III
Er saß in einem der bunt gemusterten Ohrenbackensessel im Aufenthaltsraum und sah aus dem vergitterten Fenster.
Seit dem Morgen herrschte in seinem Inneren Alarm. Er musste sich unbedingt beruhigen, damit er klar denken konnte.
Draußen blühten die ersten Krokusse. Die Patienten, die sich frei bewegen durften, gingen zwischen den verschiedenen Gebäuden des psychiatrischen Zentrums spazieren oder halfen den Gärtnern, neue Blumenrabatten anzulegen. Die Insassen seiner Abteilung gehörten nicht dazu. Sie waren 15 Kinder und Jugendliche, die für sich selbst und andere angeblich eine Gefahr darstellten. Der Jüngste war 8, und die Älteste 17. Überall, selbst in ihren Schlafzimmern waren an der Decke Kameras befestigt, deren Monitore im Betreuerraum an der Wand hingen.
Er sah zur Küche, deren eine Wand oberhalb der Arbeitsplatte verglast war. Die beiden essgestörten Mädchen bereiteten dort zusammen mit einer Betreuerin das Essen vor. Es würde aus viel Obstsalat und Gemüse bestehen. Normalerweise hätte er das geschätzt, aber seit Melanies Tod war ihm völlig egal, ob er sich gesund ernährte.
Er wandte den Kopf seinen übrigen Mitgefangenen zu. Bis vor wenigen Minuten hatten sie noch einem Lehrer gegenüber gesessen. Er kam jeden Tag und sorgte dafür, dass sie nicht den Anschluss an die Schule verloren. Doch jetzt nutzten sie aus, dass sie während der kurzen Zeit bis zum Essen tun und lassen konnten, was sie wollten. Natürlich nur, solange sie keine Schlägereien anfingen oder die Einrichtung zerlegten. Nach dem Essen würden sie Hausaufgaben machen müssen, und danach war wieder Therapie angesagt. Jeder von ihnen musste täglich, entweder allein oder zusammen mit den anderen, beim Psychogequatsche über seine Probleme reden, mit dem Ergotherapeuten irgendwelchen Kram basteln oder zum Logopäden, um einen Sprachfehler wegzutrainieren.
Ein Schrei zerriss die Stille. Das war Jens, der seit vorgestern in der Gummizelle lag.
Wie das? Hatten sie ihm keine Beruhigungsmittel gegeben?
Da folgten weitere Schreie.
Jens war der Grund dafür, dass es bis vor wenigen Augenblicken ungewöhnlich friedlich gewesen war. Ihre Betreuer hatten mal wieder beschlossen, dass er der Hauptverantwortliche für das Geschrei und die Rangeleien der letzten Tage war. Armer Jens. In Wirklichkeit landete er nur deshalb so oft in der Gummizelle, weil ihm wirklich jegliches Talent dafür abging, sich bei den Betreuern einzuschmeicheln. Außerdem litt niemand so sehr unter einem Aufenthalt dort wie er. Es brachte Jens fast um. Er tobte und schrie, obwohl er wusste, dass sie dann das Fixierbett hineinschoben und ihn festgurteten.
Auch Tony hatten sie tagelang in diesen sogenannten „Ruheraum“ gesperrt. Weil er sich allem verweigert hatte. Weil er weder am Unterricht noch an irgendwelchen Therapieaktivitäten teilgenommen hatte. Und eine Zeit lang hatte er nicht einmal gegessen. Zu ihrem Leidwesen ließ er jedoch auch diese Einzelhaft stoisch über sich ergehen. Erst als sie drohten, ihn künstlich zu ernähren, beschloss er, wenigstens zu essen, und durfte den Ruheraum wieder verlassen. Alles andere verweigerte er nach wie vor. Und man ließ ihn gewähren.
Bis heute Morgen hatte er gedacht, dass das Thema damit erledigt war. Falsch gedacht.
Tony atmete tief durch. Wegen der Kamera an der Decke ließ er sich nicht anmerken, dass er hellwach war. In seinem Kopf ratterte es.
Seit Melanies Tod war er in einem seltsamen Zustand. Einerseits hörte er alles wie aus weiter Ferne, und was er sah, schien nicht in dieser Wirklichkeit zu geschehen, sondern in einer Parallelwelt. Aber gleichzeitig schienen seine Sinne besser zu funktionieren als jemals zuvor in seinem Leben. Vor allem der Gehörsinn. Deshalb hatte er heute Morgen auch die Bemerkung des Arztes gehört, die garantiert nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war: Es sei an der Zeit, ihm Medikamente zu geben, die ihn kooperativer machen würden, hatte der Arzt gesagt.
Scheiße.
Schuld waren seine Eltern. Sie konnten ihn einfach nicht in Frieden lassen. Alle zwei Wochen kamen sie in die Klinik und zogen ihre Nummer ab. Sie sprachen mit den Therapeuten und den Betreuern. Danach bekam Tony immer zu spüren, wie die mit seinen armen Eltern mitlitten. Da sie mit ihm keinen Deut weiter kamen, glaubten sie zu verstehen, was seine Eltern mit ihm durchgemacht haben mussten.
Natürlich weigerte er sich, seine Eltern zu sehen. Doch jetzt sollte er diese besonderen Medikamente bekommen. Das hatte ihn wachgerüttelt. Denn damit war klar: Er musste weg von hier!
Er hatte schon früher Beruhigungsmittel bekommen. Am Anfang hatte er sie sogar geschluckt, denn der Schmerz über Melanies Tod, und dass sein Vater damit durchgekommen war, war einfach unerträglich gewesen. Später spuckte er sie heimlich wieder aus, benahm sich aber, als würde er sie immer noch nehmen. Niemand wusste daher, dass er wieder bei sich war und sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. Mit den anderen Medikamenten, von denen jetzt die Rede war, wäre es damit vorbei. Er hatte erlebt, was mit seinen Mitpatienten geschah, die das Zeug schluckten. Sie waren nicht mehr sie selbst. Außerdem passten die Betreuer bei diesen Medikamenten richtig scharf auf, dass man sie nicht wieder ausspuckte. Oder sie verabreichten sie gleich als Spritzen.
Sie konnten praktisch jeden Moment damit anfangen!
Tony senkte den Kopf noch tiefer, damit wirklich absolut niemand mitbekam, dass er fieberhaft an einem Fluchtplan arbeitete.
Es musste noch in dieser Nacht sein. Aber wie?
Die Betreuer hatten keine Schlüssel bei sich, die er hätte stehlen können. Die Stationstür ging nur dann auf, wenn man in ein kleines Kästchen einen Zahlencode eingab. Und danach war man erst im Treppenhaus. Unten gab es noch eine Pforte, und nur wenn der Pförtner geprüft hatte, wer hinauswollte, drückte er bei sich drinnen einen Zahlencode, und die Tür ging auf.
Es gab nur einen Weg. Er musste den Nachtdienst mit einer Waffe bedrohen und sich mit ihm als Geisel den Weg hinaus erzwingen. Aber wie sollte er an eine Waffe kommen? Wenn man hier eingeliefert wurde, musste man alle scharfen Gegenstände abgeben, außerdem Feuerzeuge, Sprühdeos, Gürtel, Schals, Schnürsenkel und Glasgegenstände. Auch an die Messer in der Küche kam er nicht heran. Sie wurden dauernd gezählt. Außerdem war die Küche immer abgeschlossen, wenn nicht gerade gekocht wurde.
Es gab in dieser ganzen verdammten Station nichts, womit die Patienten sich selbst oder anderen irgendeine Verletzung zufügen konnten.
Er grübelte und grübelte. Dann kam die Erleuchtung.
Es war ein Uhr morgens. Schon seit einer Stunde rannte er alle paar Minuten auf die Toilette. Jedes Mal bemühte er sich, kränker zu wirken, denn auch auf dem Gang und im Vorraum des Klos waren Kameras installiert. Zurück im Bett, hielt Tony sich immer wieder seine Bettdecke vor Nase und Mund, bis er schwitzte und sein Puls raste. Zusätzlich hatte er sich mit einer Creme über das Gesicht und die Haare gestrichen, so dass seine Haut unnatürlich glänzte. Gut, dass ihm das mit der akuten Blinddarmentzündung eines Klassenkameraden im vorigen Jahr eingefallen war. Es war während eines Ausflugs nachts in einer Jugendherberge geschehen, und er konnte sich noch an jedes Detail erinnern. Gut auch, dass er seinen eigenen Blinddarm noch hatte!
Er begann, laut zu stöhnen. Keine zwei Minuten später war der Nachtdienst bei ihm.
„Was fehlt dir denn?“, fragte der Betreuer besorgt.
„Ich habe solche Bauchschmerzen“, jammerte Tony und krümmte sich zusammen, „und mir ist schlecht.“
„Musstest du dich übergeben?“
„Ja, aber es hat nicht geholfen. Ich habe auch Durchfall, aber das hilft auch nicht. Die Schmerzen werden immer schlimmer.“
Der Betreuer berührte Tonys Stirn und tastete behutsam seinen Bauch ab. Tony wimmerte erbärmlich.
Der Betreuer verschwand und kehrte mit einer bleichen jungen Ärztin mit zerdrückten Haaren zurück. Auch sie tastete ihn ab.
„Er muss ins Krankenhaus. Das ist der Blinddarm.“
Der Betreuer rannte hinaus. Kurz danach kam er wieder.
„Der Krankenwagen kommt gleich.“
Tony stöhnte weiter. Der Betreuer und die Ärztin redeten beruhigend auf ihn ein. Wenige Minuten später ertönte eine Klingel. Der Betreuer rannte hinaus und kam mit zwei Rettungsassistenten zurück. Sie schnallten ihn auf eine Trage, und los ging es.
Auch im Krankenwagen spielte er seine Rolle weiter. Schließlich hielten sie vor einer Klinik.
Die Rettungsassistenten zogen ihn heraus. Jetzt! Tony öffnete den Gurt und sprang von der Liege. Dem Mann, der ihm am nächsten war, stieß er die Faust in den Magen und rannte davon.
„Halt! Bleib stehen!“, riefen sie und liefen hinter ihm her. Aber sie waren zu langsam für einen immer noch sehr durchtrainierten und vor allem sehr entschlossenen Dreizehnjährigen.