hinunter. Jetzt bloß nicht seiner Mutter begegnen! Dann rannte er zur Garage und holte sein Fahrrad.
Die Kälte war messerscharf. Der Schneematsch gefror gerade zu Eis. Mist, er war zu dünn angezogen. Egal. Er erkältete sich so gut wie nie. Vorsichtig radelte er durch die abendliche Stadt in einen ruhigeren Stadtteil mit teuren Mietshäusern. Rolands Wagen, in dem nur noch der Chauffeur saß und döste, stand eine Straße weiter. Perfekt. Tony stellte sein Fahrrad hinter einer Gruppe von Müllcontainern ab und lief zu einem alten Baum. Er kletterte hinauf. Kaum saß er, steckte er seine Hände mit den dünnen Handschuhen unter die Achseln. Allmählich füllten sie sich wieder mit Leben. Er setzte sich bequemer hin und zog die Kamera aus seiner Tasche. Schnell fand er das richtige Fenster mit der Balkontür und stellte den Zoom ein. Die hübsche junge Frau in dem gemütlichen Wohnzimmer konnte inzwischen nicht mehr verbergen, dass sie schwanger war. Und sie betete Roland an. Dauernd reichte sie ihm ein hohes, schmales Glas, auf dem eine Zitronenscheibe steckte, oder ein Tablett mit winzigen belegten Broten. Roland schien das sehr zu gefallen, denn er küsste sie und streichelte ihren Babybauch.
Und noch etwas sah Tony: Roland wirkte ungeheuer zufrieden mit sich. Hatte er etwa vor, sie alle zu verlassen, damit er mit dieser jungen Frau eine neue Familie gründen konnte? Für einen Moment keimte Hoffnung in Tony auf. Dann entschied er, dass das nicht sehr wahrscheinlich war, denn dann würde er seine gut bezahlte Position in der Firma ihres Großvaters verlieren. Der alte Direktor Kaurer hielt seine Tochter zwar für unnütz und schwach, aber nach einer Trennung würde er sich Roland gegenüber sicher zu nichts mehr verpflichtet fühlen.
Schade.
Nein. Freiwillig ging sein Vater nicht. Deshalb musste Tony nachhelfen. Immer wieder drückte er auf den Auslöser und hielt die rührenden Szenen häuslichen Glücks fest.
Wenn diese Bilder seine Mutter nicht überzeugen konnten, mit Melanie zu fliehen, dann gab es wirklich keine Hoffnung mehr. Er hatte zwar in Gedanken schon oft durchgespielt, dass er nur mit Melanie fliehen würde, doch er musste diese Pläne immer wieder verwerfen. Melanie brauchte Medizin und Wärme. Und sie brauchte das Tagesheim. Wäre er allein gewesen, dann wäre er längst weg. Er konnte überleben. Aber es ging nun einmal nicht nur um ihn. Es ging um sie beide und vor allem um Melanie. Es half nichts. Sie brauchten ihre Mutter. Die musste endlich aufwachen und sich gegen Roland stellen.
So, das reichte. Zuhause würde er ihr die Bilder sofort zeigen.
Doch leider war seine Mutter nicht mehr nüchtern. Sie hatte in der Zwischenzeit mindestens eine Flasche Wein geleert und torkelte ihm im Wohnzimmer entgegen. Na gut. Dann würde er ihr die Bilder eben morgen zeigen. Er drehte sich um und ging hinauf zu Melanie. Ihr zeigte er die Bilder. Und danach war sie sehr still. Später wusch er sie und brachte sie ins Bett. Dann las er ihr, wie jeden Abend, noch eine Geschichte vor. Doch Melanie war nicht bei der Sache.
„Schlägt er die Frau mit dem Baby im Bauch auch?“
„Jetzt vielleicht noch nicht, aber sicher bald.“
„Und wenn sie und das Baby alles richtig machen?“
„Niemand kann in seinen Augen alles richtig machen, jedenfalls nicht für lange. Er findet immer etwas.“
„Es liegt nicht an uns?“
„Nein.“ Er klappte das Märchenbuch zu und stand auf. Mit Nachdruck sagte er, „Er ist das Problem, nicht wir.“
Kaum hatte er am nächsten Tag die Schule betreten, stöhnte Tony innerlich auf. Er hatte völlig vergessen, dass sie heute mit der ganzen Klasse das Römisch-Germanische Museum besuchen würden. Er hasste es, wie eine Herde Schafe irgendwo durchgeschleust zu werden. Sie waren doch keine Kindergartenkinder mehr! Zum Glück mussten sie sich nicht auch noch an den Händen halten. Und alles nur, weil Franzis Vater dort arbeitete. Er hatte nichts gegen Franzi, auch wenn er ihr Spiel, ihn immer einzubeziehen, durchschaute. Und er wollte ihr nicht wehtun, indem er sich einfach umdrehte und wegging, denn Franzi war wirklich nett. Aber er brauchte sie nicht. Er hatte keinerlei Bedürfnis, mit irgendjemandem seiner Klassenkameraden eine engere Freundschaft einzugehen. Besonders von Mädchen hielt er sich fern, was nicht verhinderte, dass sich hin und wieder eines für ihn interessierte. Gerade dass er so abweisend war, schien sie zu reizen. Franzi gehörte zum Glück nicht in diese Kategorie.
Mädchen mussten warten, bis er und Melanie erwachsen waren. Bis dahin hatte er keine Zeit. Wenn er überhaupt je Zeit dafür haben würde.
Das Museum erwies sich als interessanter, als er gedacht hatte. Sogar römische Kinderspielsachen gab es. Melanie würde daran ihre Freude haben. Er musste unbedingt mit ihr zusammen wiederkommen.
Zuerst führte sie Franzis Vater, Dr. Scheffler, herum. Aha, von ihm also hatte Franzi ihre kurzsichtigen Augen und ihre langen Beine. Danach hielt ihnen eine Dr. Gwanwyn Evans einen Vortrag über die Kelten in Köln, der trotz ihres ulkigen Akzents so interessant war, dass er gerne noch mehr erfahren hätte.
Später hatte er ein paar Mal den Eindruck, dass diese Gwanwyn ihn beobachtete. Doch er war nicht sicher. Warum sollte sie? Als ihre Blicke sich wieder wie zufällig trafen, warf er ihr vorsichtshalber einen besonders giftigen Blick zu. Daraufhin lächelte sie. Tony war fassungslos. Sein Killerblick wirkte normalerweise immer.
Auch an diesem Tag kam er nicht dazu, seiner Mutter die Bilder zu zeigen. Seine Eltern hatten am Abend Gäste.
Am nächsten Tag ging er direkt von der Schule ins Tagesheim. Er holte Melanie ab, um mit ihr das Museum zu besuchen. Wie er vorausgesehen hatte, war sie begeistert. Aufmerksam las sie die Beschreibungen zu den Gegenständen in den Vitrinen. Zu einigen erfand sie sofort lustige Geschichten. Ob er mit ihr öfter solche Ausflüge machen sollte?
Gwanwyn staunte. Wie behutsam und liebevoll er mit dem Mädchen im Rollstuhl umging. Tony Fuhrmann, rief sie sich ins Gedächtnis. Gestern der Unnahbare und heute der Fürsorgliche. Wieder vibrierte bei seinem Anblick etwas in ihrem Körper.
Später klingelte sie bei den Schefflers. Franzi machte ihr auf, und Gwanwyn folgte dem großen, dünnen Mädchen ins Wohnzimmer. Elisabeth Scheffler war bereits vom Kriminalkommissariat zurück und entspannte sich auf der Couch bei einer Kanne Tee. Ihre hellbraunen, kurzen Haare waren nicht sehr vorteilhaft geschnitten und bereits zur Hälfte grau. Ihre wachen Augen mit den vielen Lachfalten und die Art, wie sie sich kleidete, sorgten jedoch dafür, dass sie alles andere als bieder wirkte. Aus ihrer abgewetzten, engen Jeans ragten breite Füße in grauen Wollsocken, und ihr besonderes Markenzeichen, eine schwarze Bikerjacke mit silbernen Nieten, lag achtlos auf dem Boden.
„Hallo, Gwanwyn. Trinkst du einen Tee mit?“
„Gerne.“
„Hol dir einen Becher aus der Vitrine.“
Elisabeth reichte ihr die Kanne.
Während Gwanwyn sich Tee einschenkte, wandte sie sich an Franzi: „Tony aus deiner Klasse war heute noch einmal im Museum, zusammen mit einem Mädchen im Rollstuhl.“
„Das ist seine Schwester, Melanie.“
Elisabeth hob ihren Becher und prostete Gwanwyn zu: „Cheers.“ Dann fügte sie hinzu: „Die Mutter von Ralf arbeitet als Heilpädagogin in der Einrichtung, in der sie tagsüber betreut wird.“
„Ralf, ist das der Klassenkamerad von Franzi, der genauso groß ist wie sie?“
Elisabeth lachte. „Nur mit viel mehr Muskeln. Genau der.“
„Was genau fehlt Tonys Schwester denn?“
Wieder antwortete Elisabeth. „Es ist eine sehr seltene Krankheit, eine Art Muskelschwund, bei der allmählich sämtliche Körperfunktionen ausfallen.“
„Das ist ja schrecklich.“
„Und das ist der Grund, warum Tony wahnsinnig gut ist in der Schule“, sagte Franzi, „Er möchte nämlich Arzt werden, um Melanies Krankheit eines Tages heilen zu können.“
Fast hätte Gwanwyn ihren Becher fallen lassen.
„Was interessiert dich so an ihm?“, fragte Elisabeth.
„Ach, es ist … nun … äh, er fiel mir einfach auf. Gestern wirkte er sehr abweisend. Aber heute war er nicht wieder zu erkennen. So liebevoll und geduldig.“
„Ralfs Mutter kennt ihn nur so. Er bringt Melanie jeden Morgen und holt sie am späten Nachmittag wieder ab.“
„Wie alt ist er eigentlich?“
„Dreizehn, wie ich“, antwortete Franzi.
„Haben er und Melanie noch beide Eltern?“
„Oh ja. Die sind sogar richtig reich. Tonys Großvater gehören die Kaurer Werke. Sie wohnen in einer riesigen Villa.“
„Wenn das so ist, können sie sich doch eine Rundumbetreuung für ihre Tochter leisten?“
Franzi zuckte mit den Schultern. „Sicher. Aber Tony kümmert sich gern um Melanie.“
Elisabeth war jetzt ebenfalls hellhörig geworden. „Mir war gar nicht klar, dass er aus einer so wohlhabenden Familie stammt. Ich finde es jetzt auch etwas seltsam, dass er sich so intensiv um seine behinderte Schwester kümmert. Ein dreizehnjähriger Junge hat doch ganz andere Interessen.“
„Hat er ja auch“, verteidigte ihn Franzi, „Er liest viel. Und er macht Kung-Fu.“
Kurz vor Mitternacht saß Gwanwyn in ihrem eigenen Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Couchtisch lag ein bronzenes Medaillon. Und wie immer, wenn sie es betrachtete, stiegen die widersprüchlichsten Gefühle in ihr auf. Unbeschreiblicher Schmerz. Erleichterung darüber, dass sie entkommen war. Und seit einigen Monaten die Angst, dass bald alles vorbei sein konnte.
Sie hatte ein großes Unrecht begangen, als sie damals für ihre Rettung gesorgt hatte. Aber fast ein Vierteljahrhundert lang hatte sie jeden Gedanken daran abgewürgt. Irgendwie hatte sie gehofft, dass die Sache erledigt war. Bis das Manuskript aufgetaucht war - und alles wieder wie gestern vor ihr stand. Die Schreie. Das Klirren der Waffen. Der Brandgeruch. Der Gestank nach Blut und Tod. Ja, sogar die Narbe an ihrem Knie schmerzte seit neuestem.
Sie schloss die Augen.
Die beiden Männer sehen einander schweigend an. Langsam zieht der Druide sein Schutzmedaillon über den Kopf und reicht es dem Soldaten.
Das mächtigste Amulett ihrer Religion. Und er macht es dem Todfeind zum Geschenk!
Warum nur?
Gwanwyn öffnete ihre Augen wieder. Sie hatte kein Recht, zu urteilen.
Entschlossen nahm sie das Medaillon in die Hand. Sofort spürte sie seine ungeheure Kraft. Wie jedes Mal, seit das Manuskript gefunden worden war. Das Summen in ihren Ohren wurde immer lauter. Die Kabel mehrerer Überlandtrassen schienen durch ihren Körper zu laufen.
Sie musste das Unrecht wiedergutmachen! Aber wie lange würden ihr die Götter noch Zeit geben? Würde sie es rechtzeitig schaffen? Und wenn nicht? Musste sie dann zurück? O ihr Götter, nur das nicht. Nicht zurück in diese Hölle!
Das verschlungene Ornament auf der Vorderseite wurde lebendig und wand sich in immer schnelleren Bewegungen. Gwanwyn wurde schwindelig. Schnell drehte sie es um. Hier standen lediglich die Buchstaben T.F.B. Sie strahlten eine große Ruhe aus.
Die Initialen seines Namens. Er hatte sie selbst eingraviert.
Und wieder sah sie ihn vor sich. So anders als die anderen Soldaten. Mitfühlend.
Doch das hatte sie erst später begriffen.
Und er war jung. Höchstens neunzehn oder zwanzig.
Jetzt wäre er also Mitte vierzig.
Falls er so lange überlebt hatte.
Sie legte das Medaillon zurück auf den Couchtisch. Es war nicht schwer gewesen, seinen Namen herauszufinden. Ein Reitersoldat aus Thrakien. Da gab es bei T.F.B. nicht allzu viele Möglichkeiten.
Sie öffnete ihr Notebook und öffnete die Datei „Bassus“. Zum sicher hundertsten Mal überflog sie den Brief aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Danach betrachtete sie das Foto des Grabsteins, der hier im Museum stand. Doch so sehr sie sich auch bemühte, eine Erklärung zu finden - die Informationen widersprachen sich.
Es gab daher nur einen Weg: Sie musste bei jedem Schritt, den sie machte, bei jeder Person, der sie begegnete, aufmerksam in sich hineinhorchen und das befolgen, was ihre innere Stimme ihr gebot.
So war sie bis hierher gekommen. Nach Köln.
Und so war sie auf Tony Fuhrmann aufmerksam geworden.
Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Uwe hatte eine Revanche gefordert. Und ausgerechnet heute sollte der Kampf stattfinden. Es war das letzte, wonach Tony sich im Moment fühlte. Doch er konnte ja schlecht ablehnen.
Zu allem Unglück spürte er, dass von Uwe eine neue, ungewohnte Energie ausging. Und ausgerechnet heute gelang es ihm selbst nicht, sein eigenes Kraftfeld zu aktivieren.
Sie verneigten sich voreinander und legten los. Während er immer noch dabei war, in die mentale Verfassung eines Siegers zu kommen, hatte Uwe ihm plötzlich einen solchen Schlag verpasst, dass er zu Boden ging und mit dem Kopf aufschlug. Ihm wurde schwarz vor Augen. Trotzdem versuchte er sofort, sich wieder aufzurichten. Shifu Reinhold, der neben ihm kniete, wollte ihm dabei helfen. Doch Tony stieß ihn zur Seite.
Zuerst knickte er weg, beim zweiten Versuch klappte es. Schwankend stand er wieder auf den Beinen. Aber wenn Reinhold ihn nicht gestützt und zur Bank geführt hätte, wäre er wieder umgekippt.
„Siggi, du musst in ein Krankenhaus.“
„Ich bin okay.“
„Du könnest eine Gehirnerschütterung haben.“
„Mir fehlt nichts.“
„Aber falls doch, könnten deine Eltern den Club belangen.“
Ach, daher wehte der Wind.
„Wenn du dich nicht ins Krankenhaus bringen lässt, werde ich den Vorfall deinem Vater melden“, fuhr Reinhold fort.
Scheiße, dann flog er auf.
„Ein Onkel von mir ist Arzt. Zu dem gehe ich jetzt gleich.“
Reinhold dachte nach. „Na gut“, sagte er schließlich. „Ich bestelle dir ein Taxi.“
In der Nähe des Ebertplatzes bat er den Taxifahrer, vor einem Haus mit mehreren Arztpraxen anzuhalten, und stieg aus. Er ging hinein. Sobald das Taxi verschwunden war, verließ er das Haus wieder. Nach wenigen Schritten an der frischen, kalten Luft merkte er jedoch, dass er langsam gehen musste. Ihm wurde sonst wieder schwindelig. Wahrscheinlich sollte er wirklich einen Arzt aufsuchen. Aber leider ging das nicht. Außerdem – sein Kopf würde schon wieder werden. Viel schlimmer war, dass er nach der Niederlage gegen Uwe Selbstzweifel verspürte. Und Roland, der einen sechsten Sinn für die Schwächen anderer hatte, durfte das auf keinen Fall merken.
Er durfte das Heft nicht mehr aus der Hand geben! Um Melanies willen, um seinetwillen. Sonst waren sie verloren.
Und er musste auch endlich seiner Mutter die Bilder mit Rolands schwangerer Freundin zeigen. Doch irgendwie schaffte er es nicht, sich selbst Mut zu machen.
Was, wenn seine Mutter Roland trotzdem nicht verlassen würde?
Er steuerte eine Bank an und setzte sich.
Wie es wohl war, gute Eltern zu haben?
Im Tagesheim begegnete er fast täglich einem allein erziehenden Vater, der seinen Sohn abholte. Er drückte den Jungen immer erst an sich und strich ihm liebevoll über den Kopf.
Bei Tony hatte das noch nie jemand gemacht.
Spät am Abend schickte sich Roland doch noch an, das Haus zu verlassen. Tony stand in der Wäschekammer, um für Melanie frisches Bettzeug zu holen. Danach wollte er endlich seiner Mutter die Fotos zeigen.
Doch es kam anders.
Seine Mutter wollte nicht, dass sein Vater wegging. Tony hörte, wie sie ihn unten im Flur mit weinerlicher Stimme anflehte, zu Hause zu bleiben. Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. War sie verrückt geworden? Sie wusste doch, was sie damit provozierte. Jetzt rannte sie auch noch heulend die Treppe herauf und lief an der Tür der Wäschekammer vorbei. Roland kam hinterher.
Dann ging alles blitzschnell.
Die Tür zur Kammer knallte zu. Zuerst dachte Tony, dass es ein Windstoß war, doch in derselben Sekunde wurde der Schlüssel umgedreht, und er verstand.
Roland hatte ihn eingesperrt, damit er ihm nicht in die Quere kommen konnte!
Wie hatte er nur so blöde sein können! Er rüttelte wie ein Besessener am Türknauf. Aber sämtliche Türen im Haus waren solide. Lediglich am unteren Ende hatten sie eine Lüftungsöffnung. Wenn er die wegbekäme und es ihm gelänge, den Schlüssel mit irgendeinem Gegenstand aus dem Schloss zu schieben, konnte er vielleicht durch die Öffnung danach greifen und sich befreien.
Tony griff in seine Hosentaschen. Gott sei Dank. Sein Taschenmesser war da. Er kniete sich auf den Boden und machte sich ans Werk.
Draußen begann der Terror. Tony kannte die Geräusche nur zu gut. Roland hatte ihre Mutter zu Boden geworfen und schlug auf sie ein. Sie schrie. Aber nicht etwa „Hör auf!“ Nein, sie schrie: „Ich habe doch nur Angst, dass du eine andere hast. Dass du mich nicht mehr liebst.“
„Genau das wird auch passieren, wenn du dich so aufführst.“
„Es ist, weil ich dich so liebe“, wimmerte die Mutter.
„Du weißt gar nicht, was Liebe ist.“
„Aber ich lebe doch nur für dich.“
Roland brüllte jetzt: „Das ist nicht gut genug, verstehst du. Ich brauche etwas anderes. Du nörgelst zu viel.“
„Ich hör damit auf. Ich versprech’s.“
Und immer wieder klatschten Rolands Schläge.
Dann wurde es plötzlich still. Auch Tony bewegte sich nicht mehr in seinem Gefängnis und lauschte angespannt.
Er hörte, wie sein Vater wütend fragte: „Was willst du denn?“, und wie Melanies verschrecktes Stimmchen antwortete: „Bitte lass Mama in Ruhe.“
Um Himmels Willen, sie wusste nicht, dass er, Tony, hier festsaß!
„Hau ab!“
„Lass Mama in Ruhe.“ Melanies Stimme klang etwas fester.
„Ach, so ist das.“ Roland klang plötzlich gefährlich leise. „Du hast jetzt also auch einen eigenen Willen?“
„Mama, er hat eine schwangere Freundin.“
Tony erschrak zu Tode. Mit dem Taschenmesser hatte er die Lüftungsklappe bereits gelockert und wollte sie gerade herausdrücken.
„Was?“, fragte die Mutter ungläubig.
„Wir haben Fotos“, fuhr Melanie tapfer fort. Dann rief sie ängstlich: „Tony! Tony!“
Tony schrie: „Ich sitze fest! Verschwinde, Melanie! Fahr zurück in dein Zimmer und schließ dich ein!“
„Roland“, hörte er jetzt seine Mutter fragen, „ist das wahr?“
„Natürlich nicht. Die sind verrückt, die Kinder. Was hast du da für verlogenen Abschaum in die Welt gesetzt.“
„Aber sie sagen, sie haben Fotos.“
„Die können sie gar nicht haben. Es gibt keine Freundin.“
„Er lügt, Mama“, sagte Melanie.
Sie begann zu weinen.
„Während ich mich mal mit unserer Tochter unterhalte, gehst du ins Badezimmer und machst dich frisch.“ Die Stimme seines Vaters klang ganz ruhig.
„Nein!“, brüllte Tony wie ein Wahnsinniger in seiner Kammer.
Danach vernahm er undefinierbare Geräusche, die sich entfernten. Verzweifelt stocherte er im Türschloss herum.
„Wo sind die Fotos?“, hörte er nach einer Weile wieder Rolands Stimme. Weiter weg diesmal. Aus Melanies Zimmer.
Doch seine kleine Schwester schwieg jetzt.
Dann hörte er den Schlag.
Es war Tony, als wäre er selbst getroffen worden. Eine furchtbare Ahnung packte ihn. Oh Gott, es war auf einmal so still.
Im Badezimmer rauschte die Dusche.
Tony bekam keine Luft mehr. Seine Hände waren kalt und feucht. Und sie zitterten. Endlich fiel der Schlüssel draußen auf den Boden. Doch er jubilierte nicht. Etwas Kaltes und Schwarzes hatte von seiner Seele Besitz ergriffen.
Er griff durch die Lüftungsöffnung, fand den Schlüssel und schloss von innen auf.
Seine Beine wollten ihn fast nicht tragen. Er stolperte über den Flur zu Melanies Zimmer. Die Tür stand offen. Sie selbst saß leblos in ihrem Rollstuhl. Ihr Kopf hing herab. Tony blieb stehen. Es gab nichts mehr, was er tun konnte. Nichts mehr, was irgendjemand tun konnte.
Langsam wandte er sich Roland zu.
Der stand da und hob die Hände. „He, das war ihre Schuld, was kippt sie auch weg!“
Etwas fuhr in Tony hinein. Er stürzte sich auf seinen Vater und schlug und trat mit einer Kraft, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte.
Jemand kreischte: „Hör auf!“ und zerrte an ihm.
Es war seine Mutter. Sie trug einen Bademantel. Ihre Haare waren nass. Tony packte sie an den Schultern und drehte sie zu Melanie.
„Da! Er hat sie umgebracht.“
Seine Mutter ging vor Melanie in die Hocke. Sie streckte ihre Hand aus. „Melanie“, flüsterte sie.
Da rief sein Vater: „Es war Tony. Er hat ihr eine gescheuert.“
Tony starrte auf den Rücken seiner Mutter. Sie wusste, dass sein Vater log. Sie kannte ihn schließlich. Es dauerte eine ganze Weile. Dann erhob sie sich und drehte sich langsam um.
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Tony es einfach nicht glauben.
Doch es war wahr.
Seine Mutter sah ihn hasserfüllt an.
Er schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht.
Elisabeth war noch immer erschüttert von Anblick des Mädchens, dessen Kopf wie eine abgeknickte Blume dagehangen hatte. Ihre Kollegen hatten ihr berichtet, dass Tony ihnen auf der Straße entgegengewankt war. Nachdem er immer wieder geschrieen hatte, dass sein Vater seine Schwester getötet habe, war er zusammengebrochen. Sie hatten ihn sofort in ein Krankenhaus gebracht.
Jetzt saß Elisabeth im Wohnzimmer den Eltern gegenüber. Der Vater trug einen schicken Ausgehanzug, die Mutter einen goldbestickten weißen Bademantel und hatte ein Handtuch um den Kopf geschlungen. Beide waren notärztlich versorgt worden. Das linke Auge des Vaters schwoll immer mehr zu, und der rechte Arm steckte in einer Schlinge. Die Mutter, deren Lippe genäht worden war, sah ihn immer wieder ängstlich von der Seite an.
„Ich weiß nicht, was heute in die Kinder gefahren ist“, stammelte sie.
„Was meinen Sie damit?“, fragte Elisabeth.
Sie wurde nicht schlau aus dieser Frau, die so redete, als seien ihre Kinder einfach nur mal ungezogen gewesen.
„Nun, Tony rastet völlig aus und schlägt auf uns ein, und dann behauptet er, dass mein Mann Melanie getötet habe.“
„Ja, das behauptet er. Und was hatte Melanie verbrochen?“
Frau Fuhrmann sah sie verständnislos an.
„Sie sagten die Kinder.“
Elisabeth sah, dass Melanies Mutter krampfhaft überlegte und ihr Mann alarmiert zusah. Damit seine Frau nichts Dummes sagen konnte, sprang er in die Bresche.
„Melanie hat Tony einfach gereizt, bis er zugeschlagen hat.“
„Was hat sie denn getan?“
Tonys Eltern sahen sich wieder kurz an, und die Mutter überließ dem Vater das Feld.
„Sie hat gequengelt, weil sie wollte, dass er mit ihr spielt.“
„Und er wollte das nicht?“, fragte Elisabeth.
„Nein“, antwortete noch einmal die Mutter.
„Er wollte für sich sein und im Internet surfen, aber Melanie hat das nicht verstanden“, ergänzte Roland Fuhrmann.
Dann sah er seine Frau an, als wolle er ihre Erlaubnis, etwas preiszugeben, das sie lieber für sich behalten hätten.
„Wissen Sie“, sagte er zögernd, „Melanie hätte es eigentlich besser wissen müssen.“
„Ich verstehe nicht.“
Wieder zögerte Tonys Vater kurz. „Er hatte bisher zwar noch nie Melanie selbst etwas angetan, aber sie wusste, wozu er fähig war.“
Elisabeth schwieg, aber sie spürte, wie ihr Herz immer heftiger pochte.
Roland Fuhrmann fuhr fort: „Sie hat oft genug gesehen, wie Tony sich gegenüber uns verhalten hat.“
„Gegenüber Ihnen?“
„Er hat nach uns geschlagen und getreten. Lange Zeit vor allem nach meiner Frau, weil sie die Schwächere war. Sie hat es mir erst vor kurzem gestanden. Aber inzwischen auch nach mir. Ich war deswegen sogar schon bei einem Psychologen.“
Er griff nach der Hand seiner Frau. Sie hielt seine Hand fest und sah auf den Boden.
Elisabeth war sprachlos. Was die Eltern da erzählten, widersprach völlig dem Bild, das ihre Tochter Franzi, Ralfs Mutter Irmtraud und inzwischen auch Gwanwyn von Tony vermittelt hatten.
„Können Sie mir Namen und Adresse dieses Psychologen geben?“
„Natürlich“, sagte Roland Fuhrmann. Dann stöhnte er auf. „Er hat mir geraten, Tony in eine Kinderpsychiatrie einweisen zu lassen. Aber ich habe das nicht übers Herz gebracht. Er wäre doch nie damit einverstanden gewesen.“
Er sah Elisabeth flehentlich an. „Ich wollte ihn nicht gegen seinen Willen einsperren lassen. Oh Gott, wenn ich es nur getan hätte, dann würde Melanie noch leben.“
Jetzt liefen auch noch Tränen über Roland Fuhrmanns Wangen. Er wischte sie weg und beugte sich zu Elisabeth vor. „Was wird jetzt mit unserem Sohn?“, fragte er. „Er hat das nicht absichtlich getan. Er ist psychisch krank. Es muss ihm schrecklich gehen.“
Er wandte sich an seine Frau. „Wir müssen für Tony ein paar Sachen zusammenpacken. Einen Schlafanzug, Unterwäsche, Waschzeug. Und dann fahren wir zu ihm.“
„Ich nehme die Sachen mit“, sagte Elisabeth schnell. „Sie können ihn vorläufig nicht sehen, immerhin hat er eine schwerwiegende Anschuldigung gegen Sie vorgebracht.“
Roland Fuhrmann protestierte. „Er hat einen Schock. Er weiß nicht, was er sagt.“
„Das mag sein. Trotzdem.“ Sie räusperte sich. „Wer hat sich eigentlich hauptsächlich um Melanie gekümmert?“
Wieder sahen die Eltern einander an, und Roland Fuhrmann antwortete: „Nun, das war Tony.“
„Warum er?“ Elisabeth wandte sich an Tonys Mutter. „Warum zum Beispiel nicht Sie?“
„Weil er es wollte. Er bestand darauf.“ Wieder hatte Roland geantwortet.
„Wir konnten es ihm nicht ausreden. Da war er ganz stur“, ergänzte die Mutter. „Von uns ging das nicht aus. Wir hätten Melanie gerne in ein ganz wunderbares Betreuungszentrum am Bodensee gegeben. Dort wäre sie bestens gefördert worden. Aber wegen Tony haben wir es nicht gewagt.“
Wieder übernahm Roland Fuhrmann: „Unser Sohn glaubte, dass nur er seine Schwester beschützen konnte. Er hatte sich da in etwas verrannt. Er sah sich und Melanie von Feinden umzingelt.“
„Und diese Feinde waren vor allem wir“, ergänzte die Mutter.
Elisabeth fühlte sich immer weniger wohl in ihrer Haut. Die Eltern gaben zwar plausible Erklärungen ab, aber ihre Intuition sagte ihr, dass sie einer oscarreifen Filmvorführung beiwohnte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie der Staatsanwaltschaft eindeutige Beweise vorlegen musste. Da zählten nur die Fakten und nicht ihre Gefühle.
Bedrückt stand sie auf.
Auch Roland Fuhrmann stand auf und sagte, ganz der gramgebeugte Vater: „Wir lieben unseren Sohn, Frau Kommissarin, obwohl er das getan hat. Aber er braucht Hilfe.“
„Sicher“, antwortete Elisabeth kühl.
Eine halbe Stunde später führte sie der Stationsarzt zu Tonys Krankenzimmer.
„Er steht unter Schock, außerdem hat er eine schwere Gehirnerschütterung“, erklärte er.
„Eine Gehirnerschütterung? Wie kann er sich die zugezogen haben?“
„Ein Schlag oder ein Sturz. Keine Ahnung. Leider hat er sich geweigert, mit uns zu sprechen.“
„Wie lange werden Sie ihn hierbehalten müssen?“
„Ein paar Tage sicher. Aber da ist noch etwas.“ Der Arzt blieb stehen und senkte die Stimme: „Der Junge ist voller alter Narben. Als wäre er über Jahre misshandelt worden.“
Elisabeth dachte nach. „Er betreibt einen asiatischen Kampfsport. Könnte es davon sein?“
„Wie lange macht er das schon?“
„Ich glaube, seit ein oder zwei Jahren.“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Die Narben sind viel älter. Im Gegenteil, ich würde sagen, dass in letzter Zeit keine neuen mehr dazu gekommen sind. Aber damit ich nichts Falsches behaupte, schlage ich vor, dass Sie Tony von einem Experten untersuchen lassen.“
„Ich werde es veranlassen.“
Der Arzt sah sie immer noch ernst an. „Der Junge hat außerdem sehr hohes Fieber.“
„Hängt das irgendwie mit der Gehirnerschütterung zusammen?“
Er schüttelte den Kopf. „Das Fieber hat keine organische Ursache. Es kann mit einem traumatischen Erlebnis zusammenhängen. Was genau ist denn mit ihm passiert?“
Elisabeth beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. „Seine Schwester wurde heute Abend erschlagen. Seine Eltern behaupten, dass er es war. Und er sagt, dass sein Vater es getan hat.“
„Um Gottes Willen.“ Er sah ihr in die Augen. „Und was glauben Sie?“
Elisabeth schwieg.
„Ich verstehe“, sagte der Arzt, „und zu allem Unglück betreibt er auch noch einen Kampfsport.“
Elisabeth nickte.
„Ich habe im Laufe der Jahre schon einiges gesehen“, fuhr der Stationsarzt fort und sah Elisabeth eindringlich an, „und ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft. Aber mein Eindruck ist, dass der Junge sterben möchte.“
Elisabeth atmete durch: „Ich könnte es ihm jedenfalls nicht verdenken.“
Der Arzt ging. Sie betrat das Krankenzimmer.
Tony war ein starkes Beruhigungsmittel injiziert worden, und er schlief. Doch entspannt sah er nicht aus. Elisabeth betrachtete seine gequälten Gesichtszüge und die schweißverklebten dunklen Haare.
Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Tony, ich brauche dich. Ich muss beweisen, wie Melanie gestorben ist und wer für deine Narben verantwortlich ist. Bitte gib nicht auf.“
Kaum hatten sie in der Pause auf dem Schulhof eine ruhige Ecke gefunden, legte Ralf los: „Tony hätte Melanie nie im Leben etwas angetan. Deine Mutter muss unbedingt mit meiner Mutter sprechen. Nein, sie muss mit allen im Tagesheim sprechen. Die werden es ihr bestätigen.“
„Ich glaube, da geht sie auch hin heute.“
„Gut.“ Ralf klang etwas erleichtert. „Können wir sonst nichts für ihn tun?“
„Besuch darf er nicht bekommen, hat meine Mutter gesagt, er steht unter Schock. Außerdem ist er der Polizei unterstellt.“
„Was wird denn mit ihm, wenn es ihm wieder besser geht? Er kann doch nicht zu seinen Eltern zurück.“
Franziska sah sich um. „Wir dürften das alles eigentlich gar nicht wissen.“
Ralf winkte ungeduldig ab. „Ja, ich weiß, laufende Ermittlungen und so. Kommen seine Eltern denn nicht wenigstens in Untersuchungshaft?“
„Keine Ahnung. Das Problem ist anscheinend, dass sich sein Vater inzwischen einen Anwalt genommen hat.“
„Scheiße. Und was ist mit Tony?“
„Meine Mutter sagt, dass er nicht angeklagt werden kann, weil er erst dreizehn ist. Da ist man noch strafunmündig.“
„Ist das gut oder schlecht für ihn?“
„Wenn sein Vater freigesprochen wird, ist das, glaube ich, nicht gut für ihn. Denn dann wäre ja er der Täter gewesen.“
„Und was würden sie dann mit ihm machen?“
„Er käme in irgendeine geschlossene Einrichtung. Heim oder Psychiatrie.“
„Da würde er draufgehen.“
„Ich weiß.“
Ralf dachte angestrengt nach. „Sag mal, kann er sich eigentlich auch einen Anwalt nehmen, oder dürfen das nur Erwachsene?“
Franziska sah ihn überrascht an. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“
„Falls ja, wer würde ihn denn bezahlen? Seine Eltern werden es ja wohl kaum tun.“
Franziska zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Über den Anwalt seines Vaters sagt meine Mutter jedenfalls, dass der bisher noch jeden herausgeboxt hat. Der wird Tony als Gestörten hinstellen, und sein Vater ist frei.“
„Aber Tony ist nicht gestört!“, rief Ralf empört.
„Pst“, flüsterte Franziska, „aber er macht Kampfsport, und er hat keine Freunde.“
„Er hat uns.“
„Ja, schon. Aber außer uns kann ihn niemand so richtig leiden. Zumindest hier an der Schule. Zu viele haben gesehen, dass er ganz schön zuschlagen kann.“
„Das war doch nur, weil er schwächere Kinder gegen irgendwelche Bullys verteidigt hat.“ Ralf wirkte plötzlich entschlossen. „Ich werde Tony trotzdem im Krankenhaus besuchen. Ich werde es schon schaffen, an sein Bett zu kommen. Er muss wissen, dass noch jemand zu ihm hält. Kommst du mit?“
„Klar.“
Im Römisch-Germanischen Museum verfolgte Franzi aufmerksam, was ihr Vater im Internet zu Tage förderte. Gwanwyn lehnte an der Tür.
Wolfgang Scheffler drehte sich um: „Wie ihr seht, hat das Jugendamt ein Wörtchen mitzureden und genehmigt einem Kind nur in ganz seltenen Fällen einen Rechtsbeistand.“
„Warum das?“
„Weil es Aufgabe des Jugendamtes ist, die Interessen eines Kindes zu vertreten.“
„Aber die Leute dort kennen Tony gar nicht.“
„Sie werden sich sicher alle Mühe geben.“
Gwanwyn setzte sich. „Genau wie Franzi sehe auch ich ziemlich schwarz für Tony. Für alle, die nicht mit eigenen Augen gesehen haben, was für ein Verhältnis er zu Melanie hatte, sieht die Sache ziemlich eindeutig aus. Da ist ein schwieriger Junge, der darauf besteht, sich um seine Schwester zu kümmern, obwohl er es gar nicht müsste; der Kampfsport betreibt, hin und wieder Klassenkameraden vermöbelt und seine Eltern verletzt hat.“
„Und dessen Eltern, obwohl er für den Tod seiner Schwester verantwortlich ist, immer noch zu ihm stehen“, ergänzte Wolfgang.
„Aber die tun doch nur so!“, rief Franziska wütend.
„Niemand von uns war dabei, als Melanie gestorben ist. Wir wissen nicht, was wirklich geschehen ist“, versuchte Wolfgang seine Tochter zu besänftigen.
„Papa, auf welcher Seite stehst du denn?“, schrie sie.
„Franzi, das ist nicht gegen Tony gerichtet. Auch ich bin der Meinung, dass in seiner Familie etwas völlig falsch gelaufen ist.“
„Er hat Melanie nichts getan!“
Franzi rannte aus dem Büro. Gwanwyn lief ihr hinterher. An der Tür zum Treppenhaus holte sie sie ein. Sie legte ihre Hand auf Franzis Schulter.
„Das Wichtigste ist, dass du und Ralf für Tony da seid, wie auch immer das Ganze ausgeht. Ich unterstütze euch dabei.“
Franzi sah sie weinend an. „Du? Wieso?“
„Nun … ich bin ihm zwar nur zweimal begegnet, aber ich mochte ihn einfach.“
Franzi strahlte trotz ihrer Tränen. „Danke, Gwanwyn.“
Am Tag der Urteilsverkündung saß Gwanwyn neben Elisabeth unter den Zuschauern im Gerichtssaal. Es war gekommen, wie die erfahrene Kommissarin die ganze Zeit befürchtet hatte. Roland Fuhrmanns Verteidiger hatte es geschafft, ihn vor Gericht als Opfer dastehen zu lassen. Besonders die Aussage der Mutter konnte er für seinen Mandanten ausschlachten.
„Als ich dazukam, war Melanie bereits tot, und Tony schlug und trat wie ein Wahnsinniger nach meinem Mann. Ich wollte ihn wegziehen, aber da schlug er auch auf mich ein.“
„Wie begründete er sein Verhalten?“
„Er sagte, dass mein Mann Melanie getötet hätte.“
„Glaubten Sie ihm das?“
„Natürlich nicht! Es war Tony. Und es war nicht das erste Mal. Er hat schon oft zugeschlagen.“
„Frau Fuhrmann, wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu Tony?“, fragte der Staatsanwalt.
Tonys Mutter begann zu weinen. „Er schlug und trat regelmäßig nach mir, weil ich mich weigerte, zusammen mit ihm und Melanie meinen Mann zu verlassen.“
„Warum sollten Sie ihn denn verlassen?“
„Weil er angeblich eine Affäre mit einer anderen Frau hat.“
„Und das haben Sie ihm nicht geglaubt?“
„Nein. Denn als mein Mann die Fotos sehen wollte, konnte Tony sie natürlich nicht zeigen, weil sie gar nicht existierten.“
„Tony behauptet, dass Sie seinen Vater deshalb verlassen sollten, weil er Sie schlug.“
„Das ist eine Lüge.“
„Würden Sie sagen, dass Sie und Ihr Mann eine gute Ehe führen?“
„O ja. Er ist mein Ein und Alles.“ Sie wischte sich über die Augen und blickte zu Tonys Vater auf der Anklagebank. Er warf ihr ein warmes, leidendes Lächeln zu. Glücklich lächelte sie zurück.
Auch Elisabeth war als Zeugin vernommen worden.
„Haben Sie bei der Hausdurchsuchung nach Fotos gesucht, die Herrn Fuhrmann mit einer anderen Frau zeigen?“
„Ja, das haben wir.“
„Und, haben Sie welche gefunden?“
„Nein. Wir fanden lediglich eine Digitalkamera ohne Speicher, aber mit den Fingerabdrücken von Tony Fuhrmann, die teils abgewischt waren. Das könnte darauf hinweisen, dass jemand an der Kamera herummanipuliert hat.“
Dann war Elisabeth zu ihrem Leidwesen auch zu Tonys kriminellen Machenschaften befragt worden. Ihre Kollegen hatten in seinem Zimmer mehrere gestohlene Elektronikgeräte gefunden und den Hehler ausfindig gemacht, über den Tony seine Beute verkauft hatte. Außerdem hatte sich sein Kung-Fu-Trainer Reinhold bei der Polizei gemeldet und zu Protokoll gegeben, dass Tony dort unter einem falschen Namen gemeldet war.
Natürlich waren auch Tonys Narben zur Sprache gekommen. Seine Eltern erklärten, dass er schon als kleiner Junge hyperaktiv war und sich dauernd selbst verletzte. Mehrmals habe er deswegen im Krankenhaus behandelt werden müssen. Außerdem hätte er sich schon von klein an mit anderen geprügelt. Und da er meist bedeutend größere Kinder angriff, war er oft heftig verdroschen worden.
Als der Staatsanwalt Roland Fuhrmann fragte: „Was sagen Sie dazu, dass Ihr Sohn behauptet, dass Sie ihm seine Narben zugefügt haben?“, hatte der aufstöhnend geantwortet: „Ich weiß nicht, warum er das behauptet. Ich schwöre, ich habe ihn nie geschlagen.“
Tony selbst musste nicht vor Gericht erscheinen. Er war direkt vom Krankenhaus in die geschlossene Abteilung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden.
Gutachter bescheinigten, dass er wohl schon sehr lange unter einer schweren Persönlichkeitsstörung und schizoiden Psychose gelitten haben musste. Er habe mit Melanie in einer paranoiden Scheinwelt gelebt, einer Art dauerndem Belagerungszustand. Dies habe jedoch nur funktioniert, solange Melanie sich ihm immer bedingungslos untergeordnet hatte. Wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit zunehmend versucht, aus der engen Beziehung zu ihrem Bruder auszubrechen, und er hatte dann auch in ihr eine Feindin gesehen.
„Aber wie erklären Sie sich, dass die Mitarbeiter des Tagesheims, in dem Melanie betreut wurde, davon überzeugt sind, dass er ihr niemals etwas zuleide getan hätte?“, fragte der Staatsanwalt eine Gutachterin.
Die Gutachterin nahm ihre Lesebrille ab und sah ihn an. „Wissen Sie, das ist nicht ungewöhnlich. Derart gestörte Menschen können sehr überzeugend sein. Sie sind Meister darin, ihrer Umwelt etwas vorzugaukeln.
“Wir sprechen hier von einem Kind.“
„Von einem Kind, bei dem eine außergewöhnlich hohe Intelligenz mit einer kranken Psyche gepaart ist. Eine unheilvolle Kombination.“
Der Staatsanwalt runzelte die Stirn. „Müsste es so ein Kind nicht für unter seiner Würde erachten, in die Schule zu gehen und brav am Unterricht teilzunehmen? Aber Tony Fuhrmann war ein ausgezeichneter Schüler. Sogar der Klassenbeste.“
Sie gab eine weitschweifende Erklärung ab, die mit vielen Fachausdrücken gespickt war.
Gwanwyn, deren Deutsch nicht so perfekt war, raunte in Elisabeths Ohr: „Ich verstehe kein Wort. Was, um Himmels Willen, faselt sie da?“
„Es läuft darauf hinauf, dass gerade dieses Wohlverhalten im Unterricht zeigt, wie gefährlich Tony ist.“
„Die spinnt selber.“
Elisabeth schnappte plötzlich ihren Aktenkoffer. „Komm, wir gehen. Ich halte das nicht mehr aus.“
Am Abend saß Gwanwyn zusammen mit Ralf und seiner Mutter bei den Schefflers vor dem Fernseher. In den Nachrichten sahen sie, wie er zusammen mit seiner Frau das Gerichtsgebäude verließ. Er wirkte trotz seines Freispruchs tief erschüttert. Als mehrere Reporter ihm Mikrofone unter die Nase hielten, blieb er stehen. Er legte den Arm um Tonys Mutter und sagte: „Jetzt werden meine Frau und ich uns um unseren Sohn kümmern. Wir wollen, dass er geheilt wird und trotz dieses schrecklichen Ereignisses eines Tages ein glückliches Leben führen kann.“
Im Wohnzimmer der Schefflers war es still.
„Was wird jetzt aus Tony?“, fragte Irmtraud nach einer Weile.
„Sie können ihn so lange in der Geschlossenen behalten, bis er angeblich geheilt ist“, erklärte Elisabeth resigniert. „Das heißt Jahre.“