VIII
Es war früh am Morgen. Draußen war es noch dunkel. Bassus saß an Tonys Bett und beobachtete ihn. An der Art, wie er sich regte, glaubte er eine Veränderung wahrzunehmen. Er beugte sich vor. Gebannt betrachtete er die gequälten Gesichtszüge des bis auf die Knochen abgemagerten Jungen. Plötzlich schlug Tony die Augen auf.
„Kannst du mich sehen?“, fragte Bassus ihn.
Langsam nickte Tony.
„Weißt du, wer ich bin?“
Tony mühte sich ab.
„Bassus“, hauchte er schließlich.
„Den Göttern sei Dank.“
Tony versteifte sich. Beim Anblick des Entsetzens, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, krampfte sich Bassus das Herz zusammen.
„Wo bin ich?“, fragte Tony.
„Im Valetudinarium der Ala Noricorum.“
„Und Perpenna?“
„Du wirst ihn nie wieder sehen.“
Die Nachricht schien Tony nicht zu erleichtern.
„Wer hat mich gekauft?“, fragte er stattdessen.
„Niemand. Du bist jetzt ein freier römischer Bürger.“
„Muss ich zu Severus zurück?“
„Das ist vorbei. Wenn du genesen bist, wirst du im Valetudinarium bei Wackeron in die Lehre gehen. Fabius Pudens hat das beim Praefectus der Ala durchgesetzt.“
„Ich soll Arzt werden?“ Tony sagte es ohne jegliches Interesse.
„Natürlich nur, wenn du das möchtest.“
Es dauerte eine Weile, bis Tony weitersprach. „Ist Wackeron mein neuer pater familias?“, fragte er.
„Nein. Du gehörst jetzt zu mir.“
Bassus wartete gebannt auf Tonys Reaktion. Doch es kam nichts. Wo war die Aufsässigkeit geblieben? Zumindest hätte er jetzt fragen müssen, was das bedeutete.
Gerade als Bassus ihn fragen wollte, ob er überhaupt verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte, betrat Wackeron das Krankenzimmer.
„Oh, ist da etwa jemand wach?“, fragte er herzlich.
„Wackeron“, flüsterte Tony.
Bassus trat zur Seite, und der Arzt setzte sich auf die Bettkante.
„Ich bin froh, dass du wieder bei uns bist“, sagte er.
Tony schwieg. In seinem Blick lag eine unbeschreibliche Hilflosigkeit.
In diesem Moment ertönte draußen der Klang der Trompete.
Bassus straffte seine Schultern. „Ich muss zum Dienst, Tony. Heute Abend komme ich wieder.“
Während Bassus in der Dunkelheit durch die breiten Straßen des Lagers Durnomagus eilte, versuchte er, seine Umgebung mit Tonys Augen zu sehen. Es herrschte das übliche frühmorgendliche Treiben, und er musste aufpassen, dass er nicht mit einem seiner Kameraden zusammenstieß.
Das Valetudinarium lag unmittelbar hinter dem Praetorium, in dem der Praefectus mit seiner Familie lebte. In den offiziellen Räumen im Erdgeschoss waren bereits alle Fenster erleuchtet. Gerade betraten die höheren Offiziere der Ala das Gebäude, um beim Praefectus die Losung und die Tagesbefehle abzuholen. Einfache Soldaten kamen entweder von den Latrinen oder vom Bäcker, wo sie frisch gebackenes Fladenbrot für ihr Contubernium geholt hatten.
Wie sollte er Tony diese Welt näher bringen?
Als Erstes würde er wohl erklären müssen, dass alle Lager der römischen Armee nach dem gleichen Muster ausgelegt waren, egal, ob sie aus Holz oder Stein oder nur aus Zelten für eine Nacht bestanden. In der Mitte standen die Principia und das Praetorium. Dort kreuzten sich auch die Hauptstraßen, die jedes Lager in seiner gesamten Länge durchschnitten: die Via Praetoria, die Via Decumana und die Via Principalis, die alle zu ihren jeweiligen Eingangstoren führten.
Seit 27 Jahren kannte er nichts anderes.
In dieser Welt fand er sich im Schlaf zurecht.
Aber wie würde Tony darauf reagieren?
Und wie würde er mit den Ritualen dieser Welt umgehen? Mit der Verehrung der Götter und des Imperators? Der Verehrung der Feldzeichen? Der ganzen Kette aus Befehl und Gehorsam? Den drakonischen Strafen für diejenigen, die sich nicht einfügten? Dem täglichen Drill, der nicht nur dazu diente, dass die Männer im Notfall blitzschnell einsatzbereit waren, sondern auch, dass sie nicht auf dumme Gedanken kamen. Denn schließlich waren sie ein bunt zusammen gewürfelter Haufen aus allen Teilen des Imperiums. Nicht alle waren freiwillig da, und viele wussten nicht, wie sie ihr Temperament zügeln konnten. In der Armee wurden sie deswegen nicht nur ausgebildet, sondern auch erzogen. Und es lag in den Händen von Offizieren wie Fabius Pudens, dafür zu sorgen, dass der Drill gerade so anstrengend war, dass er Disziplin und Gehorsam zur zweiten Natur der Männer machte, aber nicht so übertrieben, dass sie den Soldatenberuf hassten.
Bassus musste zugeben, dass es der römischen Armee am Ende immer gelang, die Soldaten zu einer Familie zusammenzuschweißen, in der jeder mit Stolz erfüllt war, dazuzugehören. Auch an ihm selbst war diese Erziehung nicht spurlos vorübergegangen.
Er bog in die Straße ein, in der der Wohnblock seiner Turma lag. Fabius Pudens betrat gerade das erste Contubernium.
Drinnen brüllte er: „Seid gegrüßt, Reiter!“
Und die Männer brüllten im Chor zurück: „Sei gegrüßt, Decurio!“
Vier Türen weiter betrat Bassus sein eigenes Contubernium. Er ging durch die Waffenkammer und betrat das Papilio. Donatus und seine anderen Kameraden erwarteten ihn schon. Während sie noch schnell aufräumten, hörten sie, wie Pudens auf seinem Weg immer näher kam. Jetzt war er im Contubernium nebenan.
„Sag mal, Schwarzlöckchen, willst du der Frau des Praefectus Konkurrenz machen?“, hörten sie ihn durch die Wand jemanden anraunzen.
Sie grinsten einander an. Sie ahnten, wen Pudens meinte.
Und schon hörten sie auch die Stimme des jungen Reiters: „Verzeihung, Decurio, gleich heute Abend lasse ich sie vorschriftsmäßig schneiden.“
„Nicht heute Abend! Jetzt!“, brüllte Pudens. „Beim Appell möchte ich dich mit kurzen Haaren sehen.“
„Zu Befehl, Decurio.“
Wenige Sekunden später war Pudens bei ihnen. Sie sprangen auf und standen stramm. Fabius Pudens prüfte, ob sie ihre Decken akkurat gefaltet und die Bettlaken makellos glatt gezogen hatten. Danach sah er jedem aufmerksam ins Gesicht, um festzustellen, ob einer von ihnen krank oder verletzt war. Einer der Reiter hatte ein blaues Auge.
„Wie ist das passiert, Hortensus?“, herrschte Pudens ihn an. „Warst du etwa in eine Schlägerei verwickelt?“
„Nein, Decurio, es ist im Übungsraum geschehen.“
„Hauch mich mal an.“
Der Soldat tat es. Pudens knurrte vor sich hin.
„Gut“, sagte er schließlich, „frühstückt zu Ende“, und stürmte hinaus.
Der Soldat mit dem blauen Auge atmete auf. Hätte sein Decurio festgestellt, dass er betrunken war, wäre er sofort in die Principia zur Arrestzelle geführt worden.
Während sie aßen, fragte ihn Donatus: „Bassus, was ist los mit dir? Du bist so schweigsam.“
„Tony ist aufgewacht.“
„Endlich.“ Donatus freute sich. „Wie geht es ihm?“
„Ich weiß es nicht.“
„Das verstehe ich nicht.“
Bassus legte sein Stück Käse auf den Teller zurück und wischte sich die Hände ab. „Er ist zwar wieder da, aber er macht keinen besonders lebendigen Eindruck.“
„Das gibt sich sicher. Er braucht einfach Zeit.“
„Ja, wahrscheinlich.“
„Hast du ihm gesagt …“
„Nur, dass er ab jetzt zu mir gehört.“
„Und, wie hat er darauf reagiert?“
„Gar nicht.“
„Wie, gar nicht? Er muss doch etwas gesagt haben?“
„Nein.“
Donatus legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich bin sicher, dass er darüber froh ist. Alles wird sich fügen, du wirst sehen. Außerdem bist du nicht allein.“
„Ja, wir sind auch noch da“, bestätigten die Kameraden, die dem Gespräch gefolgt waren.
Bassus musste lächeln. Es waren Momente wie diese, in denen er mit seinem Beruf versöhnt war. Diesen Zusammenhalt gab es nur in der Armee.
Es klopfte. Zwei Calones traten ein und riefen, dass die Pferde draußen bereit standen. Danach halfen sie ihnen, für die täglichen Übungen ihre Kampfausrüstung anzulegen.
Bassus band sein Halstuch um. Ein Calo brachte ihm das Kettenhemd. Bassus zog es über dem Gürtel etwas hoch, damit ein Teil des Gewichtes auf seinen Hüften lag. Dann reichte ihm der Calo sein Langschwert, seinen Helm, seinen Speer und seinen Schild. Den Köcher mit den Wurfspeeren trug der Calo, während sie nach draußen gingen, hinter ihm her und befestigte ihn, nachdem Bassus auf Teres aufgesprungen war, am Sattel.
Inzwischen war es hell geworden. Bassus atmete tief ein. Wieder machte er sich Sorgen wegen Tony. In der Nacht war es oft unerträglich stickig in ihrem Papilio. Es fiel ihm schon seit Jahren nicht mehr auf. Doch jetzt fragte er sich, wie das für Tony sein würde. Würden ihn die Enge und die schlechte Luft an Perpennas Verlies erinnern?
Einige von Bassus‘ Kameraden waren noch nicht bereit. Fabius Pudens wartete bereits ungeduldig auf seinem Pferd. Als endlich alle aufsaßen und in Formation vor ihm standen, bellte er: „Morgen erwarte ich, dass ihr eure Ärsche etwas schneller bewegt! Und jetzt fangt an!“
Die Reitersoldaten riefen der Reihe nach ihren Namen und ihre Funktion. Als der letzte fertig war, teilte Pudens ihnen die Losung mit. Danach forderte er sie auf, ihm zu folgen.
Unterwegs ritt ihre Turma an einem Trupp Reiter vorbei, die zu Fuß unterwegs waren. Sie hatten etwas ausgefressen und mussten die Latrinen putzen. Die Männer von Fabius Pudens grinsten. Es gab Schlimmeres, als morgens einem übel gelaunten Decurio hinterher zu reiten.
Als Bassus das Valetudinarium am Abend wieder betrat, löffelte Tony Suppe aus einer größeren Schale. Er tat es völlig mechanisch. Freude oder ein anderes Gefühl schien er dabei nicht zu empfinden. Offensichtlich war ihm auch völlig egal, was er sich da in den Mund schob. Besorgt nahm Bassus Wackeron zur Seite.
„Wird sein Körper nicht rebellieren, wenn er gleich so viel isst?“
„Ich glaube, er verträgt es“, beruhigte ihn Wackeron. „Es ist eine dünne Hühnersuppe, sie wird nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist stärken.“
„Hoffen wir es. Hast du noch einmal mit ihm gesprochen und ihm alles erklärt?“
„Nur was seinen zukünftigen Status im Valetudinarium betrifft, nichts über eure Beziehung. Das wollte ich dir überlassen.“
Während Bassus darüber nachdachte, wie er das Thema anschneiden konnte, betrat Fabius Pudens das Krankenzimmer. Mit gespielter Überraschung blieb er stehen.
„Ja, wen sehe ich denn da?“, rief er und schlug die Hände zusammen.
Tony stellte die Schale ab. Obwohl er noch sehr schwach war, kämpfte er sich hoch, bis er schwankend auf seiner Bettkante saß. Ehrerbietig legte er die Hand auf sein Herz und neigte den Kopf.
„Decurio, Ich danke Ihnen, dass Sie sich beim Praefectus so für mich eingesetzt haben und ich hier in die Lehre gehen darf.“
„Schon gut“, winkte Pudens verwundert ab, „mach uns einfach keine Schande.“ Er zwinkerte Tony freundlich zu.
„Ich verspreche, dass ich immer meinen Pflichten nachkommen werde“, sagte Tony ernst.
„Nicht so förmlich. Lehn dich zurück und iss weiter“, befahl Pudens.
Tony tat, wie ihm geheißen wurde.
Bassus verließ das Zimmer, fassungslos, den Jungen so untertänig zu sehen.
Draußen fiel aus dem nächtlichen Himmel ein viel zu früher, nasser Schnee. Bassus stellte sich unter das Vordach des Valetudinariums und betrachtete die Pfützen, in denen sich die Öllampen spiegelten. Eigentlich war gerade erst der Herbst angebrochen. Doch die Bauern meinten, es würde diesmal einen frühen und langen Winter geben.
Widersprüchliche Gefühle regten sich in ihm. Seine Befürchtungen, dass Tony schwierig sein könnte, schienen sich nicht zu bewahrheiten, aber dieser neue, willfährige Tony zerriss ihm das Herz. In dem Jungen war offensichtlich etwas für immer zerbrochen, und sicher wäre es besser für ihn, wenn er in seine eigene Zeit zurückkehren konnte.
Doch wie sollte das geschehen?
Die Prophezeiung des Druiden hatte sich erfüllt. Und das konnte nur bedeuten, dass Tony nun für immer hier bleiben musste.
Was für ein Preis.
Nein. Das wollte er nicht.
Bassus’ Brustkorb verengte sich. Die Begegnung mit dem Druiden lag inzwischen fast 25 Jahre zurück. Und noch immer war er nicht sicher, ob der Druide sein Freund oder sein Feind gewesen war.
Was waren das für Schutzgötter, die einen dreizehnjährigen Jungen tagelang neben einem Leichnam angekettet ließen?
Aus den Contubernia in seiner Nähe hörte er Gelächter, aber auch eine einsame männliche Stimme, die ein trauriges Lied sang. Aus welcher Region des Imperiums der Sänger wohl stammte? Afrika? Hatte er sich freiwillig bei den Reitertruppen der Auxiliaren verpflichten lassen, oder war er gezwungen worden?
Ein dunkler Schatten raste aus der Richtung der Pferdeställe auf Bassus zu. Es war Harpalos, der bei Teres gewesen war und zu Tony zurückkehrte.
Lachend wehrte Bassus ihn ab. „Geh weg, du bist nass, alter Junge.“
Doch Harpalos konnte es nicht lassen, seine Freude zum Ausdruck zu bringen. Erst als Fabius Pudens herauskam, ließ er von Bassus ab, um auch den Decurio stürmisch zu begrüßen.
„Genug“, sagte der, nachdem er ihm ausgiebig die Ohren gekrault hatte, „lauf zu Tony.“
Harpalos schoss davon.
Pudens stellte sich neben Bassus. Seine Gegenwart hatte etwas Tröstendes. Jetzt klopfte er Bassus auf den Rücken.
„Du wirst das mit dem Jungen schon schaffen“, sagte er.
Dann zog er die Kapuze seines Mantels über den Kopf und lief zu seinem Contubernium.
Bassus beobachtete, wie er mit langsamen, weit ausholenden Schritten die tieferen Schneepfützen vermied.
Neun Jahre diente er nun schon unter ihm. Immer hatte Pudens seine schützende Hand über ihn gehalten. Er respektierte Bassus‘ Grundsatz, niemals jemanden zu töten, der nicht mit einer Waffe auf ihn oder andere losgegangen war. Gegenüber den Praefecten, die glücklicherweise häufig wechselten, wies Pudens immer darauf hin, wie vielen seiner Kameraden Bassus schon das Leben gerettet hatte und wie viele wichtige Informationen er von seinen gefährlichen Kundschaftergängen mitbrachte.
Seinem Alter und seinen Dienstjahren nach hätte Bassus längst selbst Decurio oder zumindest Duplicarius sein müssen. Doch das war ihm egal. Auch der doppelte oder vierfache Sold, den er dann bekommen hätte, interessierte ihn nicht. Hin und wieder befehligte er auf seinen Kundschaftermissionen als Principal kleinere Gruppen von Exploratores. Dann erhielt er etwas mehr Sold als ein einfacher Reiter. Und weil er kaum Bedürfnisse hatte und außer Orbiana nie jemand wirklich zu ihm gehört hatte, waren seine Ersparnisse inzwischen sogar zu einer beeindruckenden Summe angewachsen.
Orbiana! Wie sehr er sie vermisste. Sie wäre auch mit diesem neuen, zerbrochenen Tony zurechtgekommen.
„Hilf mir, Orbiana“, flüsterte er.
Und nach langer Zeit fühlte er auf einmal wieder ihre Gegenwart. Aus seinem tiefsten Inneren glaubte er ihre Stimme zu hören: „Hör auf, dir Gedanken zu machen. Gib einfach dein Bestes. Alles andere wird sich fügen.“
Ein heftiger Wind kam auf. Essensgerüche wehten ihm in die Nase. Sein Magen knurrte. Er wickelte sich in seinen Mantel und lief los. Nach wenigen Schritten blieb er jedoch wieder stehen und sah in den dunklen Himmel hinauf. Die schweren Flocken fielen auf sein Gesicht und schmolzen sofort. Bart und Kopfhaare waren nach wenigen Sekunden tropfnass. Er bemerkte es nicht. Er hatte eine Idee.
Ungeduldig klopfte Bassus bei Fabius Pudens an die Tür. Inzwischen hatte er vergessen, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er klopfte noch einmal. Keine Antwort.
Er ging zu seinem eigenen Contubernium. Seine Kameraden spielten vor der Feuerstelle ein Würfelspiel. Donatus sprang auf.
„Du musst gleich wieder los. Der Imperator erwartet dich. Unser Decurio ist schon bei ihm.“
Während Bassus die Via Praetoria hinaufeilte, hing er seinen Gedanken nach. Alles fügte sich gut. Gleich konnte er Pudens und Nerva Trajanus seine Idee mitteilen. Nein, keine Idee. Es war ein Entschluss. Und er kam eigentlich auch nicht so plötzlich. Seit Trajanus vor wenigen Wochen verkündet hatte, dass Soldaten bereits nach 25 Jahren Militärdienst in den Ruhestand gehen konnten, hatte er immer wieder mit dem Gedanken gespielt. Und jetzt war er sicher.
Er würde den Militärdienst quittieren und für sich und Tony in der Siedlung neben dem Lager eine Wohnung mieten. Von dort konnte Tony jeden Morgen ins Lager gehen, um seine Ausbildung im Valetudinarium zu beginnen.
Und er selbst? Er würde endlich das Leben leben, von dem er als junger Mann immer geträumt hatte. Er dachte an die große Truhe in der Waffenkammer seines Contuberniums. Wenn er eine eigene Wohnung hätte, könnte er den Inhalt dieser Truhe endlich auspacken und auf Regalen verteilen, so dass er immer danach greifen konnte. Er fühlte sich auf einmal leicht.
Und wer weiß? Mit der Zeit würde Tonys Seele vielleicht heilen, und er würde wieder der aufmüpfige und an allem interessierte Junge werden, der er gewesen war.
Die Wachen am Praetorium stellten ihre Lanzen wortlos senkrecht. Bassus nickte ihnen zu und trat ein.
Nerva Trajanus, der Praefectus und Fabius Pudens erwarteten ihn im Arbeitszimmer und bedeuteten ihm, sich zu setzen. Die Männer sahen ernst aus.
„Ich habe gehört, dass Tony aufgewacht ist“, begann Trajanus. „Das freut mich.“
„Danke. Aber es wird sicher dauern, bis er sein Erlebnis überwunden hat.“
Trajanus lächelte. „Da mache ich mir keine Sorgen. Er ist bei dir in den besten Händen.“
Bassus wurde auf einmal klar, was für einen großen Schritt seine Entscheidung nach 27 Jahren Militärdienst bedeutete. Er holte tief Luft.
„Imperator. Aufgrund der neuen Situation habe ich einen Entschluss gefasst“, begann er.
Trajanus hob die Augenbrauen und sah ihn aufmerksam an. „Nur zu, Bassus“, ermunterte er ihn.
„Ich möchte in den Ruhestand versetzt werden und mit Tony in eine Wohnung in der Siedlung ziehen.“
Ihm war gar nicht in den Sinn gekommen, dass es Probleme geben könnte. Doch das nun folgende Schweigen machte ihn unsicher.
„Spricht irgendetwas dagegen?“, fragte er.
Trajanus hob die Hand und ließ sie wieder fallen. „Ausgerechnet jetzt ist kein guter Moment für dein Anliegen“, sagte er. „Wie du sicher weißt, steht in meinem Erlass auch, dass der Praefectus dem Antrag auf Entlassung zustimmen muss.“
„Natürlich weiß ich das.“
„Das heißt, er kann den Antrag ablehnen, wenn der betreffende Soldat Fähigkeiten hat, die noch gebraucht werden.“
„Ja, sicher“, antwortete Bassus zögernd und wartete gespannt ab.
Er musste Trajanus entgegenkommen, denn der hatte sich weit über alle Verpflichtungen hinaus für ihn und Tony eingesetzt.
„Es gab gestern Nacht wieder einen Überfall auf ein Gut“, erklärte Trajanus. „Alle Bewohner wurden getötet, auch die Frauen und Kinder. Sogar das Vieh. Danach wurde alles angezündet.“
Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, und Bassus war wieder Soldat. Sofort fragte er: „Das heißt, es gibt einen Kopf hinter diesen Überfällen, der noch immer sein Unwesen treibt?“
„So ist es.“
„Dann war er beim Überfall auf das Gut von Severus nicht dabei. Uns ist niemand entkommen.“
Jetzt mischte sich der Praefectus ein. „Was ist das für ein Germane, der nicht selbst an den Überfällen teilnimmt, die er befiehlt?“
Pudens führte den Gedanken fort: „Und der als Anführer respektiert wird, obwohl er selbst nicht kämpft?“
„Auf jeden Fall muss er ein außergewöhnlich fähiger Mann sein“, sagte Trajanus, „wenn auch mit einem unbändigen Hass auf alles, was römisch ist. Hast du eine mögliche Erklärung dafür?“
Bassus schüttelte den Kopf. „Wenn uns ein Germane vor 20 oder 30 Jahren gehasst hätte, hätte ich es verstehen können. Aber nicht jetzt, nicht in diesen Zeiten.“
„Vielleicht ist es etwas Persönliches“, vermutete Trajanus.
Wieder schüttelte Bassus den Kopf. „Dann hätten wir zumindest Gerüchte gehört.“
„Nun, wie dem auch sei“, fasste Trajanus zusammen, „wir müssen ihm auf die Spur kommen. Und da du unser bester Explorator bist, haben wir beschlossen, dir diese Aufgabe zu übertragen.“
Bassus wusste: Wenn es nicht bald gelang, diesen raubenden und mordenden Germanen aufzuspüren, würden sie Strafexpeditionen durchführen. Und dann konnte es entlang des Rheins bald wieder vorbei sein mit den guten Beziehungen zwischen Römern und Germanen.
„Gut. Was soll ich tun?“
Trajanus sah den Praefectus an und neigte kurz den Kopf. „Du bist der Kommandeur dieser Ala.“
Auch der Praefectus neigte den Kopf, jedoch länger und ehrerbietiger.
Dann sagte er: „Dein Vorschlag, mit Tony in der Siedlung zu wohnen, ist gar nicht so schlecht. Du könntest dich von dort aus viel besser umhören. Und wenn du nicht gerade selbst mit Donatus unterwegs bist, kannst du tagsüber hier im Lager neue Exploratores ausbilden.“
Der Praefectus stand auf, und auch Bassus stand stramm.
„Dies ist daher mein Befehl, Titus Flavius Bassus: Du stehst nach wie vor als Explorator im Dienst der Ala Noricorum. Aber sobald es Tony besser geht, ziehst du mit ihm in die Siedlung.“