IX       

 

Harpalos lief vorne. Er schien sich darauf zu freuen, die neue Wohnung besichtigen zu dürfen. Tony und Bassus folgten ihm etwas langsamer, denn es war sehr glatt.

Bassus zog seinen Mantel noch enger um sich. Es war bitterkalt. Bei jedem Schritt knirschte der gefrorene Schnee unter den Sohlen seiner Caligae. Die dicken Filzsocken, an die er sich jeden Winter von Neuem gewöhnen musste, scheuerten noch an seinen Schienbeinen.

Tony schien dieses Problem nicht zu haben. Er stapfte in seinen neuen Fellstiefeln stoisch neben ihm her. Bassus hatte sie erst gestern gekauft, genau wie die langärmelige Wolltunika und die warmen Hosen mit den langen Beinen. Und er hatte sich gefreut: Dies ist also mein neues Leben. Ich sorge dafür, dass ein dreizehnjähriger Junge warm angezogen ist und ein Dach über dem Kopf hat. Und der Junge spricht kaum mit mir.

Er versuchte es noch einmal:„Du wunderst dich sicher darüber, dass in dieser kleinen Siedlung so viele Menschen aus allen Teilen des Imperiums leben? Man würde doch eigentlich erwarten, dass es hier nur Germanen und Kelten gibt, nicht wahr?“

Aber Tony blickte nicht einmal auf, sondern starrte auf den Boden vor seinen Füßen.

„Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“

Jetzt sah der Junge ihn an. Sein Blick war jedoch so stumpf, dass es Bassus das Herz zusammenzog.

„Du hast gesagt, dass hier neben Germanen und Kelten Menschen aus allen Regionen des Imperiums leben“, wiederholte Tony mechanisch. Und sofort wandte er sich wieder dem schneebedeckten Boden zu.

Aber wenigstens schien er zuzuhören. Diese Siedlung würde schließlich sein neues Zuhause sein. Es gab so viele Dinge, die Bassus ihm erzählen wollte, damit Tony begriff, mit was für einem Menschenschlag er es hier zu tun hatte.

„Viele von ihnen sind Angehörige von Reitern der Ala. Manche der Frauen und Kinder sind den Soldaten sogar aus so weit entfernten Gegenden wie Asia oder Afrika hierher gefolgt. Sie sind keine legalen Familien, denn Soldaten dürfen erst nach 25 Jahren Militärdienst offiziell heiraten, nachdem sie das römische Bürgerrecht erworben haben.“

Wieder sah er zu Tony hinüber. Keine Reaktion.

Er redete einfach weiter: „Doch sie werden geduldet. Niemand erwartet ernsthaft, dass die Männer 25 Jahre lang abstinent leben.“

Sie bogen in die Straße ein, in der die Wohnung lag.

„Imperator Trajanus hat vor kurzem eingeführt, dass Soldaten nach 25 Jahren sogar den Dienst quittieren dürfen. Aber nur wenige machen davon Gebrauch.“

„Warum nicht?“, fragte Tony plötzlich.

Bassus war von der Frage so überrascht, dass er stehen blieb.

„Dann wären sie doch frei“, fuhr Tony fort.

Endlich, dachte Bassus erleichtert, Tony interessiert sich wieder.

„Sie empfinden den Militärdienst nicht als Gefangenschaft, Tony. Im Gegenteil. Sie sind stolz darauf, zu einer Elite des Imperiums zu gehören.“

Er wartete auf Widerspruch. Aber es kam nichts mehr. Dafür ging an einem lang gezogenen, einstöckigen Fachwerkhaus eine Tür auf, und ihr zukünftiger Vermieter winkte ihnen zu.

Decimus Julius Maius war ein Veteran der Ala und wohnte mit seiner germanischen Frau Lauba in der linken Hälfte des Hauses. Bassus und Tony sollten in die rechte Hälfte einziehen.

„Kommt herein und seht euch die Wohnung an“, sagte Lauba, die sich inzwischen zu ihrem Mann gesellt hatte.

Bassus betrat den Flur, Tony folgte. Maius öffnete eine weitere Tür, und sie betraten eine große Wohnküche mit einem offenen Herd. Dahinter ging es weiter in zwei Schlafkammern mit je einem Fenster. Durch das eine sah man auf die Straße, das andere führte auf den Hof. Das Fenster der Wohnküche zeigte ebenfalls zur Straße.

Zusammen mit Maius und Lauba sahen sie alles an. Dann ließen die beiden sie allein. Sie setzten sich an den Holztisch der Küche.

„Wie gefällt dir die Wohnung?“, fragte Bassus Tony.

„Gut.“ Dabei sah er auf die Tischplatte.

„In welchem der beiden Zimmer möchtest du schlafen?“

„Das ist mir egal, wie du möchtest.“

„Komm schon, Tony, du hast doch sonst immer zu allem eine eigene Meinung.“

„Es ist deine Wohnung, du entscheidest.“

„Es ist unsere Wohnung. Und ich möchte, dass du dich wohlfühlst.“

„Ich werde mich wohlfühlen.“

„Tony, bitte, du wirst hier mehr Zeit verbringen als ich. Denn du weißt, ich werde viel unterwegs sein.“

Tony kraulte Harpalos den Kopf.

„Kann ich dann das Zimmer mit der Abendsonne haben?“, fragte er schließlich schüchtern. „Wackeron und Morvran wollen mir medizinische Schriften mitgeben, damit ich abends noch darin lesen kann. Da hilft es, wenn es länger hell ist.“

Obwohl Bassus genau wusste, wo welche Himmelsrichtung war, spielte er den Ahnungslosen. „Klar. Wo ist denn hier eigentlich Osten und Westen?“

Jetzt blickte Tony auf. „Hier ist Osten, und da ist Westen“, sagte er und deutete.

„Das mit der Abendsonne ist dann dieses Zimmer, oder?“

„Sieht so aus.“

 

Kaum hatten sie wieder das warme Krankenzimmer im Valetudinarium betreten, kletterte Tony auf sein Bett. Er war kreidebleich.

Von Wackeron wusste Bassus, dass der Junge fast jede Nacht von Alpträumen gequält wurde und schweißgebadet aufwachte.

Es half nichts, das heikle Thema musste angeschnitten werden. Bassus wappnete sich innerlich. Es ging darum, dass er Tony nicht allein lassen wollte in der neuen Wohnung, wenn er auf seinen Kundschaftermissionen war. Er hatte sich genau überlegt, wie er Tony seinen Plan erläutern konnte, und jetzt hoffte er, dass es klappte.

„Tony, da ist noch etwas, das ich mit dir besprechen muss.“

Tony sah ihn höflich, aber ohne Interesse an.

„Natürlich sind wir beide selbst in der Lage, unsere Wohnung sauber zu halten und Essen zuzubereiten. Auch um unsere Kleider können wir uns selbst kümmern.“

Jetzt hatte er Tonys volle Aufmerksamkeit. Er schien alarmiert zu sein.

„Nach deiner furchtbaren Erfahrung mit Perpenna dachte ich, dass wir wenigstens einem armen Teufel helfen sollten.“

„Wie meinst du das?“, fragte Tony vorsichtig.

„Nun, es gibt nur eine legale Art, wie man jemandem helfen kann, der sich in den Händen eines Sklavenhändlers befindet.“ Er sah Tony fest in die Augen. „Indem man ihn kauft und gut behandelt.“ So, jetzt war es heraus.

Doch Tony überraschte ihn. Plötzlich waren seine Augen wach. „Können wir nur einen kaufen?“

Bassus verstand. „Im Moment können wir uns leider nur einen leisten.“

„Schade. Aber besser einer als gar keiner.“

„Möchtest du mich begleiten und ihn aussuchen?“

Tony verkrampfte sich. „Auf einem Sklavenmarkt?“, fragte er leise.

„Natürlich, wo sonst.“

Tony schüttelte zuerst langsam, dann immer heftiger den Kopf. „Nein. Das würde ich nicht ertragen.“

„Gut. Dann werde ich es allein tun.“

Er wollte gerade gehen, als ihm auffiel, dass Tony trotz der Wärme im Zimmer immer heftiger zitterte. Er legte ihm eine Decke um die Schultern und war erleichtert, als Tony sich sofort darin einwickelte.

Bassus ahnte: Tony war ein Kind, ein verlorenes, schutzbedürftiges Kind. Und vielleicht war er das schon vorher gewesen, nur hatte er es nicht bemerkt, weil Tony sich immer solche Mühe gegeben hatte, es zu verbergen.

Gerade als er sich fragte, wie Tony wohl reagieren würde, wenn er ihn einfach in seine Arme nähme, sprang Harpalos auf das Bett, und Tony schmiegte sich an ihn.

 

Zwei Monate später packte Bassus abends seine Sachen für einen mehrtägigen Kundschaftergang. Der Sklave Micon, ein stiller, trauriger Mann aus einer vorderasiatischen Provinz, der für sie putzte, einkaufte und ihre Kleider und Schuhe in Ordnung hielt, bereitete gerade das Abendessen vor. Sie hatten mit einem Vorhang einen Bereich für ihn abgetrennt, in dem sich sein Bett und seine wenigen Besitztümer befanden.

„Es ist angerichtet, Herr“, sagte Micon jetzt.

„Essen!“, rief Bassus laut zu Tonys Zimmertür hin.

Gleich würde er kommen. Denn immer noch war er ein Muster an Gehorsam. Mit einer Schriftrolle in der Hand eilte Tony tatsächlich sofort aus seinem Zimmer. Er hielt sie hoch.

„Ich glaube, hier ist medizinisches Wissen aufgeschrieben, das später wieder für Jahrhunderte verloren gehen wird.“

Den Göttern sei Dank! Tony war bei Wackeron und Morvran mit Feuereifer bei der Sache.

„Worum geht es?“

„Um Trepanation.“

„Also ich würde keinem Arzt erlauben, meinen Schädel aufzubohren. Die meisten Menschen sterben daran.“

„Ja, schon. Aber noch interessanter ist, dass einige es auch überleben und es ihnen danach besser geht.“

„Behaupten die Ärzte“, konnte Bassus sich nicht verkneifen.

Tony setzte sich auf seinen Stammplatz auf der Bank.

Bassus streckte seine Hand aus. „Gib mir die Schriftrolle lieber. Ich glaube nicht, dass Wackeron und Morvran sich über Soßenflecke freuen.“

Tony reichte sie ihm. Zumindest äußerlich machte er inzwischen einen gesunden Eindruck. Und auch das Garum verteilte er wieder freigiebig über allen Speisen.

„Das schmeckt toll, Micon“, sagte er nach einer Weile mit vollem Mund.

Der Sklave, der am Tisch mitaß, lächelte. Er sagte zwar wenig, sah aber alles und reagierte sofort. Jeden Tag freute Bassus sich aufs Neue darüber, dass er eine so gute Wahl getroffen hatte.

Micons Geschichte war schrecklich und typisch. Vor zwei Jahren war sein Land von den Römern besetzt und er von seiner Frau und seinen drei Kindern getrennt worden. Jedes Mitglied seiner Familie war in einen anderen Teil des Imperiums verkauft worden. Es gab keine Hoffnung, dass er sie jemals wiedersehen würde.

Tony blickte sich auf einmal suchend um und stand auf. Sein Teller war noch halb voll. „Harpalos ist nicht da.“

Das stimmte. Der Hund war zum Abendessen sonst immer da.

„Dann ist er eben heute länger unterwegs.“

„Und wenn ihm etwas passiert ist?“

„Was soll ihm schon passieren? Du kennst doch Harpalos.“

Eigentlich sollte er Tony jetzt auffordern, zuerst zu Ende zu essen und dann nach dem Hund zu sehen. Doch das wäre grausam gewesen. Der Hund, der immer noch jede Nacht bei Tony schlief, bedeutete ihm einfach zu viel. Tagsüber war Harpalos immer im Lager, wo einer der Reiter, der sich mit Hunden auskannte, seine Talente erkannt hatte und ihn trainierte. Danach ruhte er sich bei Teres im Stall aus und trottete schließlich eine Weile durch die Siedlung, wo ihn inzwischen jeder kannte. Gegen Abend kam er zu Micon nach Hause und war daher meistens schon da, wenn Bassus und Tony aus dem Lager kamen.

Gerade als er Tony erlauben wollte, nach Harpalos zu sehen, hörten sie, wie er vor der Tür bellte. Tony ließ ihn herein. Harpalos sprang an ihm hoch, als hätte er ihn seit Wochen nicht gesehen. Tony hob den riesigen Hund auf seine Arme und schwenkte ihn im Kreis.

Wenn jetzt jemand hereinkäme, dachte Bassus, würde er denken, dass wir uns alle sehr nahe stehen, dass wir eine richtige Familie sind, wenn auch ohne eine Mutter. Doch in Wirklichkeit sind wir uns überhaupt nicht nah. Wir sind höflich, ja freundlich zueinander, aber ansonsten halten wir Abstand. Ich habe keine Ahnung, was in Tony vorgeht. Ich weiß nicht, wie er seine Erfahrung mit Perpenna verkraftet hat, und ich weiß nicht, was er davon hält, mit mir und Micon eine Wohnung zu teilen.

Am Feiertag hatten sie zusammen mit Donatus, Fabius Pudens und Maius ein Brettspiel gespielt. Plötzlich hatte Tony auf die Rückseite des Bretts in verschiedenen Farben ein Muster für ein Spiel aus seiner Zeit gemalt. Er nannte es „Mensch ärgere dich nicht.“ Es machte großen Spaß. Und als der sonst so korrekte Decurio immer schmutzigere Tricks einsetzte, um zu gewinnen, hatte auch Tony in das allgemeine Gelächter eingestimmt.

Trotzdem entstand keine wirkliche Beziehung zwischen ihnen. Jetzt stand Tony auf und nahm die Schriftrolle wieder mit.

„Gute Nacht“, sagte er und verschwand mit Harpalos in seinem Zimmer.

Und so war es jeden Abend. Kaum waren sie vom Abendessen aufgestanden, half Tony noch beim Abräumen und verschwand in seinem Zimmer. Er lebte nur für die Medizin. Sonst gab es für ihn nichts.

Bassus stand auf. Er würde noch eine Weile in die Taverne an der Ecke gehen und den Gesprächen lauschen. Er hasste es zwar, dort zu sitzen, aber Tavernen waren nun einmal ein Ort, an dem ein Explorator viele nützliche Informationen sammeln konnte.

Später würde Donatus kommen, um ihn abzuholen. Sie würden erst gegen Morgen etwas Schlaf bekommen, wenn sie auf der anderen Seite des Rheins, in Germania Libera, bei einem germanischen Freund angelangt waren.

Bassus wusste, dass er ein guter Explorator war. Die Menschen vertrauten ihm. Und das, obwohl sie an seiner Soldatenkleidung sahen, dass er der Feind war. Außerdem vermuteten die Germanen wegen seines Akzents, dass er Germanisch sehr viel schlechter beherrschte, als es tatsächlich der Fall war. In Wirklichkeit verstand er alles, auch die Feinheiten.

Bassus streckte sich. Die vielen Jahre in der römischen Armee hatten tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen. Er war nicht gerne Soldat, doch hin und wieder – zum Beispiel wenn es dem Frieden diente – war er es mit Leib und Seele. 

 

In eine Decke gewickelt saß Tony am Tisch und las im schwachen Schein der Öllampe in seiner Schriftrolle. Immer wieder wanderte sein Blick zu dem friedlich schlafenden Harpalos.

Es war bitterkalt. Seit seiner Gefangenschaft bei Perpenna litt Tony an immer wiederkehrenden Schmerzen in den Muskeln und Gelenken. Bei dieser feuchten Kälte war es am schlimmsten. Er hätte wer weiß was für ein kleines elektrisches Heizgerät gegeben. Aber die Welt, in der es Strom und Heizungen gab, war so weit weg, dass sie ihm wie ein Traum vorkam.

Nur im Bett war es warm. Micon legte abends einen heißen Stein hinein, an den man seine Füße drücken konnte. Und dann war da noch Harpalos, der wärmte. Natürlich hätte er auch draußen in der Wohnküche lesen können, bei Bassus und Micon. Doch Tony fühlte sich trotz der Kälte bedeutend wohler in seinem Zimmer.

Sein Problem mit Micon war einfach: Obwohl Tony ihn mehrmals darum gebeten hatte, weigerte der sich, ihn bei seinem Namen nennen. Er redete ihn grundsätzlich nur mit „Herr“ an. Nach seiner Erfahrung mit Perpenna löste dies bei Tony jedes Mal Übelkeit aus.

Seine Beziehung zu Bassus war komplizierter. Tony wusste selbst nicht so genau, worin sein Problem mit Bassus bestand. Nun, zum Einen war da natürlich die Tatsache, dass er jetzt „zu ihm gehörte“. Denn immerhin musste er da wohnen, wo auch Bassus wohnte. Und seit er das römische Bürgerrecht hatte, trug er sogar Bassus‘ Namen: Titus Flavius Bassus Tonianus.

Das bedeutete doch eigentlich, dass Bassus sein neuer pater familias war? Auf der anderen Seite durfte er ihn weiterhin „Bassus“ nennen und musste ihn nicht mit „pater“ oder „Titus Flavius“ anreden. Gott sei Dank.

Das war aber nur der äußere Aspekt. Es gab da noch eine tiefere Ebene. Er mochte Bassus. Aber Wackeron und Morvran mochte er noch mehr. Sie waren Ärzte und gebildete Männer. Bassus hingegen war ein einfacher Soldat. Er unterschied sich zwar von den meisten seiner Kameraden, die selbst in ihrer Freizeit rau miteinander umgingen und einen etwas eigenartigen Humor hatten, denn Bassus war meistens ruhig und freundlich. Aber hin und wieder konnte er auch anders. Dann strahlte er eine unerbittliche Autorität aus. Zuletzt vorgestern auf dem Marktplatz der Siedlung Durnomagus, als er Tony peinlicherweise Unterwäsche kaufte und darauf bestand, dass er genau die Sachen trug, die er ihm ausgesucht hatte. Angeblich waren sie wärmer als diejenigen, die Tony gefallen hätten.

Außerdem hatte Bassus außerhalb der Armee keine Interessen. Wenn nicht gerade seine Freunde zu Gast waren, verbrachte er seine Freizeit meistens in Tavernen.

Die meisten Soldaten konnten nicht einmal lesen oder schreiben. Und sicher traf das auch auf Bassus zu. Es machte deshalb keinen Sinn, mit ihm über naturwissenschaftliche oder gar philosophische Fragen zu diskutieren.

Auch über das Medaillon sprachen sie nicht mehr. Seit Tony es zurückbekommen hatte, trug er es wieder Tag und Nacht. Nie wieder sollte es ihm jemand wegnehmen können! Denn in der Römerzeit hielt ihn nichts. Selbst seine Ausbildung als Arzt nicht.

Daran war vor allem die Tatsache schuld, dass es die Sklaverei gab. Bassus behandelte Micon zwar wie ein Familienmitglied, aber es war nur eine Frage des Glücks, ob ein Sklave einen humanen Herrn fand. Sklaven hatten kein Recht auf eine gute Behandlung. Ihr Herr oder ihre Herrin durfte sie unbehelligt quälen oder gar töten - genau wie Väter ihre Kinder.

 

Windböen peitschten Eisregen an das kleine Fenster, dessen dickes Glas die Umgebung draußen nur verzerrt darstellte. Micon und Bassus hatten die Ritzen im Rahmen zwar mit Wolle abgedichtet, aber trotzdem zog es. Leider half die frische Luft nicht, den Leichengeruch zu vertreiben, den er immer noch ständig in der Nase hatte. Und das trotz der Duftsäckchen auf seinem Kopfkissen, die Morvran regelmäßig für ihn herstellte.

Aber eigentlich hatte er sie Bassus zu verdanken. Eines Abends hatte Bassus auf dem Nachhauseweg vom Lager gefragt: „Tony, hast du manchmal das Gefühl, den Geruch aus Perpennas Verlies immer noch zu riechen?“

Tony war erleichtert gewesen, dass er darüber sprechen konnte, ohne das Thema von sich aus anschneiden zu müssen, und gab es sofort zu: „Nicht nur manchmal. Die ganze Zeit.“

Danach hatte Bassus mit Wackeron und Morvran gesprochen. Das Ergebnis waren die Duftsäckchen.

Ja, seltsam, dass dies ausgerechnet Bassus aufgefallen war und nicht Wackeron oder Morvran, die doch viel mehr Zeit mit ihm verbrachten. Andererseits, Bassus war Kundschafter. Er hatte eben gelernt, alles sehr genau zu beobachten.

Im tiefsten Inneren war Tony davon überzeugt, dass er den Leichengeruch erst dann loswerden würde, wenn er wieder in seiner eigenen Zeit war. Auch dafür war es deshalb wichtig, dass er zurückkehrte.

Vor allem jedoch musste er Roland zur Strecke bringen. Das war der einzige Sinn, den sein Leben hatte.

Oft hatte er nachts von ihm geträumt, und jedes Mal hatte Roland sich in Perpenna verwandelt. Gegen den Sklavenhändler konnte niemand etwas unternehmen, aber Roland durfte nicht ungestraft davonkommen.

Tony wickelte sich noch fester in seine Wolldecke. Das war kein Wetter, um sich im Freien aufzuhalten. Trotzdem musste Bassus heute Nacht zusammen mit Donatus wieder zu einem Kundschaftergang aufbrechen. Da es noch keine Brücke über den Rhein gab, würden sie mitten in der Nacht von einem Boot der Flotte hinübergerudert werden. Tony war froh, dass er kein kämpfender Soldat, sondern Arzt werden würde. Und gut, dass er seine Schriftrolle hatte. Endlich gelang es ihm, sich in den Text zu versenken.

Später hörte Tony draußen jemanden rufen. Als er einen Sichtfleck in die Eisblumen am Fenster gehaucht hatte, konnte er den vermummten Donatus sehen, der mit einer Fackel in der Hand auf seinem Pferd saß. Neben ihm warteten Bassus‘ Pferd Teres und ein Packpferd. Es schneite heftig. Tony winkte. Die vermummte Gestalt winkte zurück.

Fast wäre er über seine Wolldecke gestolpert, als er zur Tür lief. „Bassus!“ rief er, „Donatus ist da!“

Bassus war erst kurz vorher nach Hause gekommen. Er roch noch immer nach Taverne, nach Holzfeuer und verkochtem Eintopf. Wie Donatus trug er mehrere Lagen von Kleidungsstücken und einen Umhang aus Fell. Aber es war klar, dass die beiden bald völlig durchnässt sein würden.

„Selbst bei diesem Wetter?“, fragte Tony.

„Wir haben unsere Befehle.“

„Ihr werdet eine Lungenentzündung bekommen.“

Bassus lächelte. „Es ist doch ein angehender Arzt im Haus, so viel ich weiß.“

„Und er meint, dass ihr hier bleiben solltet.“

Bassus wandte sich zum Gehen. „Vale, Tony.“

„Vale, Bassus.“

Kurz danach schloss Micon die Haustür und schob den eisernen Riegel vor.

Wieder sah Tony aus dem Fenster. Bassus sprang auf Teres‘ Rücken. Und kurz danach hatten Schneetreiben und Dunkelheit die beiden Männer und ihre Pferde verschluckt.

Wie immer, wenn Bassus gerade aufgebrochen war, fühlte Tony sich von Minute zu Minute seltsamer. Als er es nicht mehr aushielt, stand er auf und öffnete seine Tür. Doch die Wohnküche lag bereits im Dunklen.

„Brauchst du etwas, Herr?“, fragte die Stimme von Micon hinter dem Vorhang.

„Nein. Alles in Ordnung, Micon. Schlafe ruhig weiter.“

Verdammt, was war nur mit ihm los? Bassus war oft unterwegs. Das war völlig normal.

 

Am Morgen schmerzten Tonys Gelenke so schlimm wie noch nie. Er humpelte zur Arbeit. Im Valetudinarium musste er zuerst an den Soldaten vorbei, die heute als Helfer abkommandiert waren.

„He, Tony, kommst du als Arzt oder als Patient?“, neckten sie ihn.

„Ha, ha.“

Drinnen zog er seine Stiefel aus und schlüpfte in bequeme Sandalen. Das Valetudinarium hatte eine Fußbodenheizung. Sie war zwar nicht so warm wie in den Bädern, aber warm genug, um sich wieder wie ein Mensch zu fühlen. Sicher würde die Wärme dafür sorgen, dass seine Schmerzen im Laufe des Vormittags erträglicher wurden.

Unwillkürlich seufzte er. Morvran sah zu ihm hinüber und deutete stumm auf ihre beeindruckende Sammlung von Schröpfköpfen. Tony schüttelte heftig den Kopf. Morvran zuckte mit den Schultern.

In seiner Lehre hatte Tony bereits viele Dinge gelernt: Tees mischen, Salben rühren, Schröpfköpfe anlegen. Das mit dem Tee und den Salben war sehr gut. Sie wirkten tatsächlich. Und mit Kräuter- oder Wurzelmischungen hatte er keinerlei Probleme. Doch Morvran zerstampfte für Salben und Tinkturen zum Beispiel auch Tiere wie Käfer und Spinnen und mischte gefährliche Stoffe wie Quecksilber oder Schlangengift unter. Hin und wieder verwendete er auch einfach nur Schlamm.

„Bist du sicher, dass diese Substanzen irgendeinen Nutzen haben?“, hatte Tony ihn eines Tages gefragt.

„Wenn man die richtigen Mengen einsetzt, können diese Stoffe sehr segensreich sein.“

Morvran experimentierte nächtelang mit ihnen und verdünnte sie. Dazu benutzte er Glasröhrchen, wie Tony sie auch aus dem Chemieunterricht seiner Zeit kannte.

„Wenn ich sie so stark verdünnt habe, dass von den ursprünglichen Stoffen gar nichts mehr im Glas sein kann, erziele ich trotzdem noch einen therapeutischen Nutzen und kann gleichzeitig eine schädliche Wirkung verhindern. Wie das kommt, verstehe ich selbst nicht.“

Vor sich hin sinnierend stand Morvran dann da und schüttelte nach einer Weile den Kopf. „Eigentlich widerstrebt es mir, Dinge zu tun, von denen ich nicht weiß, warum sie funktionieren.“

Im Laufe der Zeit hatte Tony schon einige Male erlebt, dass Morvrans Verdünnungen die letzte Rettung waren. Doch manchmal vermutete er, dass es nur daran lag, dass es Morvran war, der sie verabreichte. Insgeheim glaubte Tony, dass Morvran - wie damals auf dem Gut von Severus - den Patienten egal was einflößen konnte, und sie wurden wieder gesund. 

Einmal war Morvran neben ihn getreten, als er kurz in den Innenhof gegangen war, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Seit seiner Zeit im Verlies war er nahezu süchtig nach Sonnenstrahlen.

„Schade, dass du mir nicht aus deiner Zeit einige medizinische Fachbücher bringen kannst. Ich werde manchmal verrückt bei dem Gedanken, dass wir mit einfachen Mitteln viel mehr Menschen helfen könnten, wenn wir nur das nötige Wissen hätten.“

Und Tony hatte ihm geantwortet: „Soweit ich das einschätzen kann, werden 90 Prozent deiner Patienten wieder gesund. Das wäre, glaube ich, auch für einen Arzt meiner Zeit ein gutes Ergebnis.“

Tony hatte mit Wackeron und Morvran längst das medizinische Wissen geteilt, das er sich für Melanie angeeignet hatte. Und offenbar konnte er recht gut erklären. Was Keime und Viren waren, hatten sie schnell begriffen. Sie wuschen sich dauernd die Hände und sterilisierten ihre Instrumente und die Verbände in kochendem Wasser. Tony erzählte ihnen auch von der Entdeckung des Penicillins aus Schimmelpilzen. Doch leider wusste er nicht genau, wie das funktionierte. Auch die Idee, Menschen mit geringen Mengen von Krankheitserregern zu impfen, um sie zu immunisieren, leuchtete den beiden ein. Nur haperte es auch hier bei Tony wieder an den genauen Kenntnissen, um das Wissen umzusetzen.

Seltsam hingegen fand Tony den ständigen Gebrauch von Schröpfköpfen. Wieder betrachtete er sie misstrauisch. Sie waren die Antwort auf schmerzende Muskeln oder Gelenke, unter denen fast alle Soldaten mit zunehmendem Alter litten.

Sie wurden aber auch in allen Fällen eingesetzt, in denen Wackeron und Morvran nicht identifizieren konnten, was genau dem Patienten eigentlich fehlte. Mal wurde die Haut dabei aufgeritzt, mal nicht.

Tony hatte längst den Überblick darüber verloren, wie oft er inzwischen mit einem glimmenden Docht ein Vakuum im Glas erzeugt, es dann aufgesetzt und zugesehen hatte, wie die Haut angesogen wurde. Mit krebsroten Flecken, aber ansonsten glücklich, zogen die Patienten danach wieder von dannen. Hier ließen Morvran und Wackeron nicht mit sich reden.

„Es reinigt den Körper. Die Säfte werden wieder ins Gleichgewicht gebracht.“

„Was für Säfte denn?“

„Nun, Blut, Schleim und die schwarze und die weiße Gallenflüssigkeit.“

So ein Quatsch. 

Am Nachmittag waren seine Schmerzen so stark, dass Tony nicht einmal mehr den Kopf zur Seite drehen konnte. Er machte sich jetzt ernsthafte Sorgen, dass er zum Krüppel werden könnte. In dieser Verfassung würde er jedenfalls nicht mehr zu seiner alten Kampfsportform zurückfinden. Er fühlte sich, als wäre er vierzig, nein, achtzig Jahre alt, anstatt vierzehn. Ja, inzwischen musste er vierzehn geworden sein. Sie hatten sich jedenfalls auf einen Tag geeinigt, und Bassus hatte dafür gesorgt, dass gefeiert wurde. Lauba hatte ihm sogar einen Kuchen gebacken.

Diese verdammten Schmerzen.

Schließlich gab er nach. „Morvran, es geht nicht mehr.“

„Und was schlägst du vor?“

„Du weißt schon.“

„Sprich es aus, ich will es hören.“

Tony holte tief Luft und murmelte: „Bitte lege mir die blöden Schröpfköpfe an.“

Morvran lächelte, verkniff sich aber eine Bemerkung. Flink stülpte er mehrere von den Dingern auf Tonys Nacken und Rücken.

Nach dem Schröpfen rieb Morvran ihn noch mit ätherischen Ölen ein und massierte ihn, indem er mit dem Daumen auf bestimmte Stellen drückte. Tony staunte. Die Schmerzen waren noch nicht ganz weg, aber er fühlte sich bedeutend besser. Und vor allem: Er konnte sich wieder bewegen.

 

Mehrere Tage später trainierte er mit Bassus und Donatus in einem der Gymnastikräume der Ala. Es gab zwar keine Fahrräder oder Crosstrainer mit Pulsmessern, aber Recks, Barren, Holzpferde und Hanteln und verschiedene Seile mit Schlingen oder Knoten.

Donatus zog sich immer wieder an einem Reck hoch, während Bassus auf einer Holzbank auf dem Rücken lag und mit schweren Hanteln in den Händen Rückenübungen machte. Wenn sie im Lager waren, betrieben sie wie alle Soldaten der Ala in ihrer Freizeit Gymnastik und Bodybuilding. Und das, obwohl alle Soldaten im Dienst bereits ein beeindruckendes Sportprogramm absolvierten. Wer neu zu einer Ala kam und noch nicht reiten konnte, musste erst monatelang an einem gesattelten Holzpferd üben, wie man von allen Seiten hinauf- und hinuntersprang und sich mit Schild und Schwert gegen bewaffnete Gegner verteidigte, die Pferd und Reiter umringten. Und für den Fall, dass sie ihr Pferd verlassen mussten, übten sie den Kampf Mann gegen Mann auch zu Boden. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten die Reiter jedoch auf dem Rücken der echten Tiere. In der überdachten Reithalle in den Principia oder auf dem Campus außerhalb lernten sie Kampftechniken und das Reiten in kunstvollen Formationen. Und im freien, unwegsamen Gelände übten sie, steile Berghänge schnell hinauf- und wieder hinabzureiten, Hindernisse zu überspringen und auf dem Rücken der Pferde durch Flüsse zu schwimmen. Sie waren mit ihren kleinen, aber kräftigen und flinken Tieren wie verwachsen.

Und für die Pferde standen, genau wie für die Reiter, exzellente Ärzte zur Verfügung, mit denen Wackeron und Morvran sich manchmal berieten. 

Etwas neidisch sah Tony zu Bassus auf seiner Bank hinüber. Kein Wunder, dass der fast nur aus Muskeln bestand. Wenn er nicht wie fast alle Reiter einen kurz geschnittenen Vollbart tragen würde, würde er noch recht jung aussehen. Aber mit dem Bart, der grauer war als die Haare auf seinem Kopf, wirkte Bassus bedeutend älter.

In zwei bis drei Monaten wollte Tony genauso durchtrainiert sein. Als er mit einem schweren Seil zu hüpfen begann, lachte Donatus.

„Wofür ist es denn sonst?“, fragte Tony beleidigt.

Ein Reitersoldat kam und packte ein Ende des Seils.

„Dafür. Halte es gut fest.“

Tony umklammerte das Seil und der Soldat zog daran. Es dauerte keine Sekunde, und der Soldat hatte ihm das Seil aus den Händen gerissen.

Erschöpft setzte Tony sich auf eine Bank und lehnte sich an die Wand. Ein Soldat, der sein Pensum erledigt und sich schon verabschiedet hatte, ging zuvor noch zu einer Götterstatue, die in einer Wandnische stand. Er verneigte sich ehrerbietig. In allen Übungsräumen waren solche Götternischen; die schönste war in der Reithalle. Auch die Pferde wurden täglich dorthin geführt, damit sie den Segen der Götter empfangen konnten.

Bassus setzte sich neben Tony. Da konnte er ihn gleich fragen:

„Ich verstehe dieses Getue mit den Schreinen nicht. Unser Castellum hat einen wunderschönen Schrein in den Principia, und in der Siedlung gibt es einen Tempel. Das müsste den Göttern doch eigentlich reichen.“

„Jeder Ort ist von Genien beseelt. Wir müssen sie zu unseren Verbündeten machen.“

Mit diesen Genien ging es Tony wie mit den Körpersäften, von denen Wackeron und Morvran immerzu redeten.

„Ich glaube nicht an so etwas.“

Bassus sah ihn interessiert an. „Glauben die Menschen in deiner Zeit denn nicht mehr an Götter und Geister?“

„Doch, viele schon. Nicht an eure Götter, an andere, meistens an einen einzigen Gott, dem sie jedoch unterschiedliche Namen geben.“

„Na also.“

„Aber sie bekriegen sich auch deswegen. Jede Religion behauptet, die einzig wahre zu sein.“

„Das ist natürlich dumm, denn es widerspricht dem Geist der Religion.“

„Ach. Wie kommt es dann, dass all diese frommen Männer hier kämpfen und töten?“

„Sie tun es nicht für eine Religion, sondern für das Imperium und somit für den Frieden. Und ihr Glaube an die Götter hilft ihnen, das nicht zu vergessen.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Was ist daran nicht zu verstehen?“

„Töten für den Frieden. Das passt nicht zusammen.“

Bassus schwieg eine Weile. Dann sagte er vorsichtig: „Sicher, da gibt es einen gewissen Widerspruch.“

„Wenn etwas nicht passt, dann lässt man es.“

Bassus hatte die Hände auf seine Knie gelegt. Für einen Moment ballte er sie zu Fäusten, und seine Knöchel wurden weiß.

Doch dann sagte er ruhig: „Die Dinge sind nicht immer so einfach. Wir sind im Leben oft gezwungen, für eine letztendlich gute Sache etwas zu tun, das uns innerlich widerstrebt.“

„Und die Götter sollen uns dabei helfen, uns einzureden, dass das Falsche doch irgendwie das Richtige ist?“

Bassus sah ihn überrascht an. Es kam Tony so vor, als hätte er ihn zutiefst getroffen. Doch was wusste er schon, was in Bassus vorging. Wahrscheinlich hielt der ihn einfach nur für einen Gotteslästerer.

Tonys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er würde sich in dieser fremden Welt nie zurechtfinden. Er würde nie so ticken wie die Menschen hier. Zum ersten Mal seit seiner Genesung fühlte er wieder den Impuls zu fliehen. Doch wohin? Wieder einem Perpenna in die Arme? Er griff nach dem Medaillon.

„Bassus…“, rutschte es aus ihm heraus.

„Ja.“

Doch er konnte es nicht in Worte fassen.

„Was ist?“, fragte Bassus.

Tony starrte auf den Schrein an der Wand, als könnte er den steinernen Gott dort beschwören. „Ich möchte zurück.“

Die Stille ließ sich fast mit dem Messer schneiden.

„Ich wollte, ich könnte dir helfen“, sagte Bassus nach einer Weile.

Tony vergrub das Gesicht in den Händen. Er fühlte, wie sich eine Hand auf seinen Rücken legte. Aber die Erfahrung war so fremd, dass Tony sich abrupt wegdrehte.

Bassus stand auf. Seine Stimme klang müde, als er sagte: „Komm, Tony. Micon wundert sich sicher schon, wo wir bleiben.“

 

Am nächsten Tag beobachtete Tony, wie Wackeron einem Soldaten die Knochen richtete. Es war nicht das erste Mal, dass er erlebte, wie der Arzt bei Brüchen vorging. Die Patienten erholten sich meistens wieder vollständig.

„Wenn Wackeron Knochen richtet oder an Leuten herumschneidet und sie wieder zunäht, überleben die meisten. Er sagt zwar immer, dass er kein geheimes Wissen hat, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich kann diese Dinge einfach nicht so gut wie er. Dafür bin ich auf anderen Gebieten besser“, hatte Morvran ihm einmal gestanden.

Und das stimmte. Wenn Morvran einem Patienten sagte, dass seine Schmerzen in wenigen Augenblicken vergehen würden, dann stimmte das im Allgemeinen auch.

Gerade als Tony sich fragte, welcher Zweig der Medizin ihm selbst eigentlich am meisten lag, wurde die Tür des Behandlungsraums aufgestoßen. Einige Soldaten trugen zwei schwer verletzte Kameraden herein, die sich mit letzter Kraft ins Lager geschleppt hatten.

„Das sind die Kundschafter, die verschollen waren“, erklärte einer der Träger, „Sie sind gefangen gehalten und gefoltert worden.“

Tony hatte schon viele schwere Verletzungen gesehen, aber noch nie so schreckliche Brandwunden. Und er sah, wie viel Selbstbeherrschung es Wackeron und Morvran kostete, den Männern gegenüber Zuversicht zu verbreiten. Bei schweren Brandverletzungen gab es nicht viel, was sie tun konnten. Natürlich strichen sie Salben darauf. Aber wenn die Schmerzen unerträglich waren, gab es nur noch die Möglichkeit, den Patienten Opium zu geben und zu hoffen, dass sie bald sterben würden.

Wie konnten Menschen absichtlich anderen Menschen nur solche Verletzungen zufügen? Vor Schmerzen halb wahnsinnig berichteten die Männer, dass das die Rache für die Strafaktion war. Die Germanen hatten sie wieder freigelassen in dem Wissen, dass sie langsam und qualvoll sterben würden, aber vorher diese Botschaft überbringen konnten.

 

Sie waren so damit beschäftigt gewesen, den verletzten Kundschaftern zu helfen, dass Tony sich erst beim Abendessen wieder an die Worte des Soldaten erinnerte.

„Was war das eigentlich für eine Strafaktion?“, fragte er Bassus.

Der zögerte. „Reiter unserer Ala haben zusammen mit einer anderen Ala das Dorf von Männern niedergebrannt, die sich einem germanischen Bandenführer angeschlossen haben. Die meisten Bewohner wurden getötet und der Rest an Sklavenhändler verkauft.“

„Doch nicht etwa an Perpenna?“

Bassus schwieg.

Die Übelkeit kam so schnell, dass Tony sich auf den Boden der Wohnküche übergab. Die Krämpfe wollten einfach nicht mehr aufhören. Bassus wollte ihm helfen, doch Tony stieß ihn zurück.

„Ich hasse dich!“, schrie er. „Ich hasse euch alle!“

Während Micon den Boden aufwischte, wartete Bassus ab.

„Wie konntet ihr?“, fragte Tony matt, als sich sein Magen wieder beruhigt hatte.

„Unsere Ala würde nie wieder mit Perpenna zusammenarbeiten, aber der anderen Ala war das egal.“

„Es geht nicht nur um Perpenna. Warum wurden auch die Familien dieser Männer für etwas bestraft, was sie gar nicht getan hatten?“

„Zur Abschreckung. Die Männer waren immerhin ihre Ehemänner, Söhne oder Väter.“

„Dann brauchen wir uns nicht über das zu wundern, was sie unseren Kundschaftern angetan haben.“

„Doch.“ Die Stimme von Bassus klang plötzlich unerbittlich hart.

„Ich verstehe nicht.“

„Eigentlich dürfte inzwischen niemand mehr am Leben sein, der den Frieden zwischen Römern und Germanen gefährden könnte. Aber trotzdem gibt es da jemanden. Und zwar jemanden, der sich völlig im Hintergrund hält und von dort die Fäden zieht. Wenn er noch länger weitermacht, wird unsere Region bald wieder im Chaos versinken.“

Alles in Tony rebellierte dagegen, dieses erbarmungslose Denken zu übernehmen. Trotzdem wollte er Bescheid wissen.

„Kann es nicht einfach sein, dass die Nachbarn dieses Dorfes sich gerächt haben?“

„Das würden sie nie tun. Sie profitieren alle von den guten Beziehungen zu den Römern. Sie waren selbst besorgt, als sie hörten, dass sich mitten unter ihnen ein germanischer Trupp formiert hat, der regelmäßig Römer überfällt. Schließlich ist der Krieg zwischen Römern und Germanen vorbei.“

„Bist du dir da sicher?“

„Ja“, antwortete Bassus trocken. „Ich bin schließlich dauernd in Germania Libera unterwegs und rede mit den Bewohnern der Dörfer. Sie sind uns wohlgesonnen.“

„Sprichst du denn germanisch?“, fragte Tony überrascht.

„Nun, ein bisschen schon. Außerdem ist ja Donatus dabei. Er ist Germane.“

„Donatus ist Germane?“ Das war Tony neu. „Wie kann er da in der römischen Armee dienen?“

„Das tun viele. Zum Beispiel fast alle Söhne der Germanen, die hier in der Siedlung wohnen.“

Die meisten Soldaten, denen Tony in der Ala Noricorum bisher begegnet war, stammten aus weit entfernten Regionen des Imperiums.

„Wie viele Soldaten der Ala sind denn Germanen?“

„Jetzt nur noch ganz wenige, denn die meisten dienen woanders, irgendwo im Imperium. Das ist so, seit es hier in der Gegend vor etlichen Jahren einen großen Aufstand der Germanen gegeben hat und die germanischen Soldaten in römischen Diensten zu den Aufrührern übergelaufen sind.“

„Und warum ist dann Donatus hier?“

„Er gilt als äußerst zuverlässig. Außerdem brauchen wir zumindest einige Exploratores, die in der Kultur der Germanen zu Hause sind.“

„Aber Donatus ist ein römischer Name.“

„Er hat einfach seinen germanischen Namen ins Lateinische übersetzt.“

Tonys Gedanken überschlugen sich. Wie hielt Donatus es nur aus, an einer Strafaktion gegen seine eigenen Leute teilzunehmen? Und umgekehrt, wie hielten seine römischen Kameraden es aus, dass ein Germane zu ihnen gehörte, dessen Stammesgenossen ihre Kameraden gequält hatten?

Als hätte Bassus seine Gedanken erraten, fuhr er fort: „Tony, du musst bedenken, dass die meisten Reitersoldaten keine Römer sind. Nur der Praefectus und die höheren Offiziere sind Römer, der Rest, selbst die meisten Decurionen, stammen aus Regionen, die von den Römern erobert wurden.“

Tony erinnerte sich wieder an den Sklaven, der ihm auf dem Gut von Severus den Namen von Bassus’ Pferd Teres erklärt hatte.

„Du bist auch kein Römer?“

„Ich bin inzwischen römischer Bürger.“

„Aber du bist kein Römer?“

„Ich stamme aus Thrakien.“

„Wo liegt das?“

„Nördlich von Griechenland. Und es war einmal ein freies Land.“

Zum ersten Mal sah Tony Bassus mit wirklichem Interesse an. „Wie hältst du es aus, dein Leben für Rom aufs Spiel zu setzen?“

„Darüber werden wir uns ein anderes Mal unterhalten.“ Abrupt stand Bassus auf.

Tony war klar, mehr würde er jetzt nicht erfahren. Aber das musste noch heraus: „Ich verstehe nicht, wie jemand sich überhaupt dazu entschließen kann, Soldat zu werden und ganze Dörfer abzuschlachten.“

Bassus verschwand in seinem Zimmer.

 

Am nächsten Morgen war Tony noch immer verstört. Schweigend aß er sein Frühstück.

Bassus war ihm noch nie so fremd gewesen. Und doch waren er und die Ala Noricorum der einzige Schutz, den er hatte. Und dass er diesen Schutz brauchte, hatte er weiß Gott bitter erfahren müssen. Gleichzeitig wehrte er sich gegen diesen Gedanken. Und das konnte er nur tun, indem er sich weigerte, irgendwelche Gefühle für Bassus zu entwickeln.

Tony stand auf. Wie sollte er sich auch einem Mann nahe fühlen, der unschuldige Menschen tötete oder in die Sklaverei schickte?

Nach dem Frühstück ging er wie jeden Morgen, wenn Bassus nicht als Kundschafter unterwegs war, mit ihm zusammen zum Lager.

Aber da war noch etwas, das ihn beschäftigte. Es hing mit den Brandwunden der beiden Kundschafter und dem Gespräch vom gestrigen Abend zusammen. Was war es nur? Plötzlich fiel es ihm ein: Der germanische Krieger mit der Narbe!

Sofort fragte er Bassus: „War unter den Germanen, die beim Überfall auf Severus‘ Gut umgekommen sind, auch einer mit einer großen Brandnarbe im Gesicht?“

Bassus blieb wie versteinert stehen. „Wie kommst du darauf?“

„Er war einer der Männer, die ich auf dem Rückweg vom keltischen Dorf gesehen habe. Ich hatte den Eindruck, dass er der Anführer war. Müssen wir nicht weitergehen?“

„Hast du mit Severus darüber gesprochen?“

„Ich habe bis eben nicht mehr an ihn gedacht. Ich hatte angenommen, dass er getötet wurde.“

„Wie alt war der Mann etwa?“, fragte Bassus.

„Mhm, vielleicht vierzig.“

Etwa zweihundert Meter hinter der Porta Praetoria lag die Stelle, an der sie sich sonst immer trennten. Dort bog Bassus zum Morgenappell ab, und Tony lief weiter zum Valetudinarium. Aber jetzt blieb Bassus wieder stehen.

„Bitte beschreibe mir den Mann noch einmal, so genau du kannst.“

Tony war selbst überrascht, an wie viele Details er sich nach der langen Zeit noch erinnern konnte. Bassus wurde immer unruhiger.

„War der Mann nicht unter den Germanen, die wir getötet haben?“

„Nein.“

„Weißt du etwa, wer er ist?“, fragte Tony.

Bassus schüttelte den Kopf. „Es kann einfach nicht sein.“

„Was kann nicht sein?“

Auf einmal hatte Bassus es sehr eilig und wandte sich zum Gehen. „Bis heute Abend.“

Verdutzt sah Tony ihm hinterher.

 

Zwei Wochen später stieß er vor dem Valetudinarium auf eine Gruppe hoch gewachsener Legionäre mit blitzblank polierten Brustpanzern aus Metall und Federbüschen auf den Helmen. Drinnen traf er einen weiteren Legionär an, einen ebenfalls sehr großen, schlanken Mann mit breiten Schultern. Er kam gerade mit Morvran aus dem Krankenzimmer, in dem die beiden verletzten Kundschafter lagen. Seine wachen, intelligenten Augen entdeckten Tony sofort und musterten ihn kurz. Der Mann wirkte streng, aber nicht unsympathisch. Seine schneeweißen Haare waren in die Stirn gekämmt und etwas oberhalb der Augenbrauen zu einem geraden Pony abgeschnitten. Trotz der weißen Haare war jedoch klar, dass er noch recht jung war.

Wackeron und Morvran hatten Tony angehalten, immer freundlich zu sein, und so grüßte Tony den fremden Legionär höflich: „Ave.“

„Ave. Ich vermute, du bist Bassus Tonianus?“

Das Lächeln des Mannes war so entwaffnend, dass Tony beinahe zurückgelächelt hätte. „Ja. Und wer seid Ihr?“

„Ich bin Nerva Trajanus“, antwortete der Mann amüsiert.

„Seid Ihr von einer der Legionen in Bonnae?“

Trajanus schüttelte den Kopf. „Nein. Ich komme aus Moguntiacum.“

Tony verstand nicht, was ein hochrangiger Legionär aus Mainz hier suchte. Doch in diesem Moment kam Wackeron aus dem Krankenzimmer und zog sich mit dem Legionär in eine Ecke des Behandlungszimmers zurück.

Morvran fuhr mit seiner Arbeit fort, und auch Tony konzentrierte sich auf seine Aufgaben. Mit flinken Fingern wechselte er Wundverbände, setzte Schröpfköpfe und rieb mit duftenden Essenzen versetzte Öle auf schmerzende Gliedmaßen. Dabei unterhielt er sich mit den Patienten. Viele Behandlungen durfte er inzwischen allein durchführen, und die Soldaten der Ala akzeptierten ihn als angehenden Arzt.

In der Gegenwart dieses fremden Legionärs verhielten sich seine Patienten gesitteter als sonst. Keiner erzählte schlüpfrige Witze oder machte sich über römische Politik lustig. Einmal glaubte Tony zu hören, dass in dem Gespräch zwischen Wackeron und dem Legionär auch der Name Bassus fiel. Aber er war nicht sicher.

Jetzt umarmte der Legionär Wackeron und kam danach zu Tony.

„Wackeron ist sehr zufrieden mit dir. Und ich sehe, dass auch die Patienten sich bei dir wohlfühlen.“

Tony fragte sich, was das diesen Legionär anging. Trotzdem antwortete er freundlich: “Ich gebe mir Mühe.“

Es kam ihm so vor, als würden alle im Raum den Atem anhalten. Der Legionär lächelte. „Es freut mich, das zu hören.“

Dann nickte er in die Runde und verließ mit raschen energischen Schritten das Valetudinarium.

Kaum war er weg, fragte Tony Wackeron: „Was wollte er denn hier?“

„Nach dem Rechten sehen.“

„Was gibt ihm die Befugnis dazu?“

„Nerva Trajanus ist unser neuer Imperator. Er war in Moguntiacum Statthalter von Obergermanien, als Imperator Nerva ihn adoptierte und kurz danach starb.“

Trajan! Mann, hatte er auf der Leitung gestanden! 

„Sollte ein römischer Kaiser nicht in Rom sein?“

„Natürlich. Sobald hier wieder Ruhe eingekehrt ist, wird er sich auch dorthin begeben.“

„Davor geht er noch nach Dakien. Dort steht nämlich auch nicht alles zum Besten“, warf Morvran ein.

„Wird denn in der Zwischenzeit niemand in Rom versuchen, ihm den Thron wegzunehmen?“

„Das ist unwahrscheinlich. Er hat zu viele Freunde dort. Jeder mag ihn. Nerva hat eine geniale Wahl getroffen. Trajanus hast du übrigens zu verdanken, dass du so schnell als römischer Bürger registriert worden bist. Ohne seine Hilfe wäre das nicht möglich gewesen.“

„Warum hat er das getan? Ich bin doch nicht wichtig.“

„Er und Bassus sind alte Freunde.“

Wieder einmal wunderte Tony sich darüber, mit wem der einfache Kundschafter Bassus so alles befreundet war.

 

Aber mit Bassus selbst konnte Tony nicht sprechen. Der war auf einem Kundschaftergang.

„Ich bin heute im Lager dem Imperator begegnet“, erzählte er Micon beim Abendessen.

Statt beeindruckt zu sein, sah der ihn besorgt an. „Er ist also immer noch da. Hat sein Aufenthalt damit zu tun, dass der Herr und Donatus diesmal so lange unterwegs sind?“

Erst jetzt wurde Tony bewusst, dass Bassus eigentlich nur drei Tage wegbleiben wollte. Inzwischen waren fast zehn Tage vergangen.

„Du hast Recht. Er ist schon viel zu lange fort.“

Später saß er mit einer Schriftrolle am Tisch und las. Wenn Bassus weg war, hielt er sich nur zum Schlafen in seinem Zimmer auf. Micon wusch das Geschirr, kehrte und wischte den Boden. Danach reparierte er ihre Kleidungsstücke. Harpalos lag neben dem offenen Kamin.

Tony konnte sich jedoch nur schwer konzentrieren. Irgendetwas spukte in seinem Kopf herum. Plötzlich erinnerte er sich an eine Bemerkung, die er heute im Lager gehört hatte.

„Die Ala hat gestern einen Suchtrupp auf die andere Seite des Rheins geschickt. Ich habe aber nicht mitbekommen, wen oder was sie dort suchen sollen.“

Eine Weile war es ganz still.

Dann sagte Micon, inzwischen kreidebleich: „Was würde mit uns geschehen, wenn Flavius Bassus etwas zugestoßen wäre?“

Tony schluckte. Es wäre eine Katastrophe für Micon. So viel war klar. Er bekäme einen neuen Herrn, der ihn vermutlich nicht so gut behandeln würde wie Bassus. Und was war mit ihm selbst? Wo müsste er dann hin? Wer würde über ihn bestimmen? Verzweifelt suchte er nach zuversichtlichen Worten.

„Er ist schon seit 27 Jahren Soldat, und nie ist ihm etwas zugestoßen. Er ist viel zu erfahren, um in Gefahr zu geraten.“

Micon sah ihn düster an. „Niemand ist unverwundbar.“

Er setzte sich zu Tony an den Tisch und wirkte auf einmal alt und müde.

„Das Leben hat mich gelehrt, dass allen Menschen in jedem Moment die furchtbarsten Dinge widerfahren können.“

Tony schwieg, schließlich hatte er dieselbe Erfahrung gemacht. Und nicht nur das. Auch Bassus und Donatus würden wahrscheinlich längst nicht mehr leben, wenn er ihnen damals, an seinem ersten Tag in der Römerzeit, nicht gegen diese Germanen geholfen hätte!

Nach einer Weile sagte Micon: „Wir sollten uns schlafen legen.“

„Leg dich ruhig hin. Ich bleibe noch hier sitzen. Ich weiß, dass ich nicht schlafen kann.“

„Ich werde es auch nicht können, Herr.“

„Dann lass uns etwas spielen.“

Tony holte das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel hervor. Sie konzentrierten sich darauf, froh, die düsteren Gedanken für eine Weile beiseite zu schieben.

Da knurrte Harpalos. Kurz darauf war draußen Lärm zu hören. Reiter galoppierten durch die nächtliche Straße. Harpalos bellte unaufhörlich. Tony und Micon rannten hinaus. Aber als sie auf die Straße traten, waren die Reiter schon weg. Im frisch gefallenen Schnee sahen sie lediglich die Spuren vieler Hufe. Tony glaubte im Licht des Mondes auch einige dunkle Flecke zu erkennen. Auch Harpalos hatte sie entdeckt und winselte.

Tony bückte sich.

„Ich hole eine Fackel“, rief Micon und verschwand im Haus. Schnell kam er wieder zurück und leuchtete ihm. Die Flecken waren purpurrot. Tony zerrieb den gefärbten Schnee zwischen den Fingern und roch daran. Aber er hätte es auch so gewusst: „Es ist Blut.“

Auf einmal fühlte er die bittere Kälte nicht mehr.

Während er sich vorgebeugt hatte, war das Medaillon unter seiner Tunika verrutscht.

Bassus hätte es eigentlich tragen sollen! Schließlich riskierte er bei seiner Arbeit täglich sein Leben. Aber Tony hatte nur an sich und seine Probleme gedacht. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er Micons Worte nicht hörte. Tony sah nur, dass er die Lippen bewegte und ihn dabei flehentlich ansah.

Micon wiederholte: „Wenn jemand blutet, dann lebt er doch noch, nicht wahr?“

Es klang, als hätte Micon durch einen Wattebausch gesprochen.

Tony hörte sich sagen: „Wenn jemand den ganzen Weg von Germania Libera bis hierher Blut verloren hat, …“ Aber er sprach den Satz nicht zu Ende, denn er hätte gelautet: „Dann lebt er sicher nicht mehr lange.“

Stattdessen atmete er tief durch. „Ich laufe zum Lager.“

Micon nickte. „Ja Herr. Aber gebt mir sofort Bescheid, sobald Ihr etwas wisst.“

„Das werde ich, versprochen.“

Harpalos wollte ihn begleiten. Aber Tony schob ihn zusammen mit Micon durch die Haustür und machte sie hinter den beiden zu. Micon sollte jetzt nicht allein sein.

 

Die Wachen am Tor des Lagers ließen ihn wortlos durch. Vor dem Valetudinarium standen Pferde. Calones kümmerten sich um sie. Tony erkannte Teres und das Pferd von Donatus. Noch nie hatte er die Tiere so erschöpft gesehen. Aus dem Gebäude kamen einige Soldaten und wandten sich müde zu ihren Contubernia. Sie erkannten ihn, gingen jedoch weiter. Er hatte den Eindruck, dass sie ihn mitleidig ansahen.

Im Valetudinarium war es ungewöhnlich still. Fabius Pudens kam aus dem Raum, in dem Wackeron seine Operationen durchführte. Er hatte Tränen in den Augen. Als er Tony entdeckte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz. Dann eilte er weiter.

Noch nie war Tony die Tür zum Operationssaal so schwer vorgekommen. Er musste sich richtig dagegenstemmen. Drinnen sagten ihm bereits die vielen Lichter vor den Götterstatuen und der Geruch nach verbrannten Kräutern, dass jemand gestorben war. Noch mehr Reiter der Turma von Fabius Pudens standen vor dem Schrein des Asklepios und murmelten Gebete. Auf einer Holzbank lag die blutverschmierte Kleidung eines Reitersoldaten. Und auf dem Tisch lag eine nackte Gestalt. Wackeron war über sie gebeugt und versorgte ihre Wunden. Wie unter Zwang ging Tony auf den Tisch zu. Aber Morvran trat ihm in den Weg. Sanft nahm er ihn bei den Schultern und dirigierte ihn zu einem Hocker.

„Es ist Donatus“, raunte er ihm zu. „Er hat sehr viel Blut verloren. Seine Kameraden beten für seine Rettung.“

Tony war, als würde sein Inneres zu Eis werden.

„Und Bassus?“, fragte er.

„Von ihm fehlt jede Spur.“

„Aber da draußen steht Teres.“

„Wir fanden ihn bei Donatus und dessen Pferd.“

„Bassus und Donatus waren nicht zusammen?“

„Sie wurden getrennt. Wir wissen nicht, wohin sie Bassus verschleppt haben.“

„Er lebt also noch?“

Morvran zögerte einen Moment. „Die Ala wird alles unternehmen, um ihn zurückzubringen“, sagte er. Dann sah er Tony genauer an. „Möchtest du, dass ich dir ein stärkendes Getränk braue?“, fragte er besorgt.

Tony schüttelte den Kopf.

„Möchtest du dich einen Moment hinlegen?“ Morvrans Stimme kam auf einmal von sehr weit her.

„Nein, ich ...“

Dann wurde es schwarz.

Später entdeckte er in der Ferne eine schwach beleuchtete Türöffnung und ging darauf zu.

Lieblicher Gesang kam ihm entgegen. Oder war es das Geräusch des Windes, der auf einmal von dort herwehte und an seinen Kleidern zerrte? Tony hielt sich mit beiden Händen an den Türpfosten fest. Er wollte nicht in den Sog dieses Windes geraten. Nicht so schnell jedenfalls.

Er musste zuerst nachdenken.

Wollte er wirklich dorthin? Während er noch überlegte und seine Finger immer fester in die Türpfosten krallen musste, packte ihn jemand von hinten um die Taille und zog ihn zurück, Millimeter für Millimeter. Die Person besaß ungeheure Kräfte. Tony half ihr, indem auch er sich gegen den Sog stemmte. Als sie einige Meter zurückgelegt hatten, schloss sich zwischen den Pfosten plötzlich mit dumpfem Knall eine eiserne Tür. Augenblicklich hörte der Sog auf. Und gleich danach verschwand auch die Tür. Es war wieder schwarz.

Auf seinem alten Krankenbett kam er zu sich. Er war so müde, dass er nicht einmal mehr die Hand heben konnte. Morvran stand vor ihm. Noch nie war er Tony so erhaben vorgekommen.

„Warum hast du mich nicht gehen lassen?“

Morvrans unergründliche Gletscheraugen sahen ihn seltsam unberührt an.

„Weil deine Reise noch nicht zu Ende ist, Tony. Noch lange nicht.“

„Ich kann nicht mehr.“

Morvran setzte einen Becher mit heißer Brühe an seine Lippen. „Trink.“

Das Zeug schmeckte bitter, doch er spürte, wie mit jedem Schluck, der seine Kehle hinunterrann, neue Stärke zurückkehrte.

„Ihr glaubt, dass Bassus tot ist, nicht wahr?“

Morvran ließ sich Zeit. Dann sagte er: „Bevor sie Donatus an den anderen Ort brachten, hat er gesehen, wie sie Bassus zur einer Hinrichtungsstätte führten.“

Tony klammerte sich an die Wolldecke. „Was haben sie mit ihm gemacht?“

„Das möchtest du nicht wissen, glaube mir.“

„Ich muss es wissen. Bitte.“

„Sie haben sich bei Bassus für einen langsamen und qualvollen Tod entschieden.“

Oh Gott, nein!

„Und Donatus hat dabei zugesehen?“

„Er hat gesehen, wie sie damit anfingen. Dann haben sie Donatus an einen anderen Ort gebracht.“

Tonys Herz schlug schneller. „Das muss nicht heißen, dass sie die Sache auch durchgezogen haben.“

Morvran schwieg.

Tony rappelte sich auf.

„Wo willst du hin?“, fragte Morvran.

„Ich muss nach Hause zu Micon. Er macht sich Sorgen.“

 

Micons Hände zitterten. „Wenn sie begonnen haben, den Herrn zu töten, warum sollten sie damit wieder aufgehört haben?“

Tony betrachtete seine eigenen Hände und sah zu seiner Überraschung, dass sie ebenfalls zitterten. Er konzentrierte sich. Das Zittern hörte auf.

„Sie könnten unterbrochen worden sein. Oder sie wollten ihn nur foltern, um ihm Informationen zu entlocken.“

Aber Micon schien seine Worte nicht gehört zu haben. „Er ist tot“, klagte er.

Tony wusste selbst nicht, warum er auf einmal so wütend wurde. „Jedenfalls geht auch die Ala davon aus, dass er noch leben könnte, und unternimmt alles in ihrer Macht Stehende, um ihn zu finden.“

„Natürlich tun sie das. Aber nicht, weil sie glauben, dass er noch lebt. Sie wollen seine Leiche zurückbringen, damit er in Ehren bestattet werden kann.“

„Das wäre doch auch schon etwas“, murmelte Tony, „dann hätten wir wenigstens Gewissheit.“

Micons Hände verkrampften sich. „Bevor ich zu einem schlechten Herrn muss, will ich lieber sterben.“

Tony verstand ihn nur zu gut. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bassus dich einem solchen Herrn hinterlässt“, versuchte er Micon zu beruhigen.

„Hast du eine Ahnung, wer sein Erbe sein könnte?“

„Nein. Aber ich vermute, dass es einer seiner engsten Freunde ist. Entweder Wackeron oder Fabius Pudens.“

„Das vermute ich auch, aber genau da liegt das Problem. Sie dienen noch in der Armee und können keinen Sklaven gebrauchen. Sie würden mich weiter verkaufen.“

„Sie würden dich nie an einen Unmenschen verkaufen.“

„Das weiß man vorher nicht. Die Menschen können nach außen ganz anders wirken, als sie tatsächlich sind.“

Nur zu wahr! 

 

In der Nacht wachte Tony immer wieder schweißgebadet auf. Jedes Mal sah er Bassus vor sich, von Brandwunden bedeckt und an einen Pfahl gebunden.

Als er am Morgen völlig zerschlagen aus seinem Zimmer trat, stand Micon vor dem Hausheiligtum und murmelte vor sich hin.

„Was machst du?“

„Ich bete zu Mucala, dem Vater des Herrn.“

„Wozu?“

„Ich möchte, dass er hilft. Dass Flavius Bassus vielleicht doch noch lebt und sie ihn finden.“

„Warum betest du nicht zu einem Gott?“

„Ich wüsste nicht zu welchem. Ich habe zu allen gefleht, als meine Familie und ich versklavt wurden, aber keiner hat mir geholfen.“

Tony ließ ihn gewähren. Wenn man daran glaubte, dass die Toten noch am Schicksal der Lebenden Anteil nahmen, dann war es wohl folgerichtig, Bassus’ Vater um Hilfe zu bitten.

„Ich werde mich auch an Orbiana wenden“, fügte Micon hinzu.

„Orbiana?“

„Sie war die Frau, die der Herr viele Jahre geliebt hat. Ich habe das einmal gehört, als Wackeron hier war und sie sich unterhielten.“

Bassus hatte einmal eine Frau geliebt? Das konnte Tony sich überhaupt nicht vorstellen.

Auf dem Weg zur Arbeit traf ihn der Gedanke, dass er diesen Weg vielleicht nie wieder zusammen mit Bassus gehen würde, wie ein Schlag. Seine Beine fühlten sich wie Watte an.

Nur noch wenige Schritte vom Valetudinarium entfernt, verspürte er plötzlich den Wunsch, nach Teres zu sehen. Er bog zu den Ställen ab.

Das Tier stand verloren in seiner Box. Tony drückte das Gesicht an den warmen Pferdehals. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf. Sein Blick fiel auf den Sattel, das wertvolles Zaumzeug und die bunten, warmen Decken, die Bassus für das Pferd gekauft hatte. Abrupt verließ er den Stall.

Falls Bassus nicht wiederkommen sollte, falls er tatsächlich tot war, dann musste er sich damit abfinden. Schließlich war Bassus Soldat. Und Soldaten starben nun einmal bei ihrer Arbeit.

Er hatte doch noch Wackeron und Morvran. Außerdem standen sie ihm viel näher als Bassus.

Gerade als Tony das Valetudinarium wieder erreichte, rannte ein Soldat auf ihn zu. Atemlos blieb er vor Tony stehen.

„Bassus Tonianus, ich habe dich schon gesucht. Du wirst im Praetorium erwartet. Folge mir.“

Tony lief hinter ihm her. Am Eingang zum Praetorium blieb der Soldat stehen. Tony wurde von den Wachen durchgewinkt.

Zum ersten Mal betrat er das imposante Gebäude, das einzige im ganzen Lager, in dem sich auch Frauen aufhalten durften. Er hatte die Frau und die beiden Töchter des neuen Praefectus jedoch bisher nur wenige Male zu Gesicht bekommen. Sie wohnten im oberen Geschoss und hatten einen eigenen ummauerten Garten.

 

Im Dienstzimmer erwarteten ihn nicht nur der Praefectus und Imperator Trajanus, sondern auch die höheren Offiziere des Lagers. Da es keinen freien Stuhl mehr gab, blieb Tony stehen. Er fühlte sich wie ein Angeklagter in einem Gerichtssaal.

„Wir hätten gerne, dass du uns einige Fragen beantwortest“, begann Trajanus freundlich.

„Sicher.“

„Du hast Bassus vor einiger Zeit von einem Mann mit einer Brandnarbe erzählt.“

„Das ist richtig. Habt ihr ihn gefunden?“

Trajanus schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nicht.“ Dann lächelte er. „Aber wir bemühen uns.“

Zum Zeichen, dass er die Anspielung verstand, lächelte Tony verkrampft zurück. „Befindet sich Bassus in den Händen dieses Mannes?“

„Ja. Donatus hat ihn eindeutig identifiziert. Erzähle uns also bitte noch einmal alles, was dir zu diesem Mann einfällt.“

Während Tony berichtete, unterbrach Trajanus ihn auf einmal und fragte: „Hat Flavia dir gegenüber jemals ihren leiblichen Vater erwähnt?“

„Flavia?“

„Wie viele Flavias kennst du denn?“

„Ihr meint die Tochter von Publius Flavius Severus?“

„Genau die.“ In Trajanus’ Stimme schwang ein ungeduldiger Ton mit.

Tony verstand nicht. Flavia hatte ihm gesagt, dass ihr Vater tot war. Plötzlich bekam er Angst, dass er ihr irgendwelche Probleme bereiten könnte, wenn er etwas Falsches sagte. Seine Gedanken überschlugen sich. Und wenn er abstritt, dass sie mit ihm über ihren Vater gesprochen hatte? Nein. Erst einmal herausfinden, was die Frage überhaupt sollte. 

„Warum fragt Ihr?“

Scharf herrschte ihn der Praefectus an: „Du stehst vor Caesar Nerva Trajanus, dem Imperator des Römischen Reiches. Beantworte einfach seine Fragen!“

So nicht! Nicht in diesem Ton. Tony schwieg und starrte an die Wand.

„Sieh mich an“, sagte Trajanus.

Trotzig hielt Tony seinem Blick stand. Diesmal lächelte Trajanus nicht.

„Willst du denn nicht helfen, Bassus zu finden?“

„Natürlich will ich das. Doch was hat Flavias Vater damit zu tun? Er ist schon lange tot.“

„Hat sie dir das erzählt?“

Er nickte.

„Was noch?“

„Dass er kein guter Mensch war.“

„Weiter.“

„Nichts weiter. Das war es.“

Trajanus sah ihn diesmal so durchdringend an, dass Tony Mühe hatte, nicht wegzusehen. Doch dann schien Trajanus zufrieden zu sein.

„Ist der Mann mit der Brandnarbe Flavias … äh … Erzeuger?“, fragte Tony.

Trajanus lächelte endlich wieder. „Es sieht ganz danach aus.“

„Aber wo hat er die ganze Zeit gesteckt?“

„Das wissen wir nicht.“

„Und was will er nach all den Jahren?“

„Das fragen wir uns auch.“

„Hasst er die Römer deshalb so, weil er herausgefunden hat, dass seine Frau und seine Tochter mit einem Römer leben – und glücklich sind?“

Trajanus sah ihn nachdenklich an. „Vielleicht.“

Der Praefectus fragte plötzlich: „Hast du je vom Aufstand des Civilis gehört?“

Tony schüttelte den Kopf. Aber bevor er fragen konnte, was das für ein Aufstand war, sagte Trajanus freundlich: „Danke, Tony. Du kannst jetzt wieder an deine Arbeit gehen.“

 

Nach dem Abendessen war Tony zu seinen Vermietern hinübergegangen. Maius hatte ihm trotz Laubas Schimpfen sofort einen starken Met vorgesetzt.

„Das ist nichts für einen Jungen seines Alters.“

„Man nimmt das Leben leichter, wenn man Met trinkt. Tony kann ihn im Moment gut gebrauchen.“

„Man lallt und torkelt herum.“

„Na und?“

„Und diejenigen, die das Zeug dauernd in solchen Mengen wie du trinken“, sie sah ihrem Mann wütend an, „verblöden allmählich.“

Maius goss zuerst Tony und dann sich selbst noch einmal die Gläser voll. Dabei beugte er sich vertraulich zu Tony hinüber. „Weißt du, sie ist der Grund dafür, dass ich so viel trinke. Ich wollte, ich wäre nie in den Ruhestand getreten.“

Mit einer warmen Tenorstimme begann er auf einmal zu singen: „Ach, was war das Leben in der Ala schön, die Ritte mit den Kameraden, bei Sonnenschein und Regen, bei Sturm und Schnee, der Signifer trug die Standarte voran …“

Tony wurde von dem Met und dem Gesang ganz schummrig.

Im Lager hatte ihm niemand etwas Genaueres über den Aufstand des Civilis erzählen können. Die Ereignisse lagen fast 30 Jahre zurück. Und die Ala Noricorum war zu jener Zeit weit von Germanien entfernt stationiert gewesen. Maius‘ Frau jedoch war Germanin und hatte den Aufstand als kleines Mädchen miterlebt. Aber bevor sie berichten konnte, musste sie noch etwas Dampf ablassen.

„Als aktiver Soldat war er tatsächlich noch ein richtiger Kerl. Aber seit ihm kein Decurio mehr im Nacken sitzt, lässt er sich gehen. Wenn ich nicht das Geld zusammenhalten würde, hätte er längst alles versoffen.“

Tony sah sie so mitfühlend wie möglich an. Schließlich beruhigte sie sich und kratzte sich am Kopf.

„Was war es gleich noch mal, was du wissen wolltest? Ach ja, der Aufstand des Civilis.“

Sie setzte sich neben ihren Mann und deutete auf einen Teller.

„Greif zu!“

Er ließ sich nicht zweimal bitten. Die Vollkornplätzchen waren hart wie Stein, schmeckten aber köstlich, wenn man sie erst einmal gründlich eingespeichelt hatte. Lauba nahm auch eines. Während sie das Plätzchen zermalmte, erzählte sie.

„Es war ein schrecklicher Bürgerkrieg, Tony. Selbst jetzt gibt es noch Ruinen aus jener Zeit. Dauernd zogen plündernde und mordende Horden durch die Dörfer. Sie schlachteten die Menschen ab oder verkauften sie in die Sklaverei, raubten das Vieh und zündeten die Häuser und die Getreidespeicher an. Niemand wusste am Morgen, ob er den Abend noch erleben würde.“

„Was hatte diesen Krieg ausgelöst?“

„Nach dem Tod des Imperators Nero ließen sich gleich vier Anwärter zum Imperator ausrufen. Die Lage war verworren, und Civilis, ein Germane vom Stamm der Bataver, ergriff die Gelegenheit. Er diente in der römischen Armee und nutzte seine Kenntnisse, um ein gallisches Imperium auszurufen.“

„Kam es damals auch zu einem Vorfall, bei dem ein Germane schwere Verbrennungen erlitten haben könnte?“

Tony wusste selbst nicht, warum er das fragte, denn offensichtlich hatte es ja unzählige Brände gegeben.

Doch Maius‘ Frau sah ihn überrascht an und antwortete: „Es kam in der Tat zu einem solchen Vorfall. Zunächst unterwarf die Colonia Agrippinensium sich Civilis. Aber als den Bewohnern klar wurde, dass die Römer siegen würden, wechselten sie wieder die Fronten. Um den Römern zu zeigen, dass sie gute Untertanen waren, luden sie die Anführer des Aufstands zu einem Festmahl ein. Und als alle versammelt waren, verriegelten sie die Türen und zündeten das Gebäude an.“

Tonys Puls beschleunigte sich.

„Konnte jemand entkommen?“, fragte er.

„Nein. Nie im Leben. Das Gebäude war von romtreuen Soldaten umzingelt, die dafür sorgten, dass keiner weglaufen konnte.“

Wieder in seinem Zimmer, dachte Tony über das Gehörte nach. Es ergab keinen Sinn. Wer auch immer damals in jenem Gebäude war, hatte es nicht überlebt. Und selbst wenn einer dieser Anführer davongekommen wäre, wäre er heute sehr viel älter als der Mann, den er im Sommer gesehen hatte.

 

In den nächsten Tagen versah Tony weiter seinen Dienst im Valetudinarium. Vor allem kümmerte er sich um Donatus und versuchte, alle Gedanken an Bassus beiseite zu schieben. Besonders erfolgreich war er damit jedoch nicht, denn er stellte zu seiner Überraschung fest, dass Wackeron und Morvran doch kein Ersatz für Bassus waren.

Er verstand selbst nicht, was mit ihm los war. Doch mit jedem Tag, der verstrich, vermisste er Bassus mehr.

Warum?

Er mochte Wackeron und Morvran. Aber er brauchte eben auch Bassus. Irgendwie ergänzte Bassus die beiden. Ganz davon abgesehen, dass er Dinge bemerkte, die den beiden nicht auffielen.

Vielleicht war er ja doch noch am Leben.

Die Römer hatten inzwischen sogar ein Kopfgeld auf den Germanen mit der Brandnarbe ausgesetzt. Warum dieser Aufwand, wenn sie es nicht zumindest für möglich hielten, dass Bassus noch lebte? Mussten denn immer nur schreckliche Dinge geschehen? Konnte nicht auch einmal, ein einziges Mal, etwas gut ausgehen?

Tony lagerte den Oberkörper von Donatus, der immer noch sehr schwach war, etwas höher. Dabei sagte er zu ihm: „Wenn du dich von dieser Welt verabschiedest, folge ich dir persönlich in die Unterwelt. Und dann hast du dort nichts zu lachen, das verspreche ich dir.“

Donatus lächelte. Als er ihm ein weiteres Kissen hinter den Rücken schob, murmelte er: „Danke.“

Er war immer noch kreidebleich. Zusätzlich zu den Prellungen und Brüchen hatte er sicher auch innere Verletzungen. Leider konnten sie kein CT machen oder wenigstens eine Röntgenaufnahme oder eine Ultraschalluntersuchung vornehmen.

Eine Zeit lang hatte Tony darüber gebrütet, wie sie es technisch bewerkstelligen könnten, Donatus eine Bluttransfusion zu geben. Unmöglich wäre es sicher nicht. Doch wie hätten sie herausfinden sollen, wer welche Blutgruppe hatte? Stattdessen päppelten sie Donatus mit Kräutertees und Rinderbrühe mit Eierstich auf.

Er fühlte Donatus’ Hand auf der seinen. Sie war federleicht.

„Es tut mir so leid“, murmelte der Verwundete zum x-ten Mal.

Weil er befürchtete, dass Donatus’ Schuldgefühle den Heilungsprozess behinderten, beugte Tony sich über ihn und sah ihm in die Augen, genau wie Morvran das bei Patienten immer tat.

„Stell dir für einen Moment vor, Bassus würde jetzt hereinspazieren und dich so liegen sehen.“

Donatus sah ihn aufmerksam an.

„Was würde er wohl zu dir sagen?“

Tony wartete. Weil Donatus schwieg, fuhr er schließlich fort: „Er würde dir ganz schön Dampf unter dem Hintern machen, damit du endlich wieder auf die Füße kommst.“

Leise sagte Donatus: „Wenn sein Geist hier hereinmarschieren würde, würde er auch sagen, dass ich nicht sentimental sein soll. Dabei kenne ich niemanden, der so sehr um Menschen trauert wie Bassus.“

Tony wandte sich ab und floh.

 

Draußen rannte er, rannte und rannte. Als könne er so den Schmerz, den Donatus’ Worte in ihm ausgelöst hatten, wieder zum Schweigen bringen. Soldaten blickten ihm verwundert nach. Allein sein! Er rannte an verdutzten Wachen vorbei aus dem Lager und danach immer weiter in die verschneite Umgebung. Als er nicht mehr konnte, blieb er keuchend stehen. Ärgerlich wischte er sich die Augen. Diese verdammte Kälte ließ sie tränen.

Er stand vor einer der umzäunten Pferdeweiden, auf denen sommers wie winters Tiere standen. Packpferde, Ersatzpferde und Pferde, die noch ausgebildet und abgehärtet wurden. Ein Tier fiel ihm auf, das mit hängendem Kopf abseits stand.

Das gab es doch nicht! Was machte Teres hier? Warum war er nicht in seiner Box im Stall?

Er kletterte über den Bretterzaun und rief: „Teres!“

Das Tier trottete auf ihn zu.

„Wer hat dich hierher gebracht? Ist dir denn nicht kalt?“

Teres sah ihn an, als würde er jedes Wort verstehen.

Tony streichelte seine Nase und erklärte: „Bassus lebt. Die Ala wird ihn finden. Sie geben nicht auf. Erst vorgestern ist wieder ein großer Suchtrupp ausgerückt.“

Zurück im Lager lief er direkt zu den Ställen der Turma von Fabius Pudens. Er wollte einen der Calones zusammenstauchen. Aber die hielten sich anscheinend gerade woanders auf. Dafür fand er in Teres’ Box ein neues Pferd vor. Und an der Wand hingen fremde Sachen.

Wo war Bassus’ Sattel? Und wo waren das Zaumzeug und die Decken von Teres?

Er entdeckte den Sattel auf einem zugeschnürten Bündel, das jemand lieblos auf den Boden geworfen hatte, und nahm die Sachen mit.

Im Valetudinarium wandte er sich aufgeregt an Wackeron: „Einer der Calones muss einen Fehler gemacht haben. Teres bräuchte doch gerade jetzt seine vertraute Umgebung.“

Er spürte, wie seine Kehle sich zusammenschnürte, während er sprach.

Wackeron legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen wegen Teres“, sagte er mitfühlend, „Die Kälte macht ihm nichts aus. Er ist das gewohnt.“

„Ich möchte, dass er wieder in den Stall kommt.“

„Das ist sicher kein Problem. Ich spreche heute Abend mit Pudens.“

Den Rest des Tages assistierte Tony ihm. Die Konzentration auf die Arbeit und die Erkenntnis, dass er dabei immer besser wurde, sorgten dafür, dass er sich allmählich wieder beruhigte. Nur als später Fabius Pudens kam und mit Wackeron für eine Weile verschwand, machte er sich erneut Sorgen. Aber Wackeron kehrte freundlich wie immer zurück und wandte sich sofort dem nächsten Patienten zu.

 

Nach dem Abendessen half Micon Tony wieder, den Tisch zur Seite zu schieben. Danach setzte er sich auf die Bank und sah ihm wie jeden Abend fasziniert zu.

„Komm schon, lass mich dir wenigstens einige Grundtechniken beibringen.“

Micon winkte ab. „Wozu. Ich dürfte diese Kampftechniken niemals anwenden. Ein Sklave, der sich zur Wehr setzt, kommt entweder auf die Galeeren oder in die Bergwerke.“

„Würdest du dich denn nicht allein dadurch besser fühlen, dass du wüsstest, im Notfall könntest du es?“

„Ganz im Gegenteil. Ich würde immer in der Furcht leben, dass ich eines Tages ausrasten könnte und diese Techniken dann auch anwende. Lass mich einfach nur zusehen.“

Es war erstaunlich. Obwohl Micon noch nie mit asiatischen Kampfsportarten in Berührung gekommen war, begriff er sehr schnell die Techniken. Er sah sofort, ob es Tony gelungen war, seinen imaginären Gegner auszuschalten - und falls nicht, woran es gehapert hatte.

In einem unglaublichen Tempo fand Tony daher wieder zu seiner alten Form zurück. Wozu das gut sein sollte, fragte er sich nicht. Die stundenlangen Übungen halfen ihm jedenfalls, die Abende zu überstehen. Denn sich ruhig hinzusetzen und Schriftrollen zu lesen, dazu war er nicht mehr in der Lage. Seine Gedanken schweiften sofort zu Bassus und schnürten ihm die Luft ab.

 

Im Valetudinarium fragte er Wackeron am nächsten Morgen als Erstes nach Teres.

„Fabius Pudens kümmert sich darum.“

Tony nahm an, dass Teres nun wieder in seine Box kam. In der Mittagspause ging er sofort zu den Ställen. In Teres’ Box stand jedoch noch immer das andere Pferd. Tony vermutete, dass Teres einen anderen Platz zugewiesen bekommen hatte; deswegen sprach er einen Calo an: „Wo ist Teres, das Pferd von Titus Flavius Bassus?“

„Auf der Weide.“

„Immer noch? Wann kümmert sich jemand darum, dass es wieder in den Stall kommt?“

Der Calo sah ihn verwundert an. „Teres bleibt draußen, bis klar ist, wer sein neuer Besitzer wird.“

In Tonys Ohren rauschte das Blut. Er wankte zurück ins Valetudinarium.

„Hat man die Leiche von Bassus gefunden?“, fragte er Wackeron.

„Nein. Es gibt noch immer keine Spur von ihm.“

Tony war erleichtert. Aber den ganzen Tag ärgerte er sich darüber, wie mit Teres umgegangen wurde.

„Es ist so kalt da draußen“, sagte er zu Donatus, dem es zum  ersten Mal etwas besser ging.

Doch der antwortete gelassen: „Das halten unsere Pferde aus. Wenn wir unterwegs sind, sind sie ja auch draußen.“

„Aber gerade jetzt, wo er sich sicher fragt, was mit Bassus geschehen ist.“

Donatus lächelte. „Tony, Teres ist ein Tier. Über solche Dinge denkt er nicht nach.“

„Das sehe ich anders.“

„He, er wird es überleben. Es gibt Unterstände auf den Weiden.“

Tony beschloss, Teres zumindest eine seiner warmen Decken zu bringen.

Am Abend war er schon fast aus der Tür, als Wackeron ihn zurückwinkte.

„Bleib morgen zu Hause, Tony. Ich werde zusammen mit Fabius Pudens am Vormittag bei dir vorbeikommen. Wir besprechen dann, wie es mit dir und Micon weitergehen soll.“

 

Harpalos saß zwischen ihnen auf der Bank. Spürte auch er, dass heute ein wichtiger Tag war?

Bis spät in der Nacht hatte Tony zusammen mit Micon voller Sorge darüber gerätselt, was Fabius Pudens und Wackeron ihnen wohl mitzuteilen hatten. Jetzt saßen sie den beiden am Küchentisch gegenüber. Und erst jetzt bemerkte Tony, wie erschöpft auch der Decurio und der Arzt waren.

Pudens breitete auf dem Tisch umständlich eine Schriftrolle aus. Wackeron berührte kurz seinen Arm. Der Decurio besann sich und legte die Rolle wieder hin.

„Ja. Also. Die Sache ist folgendermaßen. Bassus wurde heute Morgen vom Praefectus für tot erklärt.“

Eisige Stille.

„Aber warum?“, fragte Tony nach einer Weile. „Der Suchtrupp ist doch immer noch unterwegs.“

„Dieser Trupp ist inzwischen zurückgekehrt.“

„Mit der Leiche von Bassus?“

„Das nicht, aber das ist unter den Umständen auch gar nicht nötig“, erklärte Fabius Pudens.

Wackeron fuhr fort: „Bassus ist tot. Das müssen wir akzeptieren.“

„Nein!“ Tony sprang auf.

„Bitte setz dich wieder“, bat Wackeron.

Aber Tony blieb stehen. „Die Ala kann Bassus doch nicht einfach im Stich lassen!“

„Wir haben mehrere Wochen nach ihm gesucht, und das, obwohl Donatus gesehen hat, dass er hingerichtet wurde.“

„Er hat gesehen, wie sie damit begonnen haben!“

„Tony, bitte“, sagte Wackeron, „ich kann dich ja verstehen. Wir alle trauern um Bassus. Aber jetzt müssen einige Dinge geregelt werden. Es geht um deine Zukunft – und um die von Micon.“

Nein. Nein. Nein.

„Setz dich“, bat Wackeron erneut.

Tony setzte sich. Seine Beine zitterten.

Fabius Pudens deutete auf die Schriftrolle. „Das ist eine Abschrift von Bassus’ Testament. Ich lese es euch einfach vor.“

Er räusperte sich und begann feierlich:

„Ich, Titus Flavius Bassus, seit dem dritten Jahr der Regentschaft des Imperators Vespasian Reiter bei der Ala Noricorum, bestimme, dass mein Haupterbe Titus Flavius Bassus Tonianus, auch Tony genannt, sein soll. Ihm fällt der Großteil meiner Ersparnisse und meiner sonstigen Besitztümer zu. Meinen alten Freund Wackeron setze ich als seinen Vormund ein, bis er erwachsen ist und selbst eine Familie gründet. Meinem Sklaven Micon schenke ich die Freiheit.“

Micon schluchzte laut auf.

Pudens räusperte sich. „Micon, er hat auch dir Geld hinterlassen, damit du ein neues Leben beginnen kannst. Außerdem möchte er, dass eine gewisse Summe für Gebete und Opfer an die Götter ausgegeben wird. Auf seinem Grabstein möchte er eine Inschrift mit folgendem Inhalt. Ich lese jetzt wieder vor: Titus Flavius Bassus, Sohn des Mucala, vom Stamm der Dansaler, Reiter der Ala Noricorum in der Turma des Fabius Pudens, war Jahre alt und hatte Dienstjahre. Sein Erbe ließ dies errichten.“

Fabius Pudens wischte sich über die Augen. Mit belegter Stimme fuhr er fort: „Es muss eingefügt werden, dass er 47 Jahre alt war und 27 Dienstjahre hatte.“

Tony war wie vom Donner gerührt. „Warum tut er das?“

„Was?“, fragte Pudens verwundert.

„Mich zu seinem Haupterben machen?“

„Wen denn sonst? Du bist sein Sohn.“

Er musste sich verhört haben. „Ich soll was sein?“

„Sein Sohn.“

Wackeron fuhr fort: „Damit du als römischer Bürger davor geschützt bist, noch einmal in die Sklaverei zu geraten, hat Bassus dich rechtskräftig als seinen Sohn adoptiert.“

Pudens fügte hinzu: „Römische Bürger können sich in Notsituationen freiwillig in die Sklaverei begeben. Wenn sie jedoch einen Vater haben, muss der seine Zustimmung geben. Sonst ist die Sache nicht gültig. Irgendjemand musste dich daher adoptieren.“

„Hast du dich denn nie darüber gewundert, dass du Bassus’ Namen trägst, Bassus Tonianus?“, fragte Wackeron.

Tony schüttelte den Kopf. „Ich dachte, dass es einfach der nächstbeste Namen war, der euch eingefallen ist.“

 

Schon seit Stunden kämpfte Tony sich über Felder, auf denen eine dicke Decke aus gefrorenem Schnee lag. Sie glitzerte im Licht des Mondes und der Sterne. Tony dachte unwillkürlich an die Vision, die er gehabt hatte, bevor er nach seiner Befreiung aus Perpennas Verlies aus dem Koma erwacht war:

Wie er auf dem silberglänzenden Meer gewandelt war und sich dabei ganz leicht gefühlt hatte.

Wie er zum Lager der Ala geschwebt war und sein Krankenzimmer betreten hatte.

Und wieder sah er den Soldaten mit den breiten Schultern, der vor den Statuen der Götter gekniet hatte, um für seine Genesung zu beten.

„Bassus“, flüsterte er, „Bassus.“

Widerstreitende Gefühle tobten in seinem Inneren. Bassus mit dem Wort Vater in Verbindung zu bringen, ging einfach nicht. Selbst jetzt nicht.

Fabius Pudens und Wackeron hatten ihm noch gesagt, dass ihm jetzt auch Teres gehörte. Die Ala würde ihm das Tier jedoch gegen eine ordentliche Summe abkaufen, damit es wieder einem Reiter zur Verfügung stehen konnte. Tony hatte abgelehnt.

Außerdem hatten sie ihm mitgeteilt, dass der Praefectus ihm gestattete, mit Micon noch eine Weile in der Wohnung zu bleiben. Bassus hatte die Miete weit im Voraus bezahlt, als hätte er geahnt, dass ihm etwas zustoßen würde.

Tony würde weiter täglich im Valetudinarium zur Arbeit gehen, und Micon konnte in Ruhe sein neues Leben planen. Später sollte Tony ins Lager ziehen. Und nach dem Ende seiner Ausbildung würde er entscheiden können, ob er sich für 25 Jahre als Feldarzt verpflichtete oder ob er außerhalb der Armee als freier Arzt praktizieren wollte.

Tony sank auf die Knie. Bassus hatte dafür gesorgt, dass niemand ihn zu einem Leben zwingen konnte, das er nicht wollte. Diese Einstellung war für einen Mann der Römerzeit ungewöhnlich. So viel wusste Tony inzwischen.

Mit den Fäusten schlug er auf den harten Schnee. Die dicken Handschuhe, die er trug, waren die letzten Kleidungsstücke, die Bassus ihm gekauft hatte. Eine halbe Ewigkeit waren sie auf dem Markt von Novaesium herumgelaufen, bis Bassus keltische Handschuhe gefunden hatte, die seiner Meinung nach warm genug waren.

„Dein Vater hat dir die schönsten Handschuhe ausgesucht, die es weit und breit gibt“, hatte eine fremde Frau laut zu Tony gesagt.

Stumm hatte Bassus bezahlt. Und auch Tony hatte geschwiegen, denn er hatte geglaubt, dass Bassus die Bemerkung der Frau genauso peinlich war wie ihm.

Tony redete sich ein, dass Bassus ihn nur aus Pflichtgefühl so umsorgt hatte. Doch er wurde von Erinnerungen überwältigt, die etwas ganz anderes sagten. Bassus war zwar immer etwas distanziert mit ihm umgegangen, aber was er konkret vermittelt hatte, waren Dinge gewesen wie: „Damit du nicht krank wirst… damit du nicht frierst… damit du nicht hungrig herumlaufen musst… damit du nicht allein bist… damit du keine Angst bekommst…“

Die Erkenntnis war wie ein Messer mitten ins Herz: Bassus war der erste Mensch gewesen, der ganz selbstverständlich das für ihn getan hatte, was Eltern normalerweise für ein Kind tun.

Und er hatte das nicht einmal gemerkt!

Immer noch auf den Knien, krümmte er sich zusammen. Er beugte sich so tief nach vorn, dass er mit seiner Stirn den Schnee berührte. Aber er fühlte die Kälte nicht, denn er trug seine dicke Wollmütze. Er hatte Dutzende von den Dingern anprobieren müssen, bis Bassus zufrieden gewesen war. Er hatte die Mütze sogar selbst kurz aufgesetzt, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht kratzte. Sie war so warm und perfekt, dass Tony danach nie mehr über sie nachgedacht hatte.

Er stöhnte auf. Immer hatte er Bassus’ Fürsorge als lästig empfunden. Und nie hatte er sich wirklich für ihn interessiert. Ihn nie kennen gelernt.

Und jetzt war Bassus tot.

 

Als Tony in die Wohnung zurückkehrte, war Micon noch wach und betete vor dem Hausheiligtum.

„Herr…“, sprach er ihn besorgt an.

Tony hob abwehrend die Hände. „Du hast keinen Herrn mehr. Du bist frei. Ich heiße Tony.“

„Gut … Tony. Hast du Hunger?“

„Und wie.“

Micon schöpfte ihm eine große Portion Eintopf auf den Teller. Tony schlang das Essen hinunter, und Micon sah ihm zu.

Als er später mit Harpalos auf den Füßen einschlief, hatte er zum ersten Mal den Traum, der ihn von da an immer wieder heimsuchen sollte:

Er ritt auf Teres durch eine unendliche Eiswüste. Weit entfernt sah er einen Mann umherirren und erkannte, dass es Bassus war. Er wollte zu ihm galoppieren. Doch der Schnee war so tief, dass Teres nicht vom Fleck kam. Tony schrie: „Bassus! Bassus!“ Aber die Weite verschluckte seine Stimme. Er schrie und schrie, bis seine Stimme brach. Aber Bassus entfernte sich immer weiter von ihm. Schließlich war er nur noch als Punkt zu sehen. Dann gar nicht mehr.

Schweißgebadet wachte Tony auf.

Er nahm eine Öllampe und schlich hinaus. Micon schlief tief und fest. Er schlich weiter und betrat zum ersten Mal Bassus‘ Zimmer.

Mit offenem Mund blieb er stehen.

Er hatte Waffen, Helme und Schilde erwartet, doch dies war nicht das Zimmer eines Soldaten. Es war die Stube eines Gelehrten. Überall türmten sich Schriftrollen. Tony trat an ein Regal neben der Tür. Ehrfürchtig nahm er einige der Rollen in die Hand. Manche waren in lateinischer, andere in griechischer Sprache verfasst. Am meisten schien sein Adoptivvater sich für Philosophie interessiert zu haben, aber auch für Physik, Mathematik und Astronomie. Seine Lieblingsautoren waren anscheinend Epikur und Pythagoras.

Tony untersuchte das nächste Regal. Da ging es vor allem um Geschichte. Er wandte sich dem Schreibtisch zu. Hier lagen fast nur Werke von Dichtern. Er entdeckte sogar lose Pergamentblätter mit Versen darauf, die aussahen, als hätte der Dichter sie erst gestern verfasst.

Tony zögerte. Doch dann setzte er sich und las. Die Versmaße hatte er in der Schule gelernt. Unwillkürlich schlug er beim Lesen mit der Hand den Takt dazu: Tamtata, tamtata, tamtatata tamta tamtata. Der Inhalt der Gedichte ließ ihn nach einer Weile jedoch aufhören damit.

Bassus schrieb über einen Soldaten, der nie Soldat sein wollte. Über die Grausamkeiten des Krieges, der den Gesetzen der Natur widersprach. Über einen Sohn, der seinen geliebten Vater Mucala nie wieder sah.

Dann fand Tony Liebesgedichte an Orbiana. Nie hätte er Bassus eine solche Zärtlichkeit zugetraut. Er ertrug es nicht, sie weiter zu lesen.

Schließlich griff er nach einem Papyrusblatt, das etwas abseits lag. Und ihm stockte der Atem.

„Warum, ihr Götter, gebt ihr mir einen Sohn, der gar nicht Sohn sein will?“

Und weiter fragte Bassus:

„Vielleicht, wenn ich statt Vater Freund ihm bin, doch was heißt Freund in einem solchen Fall?“

Lange sah Tony auf die Zeilen. Dann rührte er die Tinte an. Er tauchte Bassus’ Feder hinein und schrieb weiter:

„Es heißt, was du getan die ganze Zeit, weshalb er dich vermisst und um dich weint.“

 

Am nächsten Tag ging Tony wieder zum Dienst. Kaum hatte er das Valetudinarium betreten, teilte Morvran ihm mit, dass Donatus ihn sprechen wollte.

Tony betrat das Krankenzimmer. Donatus war endlich auf dem Weg der Besserung. Er winkte ihn zu sich her.

„Du weißt es jetzt also“, sagte er.

„Ja. Aber ich wollte, ich hätte es früher gewusst.“

„Er befürchtete, dass du den Gedanken unangenehm finden könntest.“

Tony schwieg. Natürlich hatte Bassus recht gehabt, ihm zu verschweigen, dass er sein Adoptivvater war. Und trotzdem - jetzt wäre er sehr gerne sein Sohn, wenn ihn das nur wieder zurückbringen würde!

Während der Arbeit gaben alle sich große Mühe, freundlich zu ihm zu sein und ihm damit zu zeigen, dass er auch ohne Bassus nicht allein war auf der Welt. Aber er seufzte innerlich. Wenn er später ins Lager zog, würde er leider keine eigene Wohnung bekommen. Das stand ihm erst in einigen Jahren zu, wenn er ein richtiger Medicus war. Wie sollte er es bis dahin nur aushalten? Er konnte sich nicht vorstellen, so lange mit anderen Soldaten in einem engen Contubernium zu hausen. Selbst wenn einer dieser Soldaten Donatus war.

Hoffentlich konnte er noch recht lange mit Micon in der Wohnung bleiben.

Am Abend holte Tony Teres von der Weide und nahm ihn mit nach Hause. Maius war sofort damit einverstanden gewesen, ihn in seinem Stall unterzubringen.

Später setzte er sich in Bassus’ Zimmer und las in seinen Schriftrollen. Die große hölzerne Truhe und den fast genauso großen Korb mit Deckel rührte er jedoch nicht an. Etwas hielt ihn davon ab.

 

Die nächsten Tage vergingen wie im Traum. Micon war oft unterwegs, stellte Tony jedoch morgens und abends weiterhin das Essen hin.

Eines Abends saßen sie sich beim Abendessen wieder gegenüber, als Micon plötzlich sein Stück Brot auf den Tisch legte und die Hände abwischte. Offensichtlich wollte er etwas sagen, was ihm sehr schwer fiel.

„Was ist los?“

„Ich trage mich mit dem Gedanken, von hier wegzugehen, Tony. Ich meine damit ganz weggehen. Und zwar nach Italien.“

„Aber warum, Micon?“

„Bei meiner ältesten Tochter habe ich mitbekommen, dass sie an einen Sklavenhändler verkauft wurde, der den Markt in Rom bedient. Ich erinnere mich noch an seinen Namen.“

Tonys Brustkorb krampfte sich zusammen.

Micon fuhr fort: „Ich möchte ihn suchen und herausfinden, an wen er meine Tochter weiterverkauft hat.“

„Wird er dir das denn sagen?“

„Wenn ich ihm für die Information Geld gebe, warum nicht?“

Tony wurde übel bei dem Gedanken, dass Micon sich an einen Sklavenhändler wenden musste.

„Ich muss es versuchen, Tony. Erst wenn ich wenigstens eines meiner Kinder wieder gefunden habe, werde ich mich über meine Freiheit freuen können.“

Er verstand Micon. Zugleich war er aber auch überrascht darüber, wie sehr ihm der Gedanke zusetzte, nun auch Micon zu verlieren. Und ja, er würde auch vermissen, dass jemand sein Essen kochte. Aber am schlimmsten war, dass er nach Micons Abreise ins Lager ziehen musste. Und sofort schämte er sich für diesen Gedanken.

Micon wartete auf eine Reaktion von ihm.

Tony riss sich zusammen. „Wenn das so ist, solltest du bald aufbrechen. Sklaven werden schließlich manchmal weiter verkauft, und dann wird es noch schwerer für dich, der Spur deiner Tochter zu folgen.“

Erleichtert sagte Micon: „Genau darum wollte ich dich bitten. Dass du mich möglichst schnell ziehen lässt.“

„Mein Gott, Micon, du bist frei! Du musst nicht mehr um Erlaubnis bitten. Wann möchtest du los?“

„Eine Ala in der Nähe von Bonna wird Ende des Monats nach Süden versetzt. Meinst du, Fabius Pudens könnte dafür sorgen, dass ich sie begleiten darf?“

„Natürlich. Gleich morgen früh frage ich ihn. Das ist eine gute Idee. Sicherer könntest du nicht reisen.“

In der Nacht konnte Tony nicht schlafen. Der Gedanke, dass seine Tage in dieser Wohnung gezählt waren, zerriss ihm das Herz. Er streichelte Harpalos. Gut, dass er wenigstens noch den Hund hatte. Würde er auch im Lager bei ihm schlafen dürfen?

Draußen lief Micon herum. Auch er konnte wohl vor Aufregung nicht schlafen.

Tony war beeindruckt von der Entschlossenheit des stillen, unscheinbaren Mannes. Irgendwann schlief er dann doch ein.

Und wieder hatte er den Traum. Die unendliche Eiswüste. Und weit entfernt, am Rand des Horizonts, Bassus.

 

Der nächste Tag war ein Feiertag. Die Ala veranstaltete für die Bewohner der Umgebung auf dem Campus Reiterspiele. Tony sollte Wackeron begleiten, aber er hatte überhaupt keine Lust dazu. Es würde sicher darum gehen, den anderen Reitern irgendeine Beute abzuluchsen und damit als Erster einen Zielpunkt zu erreichen.

Kaum hatte er zusammen mit Harpalos das Haus verlassen, fand Tony sich schon in einem Strom aufgeregter Erwachsener und Kinder wieder, die gut gelaunt und festlich gekleidet in dieselbe Richtung liefen. Am Wegrand standen Holzbuden, und von billigem Schmuck und Fähnchen bis hin zu Süßigkeiten, gefüllten Fladenbroten und gebraten Fleischspießen wurde alles mögliche feilgeboten.

Tony brauchte eine Weile, bis er Wackeron in einer Gruppe von laut schwatzenden Menschen entdeckte. Unter ihnen war Donatus, noch etwas bleich und auf einen Stock gestützt. Und neben ihm stand eine junge Frau, die Donatus sichtlich anhimmelte. Auf sie raste Harpalos zu und sprang an ihr hinauf. Sie schrie vor Entzücken auf und kraulte ihn.

„Das ist Sabina“, stellte Donatus Tony die junge Frau vor.

„Und das ist Tony“, sagte er zu ihr.

Wieder schrie sie begeistert auf. Und sofort legte sie los: „Ich war dabei, als Harpalos Donatus fand. Zu Hause haben wir den Armen erst mal gefüttert. Und am nächsten Tag haben meine Eltern und ich in der Colonia herumgefragt, um herauszufinden, was mit dir geschehen war. Das war vielleicht ein Schrecken, als wir erfuhren, dass du bei Perpenna gelandet warst. Und oh“, sie schlug die Hand vor den Mund, „das mit Bassus tut mir schrecklich leid, Tony. Entschuldige, dass ich es nicht gleich erwähnt habe. Einfach schrecklich. Ich kann es gar nicht glauben. Vor allem heute. Er war der Beste. Ohne ihn werden die Reiterspiele nicht dasselbe sein.“

Sie hätte wahrscheinlich noch Stunden weitergeplappert, wenn Donatus ihr nicht seinen Arm um die Schultern gelegt und gesagt hätte: „Es geht los. Wir müssen zu unseren Plätzen.“

Sie gingen voraus. Wackeron folgte mit Sabinas Eltern, und Tony ging zwischen den beiden jüngsten Söhnen.

Kaum saßen sie, ritten zwei Reiter in die Arena und bliesen auf Trompeten. Dann kam ein Priester, der mit donnernder Bassstimme die Götter anrief. Als er eine lange Litanei von Gebeten anstimmte, verstärkte die Menge jede seiner Bitten, indem sie im Chor rief: „Erhört uns!“

Danach ritt eine Gruppe von Reitern herein. Begeistert sprangen die Menschen von den Sitzen und schrieen und winkten. Tony war sprachlos. Noch nie hatte er die Pferde so bunt geschmückt und die Soldaten so prunkvoll ausgestattet gesehen. Da die Männer sehr eng beieinander ritten, wirkten sie wie eine Wand. Vorneweg trug einer die Stange mit dem Feldzeichen. Sein Gesicht war jedoch nicht zu erkennen, denn er trug eine silberne Maske.

Auf kurze, knappe Befehle hin wechselten die Reiter blitzschnell die Formation. Das geschah so elegant, dass es wie ein Ballett aussah.

Nach diesen Reitern kamen andere, die Kämpfe ausfochten. Auch sie trugen silberne Gesichtsmasken und Prunkhelme mit Federbüschen. Als zwei besonders prächtige Reiter zum Zweikampf antraten, standen einige Reihen hinter Tony mehrere junge Mädchen auf und kreischten wie bei einem Rockkonzert.

Das Spektakel dauerte Stunden. Gut, dass sie sich an den Buden mit Essen eingedeckt hatten und Sabinas Mutter von zuhause noch einen Extrakorb mit Süßigkeiten mitgebracht hatte.

Zuletzt trat der Praefectus auf und hielt eine kurze Ansprache. Er beschwor die guten Beziehungen der Ala zur einheimischen Bevölkerung, was mit warmem Applaus quittiert wurde.

Dann fuhr er fort: „Ich glaube, dass ich uns allen aus dem Herzen spreche, wenn ich sage, dass wir heute, trotz aller Festfreude, ein Mitglied der Ala besonders vermisst haben. Titus Flavius Bassus war einer unserer besten Reiter, und wir hoffen, dass er gut in der Schattenwelt angekommen ist.“

Die meisten senkten den Kopf und murmelten Gebete für die Seele von Bassus.

Tony schloss die Augen und hielt sich mit den Händen die Ohren zu.

 

Einige Abende später ritt er mit Teres über die noch immer zugeschneiten Felder in der Nähe der Siedlung. Wann würde es endlich wärmer werden?

Das Reiten hatte ihm Maius beigebracht. Und Teres schienen die abendlichen Ritte zu gefallen. Er wieherte jedenfalls und scharrte mit den Hufen, sobald Tony seinen Stall betrat.

Ansonsten ging Tony weiter seiner Arbeit nach und fürchtete sich immer mehr vor dem Tag, an dem Micon gehen würde. Er würde danach noch eine Weile in der Wohnung bleiben können. Wackeron hatte es erlaubt, nachdem Maius und seine Frau erklärt hatten, dass sie sich um Tony kümmern würden. Und obwohl ihm davor graute, allein in der Wohnung zu sein, so graute ihm noch viel mehr davor, ganz ins Lager zu ziehen und für die nächsten Jahre nur noch der Armee zu gehören.

Solange er ausgebildet wurde, musste er zwar keinen Fahneneid ablegen, aber sobald er von Wackeron die Erlaubnis erhielt, den Titel Medicus zu führen, würde er sich entscheiden müssen. Entweder er ließ sich als freier Arzt in irgendeiner Stadt nieder oder er verpflichtete sich, mindestens 25 Jahre dem römischen Imperium zu dienen.

Für alle lag es auf der Hand, dass er Feldarzt werden würde, natürlich bei der Ala Noricorum. Doch würde er auf Dauer die Routine eines Lagers aushalten? Als Arzt genoss er zwar einen Sonderstatus und war nicht dem üblichen Drill ausgesetzt, aber natürlich wurde auch von den Ärzten erwartet, dass sie sich ohne Wenn und Aber mit der Armee identifizierten. Er würde zum Beispiel nie fragen dürfen, warum die Ala eine Strafaktion durchführte oder warum sie plötzlich ihre Zelte packte und in eine andere, weit entfernte Region des Imperiums zog. Das bestimmten andere.

Aber auch die Idee, sich als freier Arzt niederzulassen, löste keine Begeisterung in ihm aus. Warum eigentlich nicht? Es wäre doch genau das freie Leben, das ihm vorgeschwebt hatte, als er vor Severus’ Autorität geflohen war?

Er wäre sicher ein guter Arzt und würde ordentlich verdienen. Er könnte sich eine Frau suchen, eine Familie gründen. Und all das hätte er einem Mann zu verdanken, den die Ala für tot erklärt hatte und von dem er inzwischen jede Nacht träumte.

Tony stieg ab und tätschelte Teres den Hals.

„Was denkst du eigentlich? Bist du auch davon überzeugt, dass Bassus tot ist?“

Die klugen Augen sahen ihn aufmerksam an. Tony legte seine Hand auf die Brust und spürte das Medaillon. Langsam zog er es aus dem Kragen und streifte es über den Kopf. In seinen Händen schien es lebendig zu werden. Es begann zu pulsieren, und das Ornament drehte und wand sich mit immer schnelleren Bewegungen. Tony schloss die Augen.

Eine große Klarheit kam über ihn.

„Ich weiß jetzt, was ich tun werde“, sagte er zu Teres, „und du musst mir dabei helfen.“ 

 

„Ich werde auch von hier fortgehen“, sagte Tony beim Frühstück zu Micon. „Ich werde Bassus suchen.“

Er erzählte ihm von seinem Traum.

Micon zögerte keine Sekunde. „Möchtest du, dass ich mitkomme?“

So ruhig und entschlossen, wie er das sagte, war es ihm ernst damit.

„Nein. Du suchst nach deiner Tochter.“

„Aber was du vorhast, ist allein sehr gefährlich.“

„Warum sagst du nicht, dass es Wahnsinn ist?“

„Weil auch ich fast jede Nacht von meiner ältesten Tochter träume.“

„Du wirst sie finden.“

„Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass sie inzwischen tot ist.“

„Sie lebt.“

Micon lächelte. „Kommen wir noch einmal auf deine Sicherheit zurück.“

„Ich habe das hier.“ Tony zog das Medaillon hervor. „Es holt mich angeblich aus allen Gefahren wieder heraus.“

Micon betrachtete es und entdeckte die Buchstaben auf der Rückseite.

„Ja, es gehört eigentlich Bassus. Aber er hat es nie zurückverlangt.“

Micon betrachtete es eine Weile nachdenklich. „Hat dich dieses Medaillon in unsere Welt gebracht?“, fragte er schließlich.

Verdammt, woher wusste er…?

„Vergiss nicht, dass ich die Wohnung täglich sauber mache und jeden Gegenstand kenne“, erklärte Micon. „Es sind seltsame Dinge darunter. Zum Beispiel ein Messer, dessen Klinge heraussaust, wenn man auf einen Knopf drückt.“

Tony schluckte. „Nun, wie du siehst, besitze ich Dinge, die mir anderen gegenüber einen gewissen Vorteil verschaffen. Aber die interessantesten sind noch bei einem Freund von Bassus.“

„Vielleicht sind sie unter den Dingen, die jemand eines Tages vorbeigebracht hat. Sie liegen in der Truhe im seinem Zimmer.“

Zum ersten Mal öffnete Tony die Truhe und fand darin seinen Rucksack und seine Kleidungsstücke. Verwundert berührte er die einst so vertrauten Gegenstände, die sich inzwischen völlig fremd anfühlten.

Ein weiterer Gegenstand erregte seine Aufmerksamkeit. Er war in weißes Leinen gehüllt. Tony entfernte das Tuch und hielt den Wachsabdruck eines Frauengesichtes in den Händen.

„Orbianas Totenmaske“, sagte Micon.

Selbst im Tod sah sie schön aus. Tony kam der Gedanke, dass sie seine Adoptivmutter wäre, wenn sie noch leben würde. Behutsam wickelte er die Maske wieder ein.

„Wird die Ala dir denn gestatten, in Germania Libera ganz allein nach Bassus zu suchen?“, fragte Micon.

Tony seufzte. „Ich fürchte, sie werden mich überhaupt nicht nach ihm suchen lassen. Für sie ist er tot, und damit fertig.“

Sie schwiegen.

Nach einer Weile sagte Micon: „Da ist noch etwas, das du wissen solltest, Tony. Auch Imperator Trajanus weiß, wer du wirklich bist. Er war einmal hier in der Wohnung, und Flavius Bassus hat ihm die Dinge aus der Truhe gezeigt.“

 

Am nächsten Tag untersuchte Tony seinen Rucksack noch einmal genauer und stellte fest, dass das Nachtfernglas fehlte. Es war der einzige Gegenstand, den Severus behalten hatte. Tony konnte sich vorstellen warum. Sicher stieg er täglich aufs Dach, um nach verdächtigen Germanen Ausschau zu halten.

„Ist dieses Rohr für die Ferne denn wichtig?“

„Ich kann unmöglich darauf verzichten.“

„Dann musst du vor deiner Expedition einen Abstecher zu diesem Flavius Severus machen und es holen.“

„Ich fürchte, er wird sich nicht freuen, mich zu sehen.“

„Hauptsache, er meldet dein Erscheinen nicht sofort der Ala.“

„Aber wie könnte ich ihn daran hindern?“

„Indem du ihn anlügst“, sagte Micon ungerührt.

Tony musste grinsen. „Damit habe ich zwar kein Problem, aber ich kann ihm wohl kaum sagen, dass ich die Erlaubnis der Ala habe, denn er würde sofort meine offiziellen Reisedokumente sehen wollen.“

„Kannst du dir gefälschte Dokumente beschaffen?“

„Ich habe keine Ahnung, Micon. In der Welt, aus der ich komme, könnte ich es.“

„Aber vielleicht könntest du ja auch echte Dokumente bekommen. Du könntest die Ala zum Beispiel bitten, dich für eine gewisse Zeit freizustellen.“

„Was für einen Grund soll ich angeben? Ich kann ihnen schließlich nicht sagen, dass ich Bassus suche.“

„Dann beantrage doch einfach Urlaub.“

Urlaub? Auf den Gedanken war Tony gar nicht gekommen.

„Einen Versuch ist es wert. Danke, Micon. Du bist ganz schön auf Zack.“

Micon lächelte. „Hoffen wir es.“

 

„Natürlich kannst du dir für zwei oder drei Tage frei nehmen“, sagte Wackeron.

„Ich hatte an eine etwas längere Zeit gedacht.“

„Wozu das? Was würdest du mit so viel freier Zeit anfangen?“

„Nun, ein bisschen verreisen.“

„Verreisen? Möchtest du jemanden besuchen? Wen denn und wo?“

„Niemand Bestimmten. Einfach so. Mit Teres ein bisschen in der Gegend herumreiten.“

„Was für eine seltsame Idee, mitten im Winter. Wenn du dich in wenigen Jahren als Feldarzt verpflichtest, wirst du in deinem Leben viel reisen. Du wirst die entferntesten Ecken des Imperiums kennen lernen.“

„Ich möchte mir die andere Seite des Rheins ansehen. Ich wüsste gerne, wie es dort aussieht.

Entsetzt sah Wackeron ihn an. „Und willst du am Ende auch noch allein reisen?“

Tony zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“

„Das wäre Wahnsinn. Es ist im Moment viel zu gefährlich. Jedenfalls, solange wir diesen germanischen Bandenführer nicht gefasst haben.“

„Okay. Vergiss es. Es war nur so eine Idee.“

„Dann ist es gut. Hilf jetzt bitte Morvran.“

Wackeron machte sich auf den Weg zum Praetorium.

Morvran ging nicht auf das Gespräch ein. Aber während der Arbeit musste Tony dauernd an seine Reise denken. Als Wackeron wieder zurückkam, sprach er ihn noch einmal an.

„Meinst du, ich könnte für ein paar Tage Flavius Severus besuchen?“

„Hat er dich denn eingeladen?“

„Äh, nein.“

„Aber du stehst in Kontakt mit ihm?“

„Noch nicht so richtig.“

 

„Du musst Severus einen Brief schreiben und ihn dazu bringen, dich einzuladen.“

„Das macht er nie.“

„Erinnere ihn daran, dass er etwas zurückbehalten hat, das dir gehört.“

Es war Tony zwar peinlich, aber er musste es Micon beichten: „Ich habe ihn bestohlen, als ich damals wegging.“

„Oh, ihr seid also quitt.“ Micon wirkte nicht sonderlich erschüttert. „Dann ist die Sache natürlich nicht so einfach.“

Er dache eine Weile nach. „Gibt es in seinem Haushalt denn niemanden, der dir helfen könnte?“

Doch… da war Flavia. Aber er war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Sicher würde auch sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Und Marcia? Sie würde wahrscheinlich zumindest lesen, was er ihr mitzuteilen hatte. Und wenn sie ihm tatsächlich helfen würde, könnte er sie auch nach ihrem ersten Mann ausfragen. Dem Mann mit der Brandnarbe.

„Severus’ Frau ist sehr nett. Und sie hat auch einen gewissen Einfluss auf ihren Mann.“

Micon klatschte in die Hände. „Gut! Dann schreibst du an sie.“

Er lief los und brachte aus Bassus’ Zimmer Papyrusblätter, Tinte und eine Schreibfeder.

Zuerst fiel Tony nichts ein. Denn am liebsten hätte er Marcia die Wahrheit geschrieben. Er legte die Feder wieder hin. Wenn er Severus’ Familie noch einmal für seine Zwecke benutzte, würden sie ihn endgültig hassen. Aber andererseits - er würde entweder sterben oder Bassus finden. Weiter konnte er jetzt nicht denken.

Er begann zu schreiben und erklärte Marcia, dass ihm viel daran lag, sich mit ihrer Familie zu versöhnen.

Micon grübelte.

„Was ist?“

„Bevor wir den Brief einem Boten aushändigen, solltest du dir über die Konsequenzen im Klaren sein.“

„Nun, Severus wird mich aus seinem Leben ausradieren.“

„Ich dachte an die Ala. Deine Verbindung zu ihr ist dein einziger Schutz. Wenn du dieses Band durchtrennst, bist du völlig auf dich allein gestellt.“

Tony dachte an Perpennas Verlies.

„Ich kann nicht anders.“

„Und was wird aus deiner Ausbildung bei Wackeron? Überhaupt aus deiner Beziehung zu ihm? Schließlich ist er auch dein Vormund. Du brauchst seine Unterstützung, um später selbst als Medicus praktizieren zu können.“

Tony hob die Hände. „Hör auf. Es ändert nichts.“

„Ich wollte es nur gesagt haben.“

Micon gewann in Tonys Augen immer mehr an Format. Er hätte ihn gerne dabei gehabt auf seiner Reise. Aber es half nichts. Micon musste seinem eigenen Stern folgen.

 

Bereits nach wenigen Tagen kam die Einladung auf Severus’ Gut an. Tony fühlte sich beschissen. Aber es gab kein Zurück mehr. Alles Weitere war geplant und geklärt. Er würde auf dem Gut noch ein zweites Pferd stehlen. Darauf kam es dann auch nicht mehr an. Denn er würde es brauchen für Bassus. Falls er ihn fand. Und falls Bassus noch lebte.

Doch zuerst musste Tony noch eine andere Sache hinter sich bringen.

Der gefürchtete Moment des Abschieds von Micon war gekommen. Nachdem sie noch einmal zusammen gefrühstückt hatten, standen sie einander jetzt gegenüber.

Micon umarmte ihn. Er fühlte sich schmal und zerbrechlich an. Aber Tony spürte in dem zierlichen Mann eine große Kraft. Er hätte gerne gewusst, was aus Micon wurde und ob es ihm gelingen würde, seine Tochter zu finden.

Als hätte er seine Gedanken erraten, fragte Micon: „Ist es in Ordnung, wenn ich mal schreibe?“, und fügte gleich hinzu: „Gesetzt den Fall, dass hier dann wieder jemand ist.“

Tony musste trotz seiner Trauer lächeln. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das freuen würde, gesetzt den Fall, dass hier dann wieder jemand wäre.“

Während er mit Harpalos zum Kastell ging, drehte sich der Hund immer wieder um. Auch er schien zu begreifen, dass am Abend kein Micon mehr da sein würde.

Und wie würde er selbst sich fühlen, wenn er nach der Arbeit in die leere Wohnung zurückkehrte?

Nun, es war egal. Bald würde auch er losziehen. Das Gefühl, dass er keine Zeit mehr verlieren durfte, wurde mit jedem Tag drängender.

 

Wackeron reichte Tonys Urlaubsantrag ein. Er versicherte, dass es keine Schwierigkeiten geben würde.

„Alle verstehen, dass du mal ausspannen musst. Und ich bin froh, dass du dich wieder mit Severus versöhnst.“

„Ich freue mich vor allem darauf, Flavia, Marcia und den kleinen Aurelius wieder zu sehen.“

„Natürlich. Aber glaube mir, auch Severus ist ein guter Mensch.“

„Wann, denkst du, werde ich aus dem Praetorium grünes Licht bekommen?“

„Grünes Licht?“

„Äh, ich meine, die Erlaubnis.“

„Vielleicht noch heute.“

 

Die Sonne war bereits untergegangen, als Tony wieder in die Siedlung einbog. Der März ging bereits seinem Ende entgegen, aber noch immer lag Schnee. Inzwischen war er vom Ruß der Schornsteine an manchen Stellen fast schwarz.

Zu Beginn des Winters, vor einer halben Ewigkeit, war er mit Bassus und Harpalos hier entlang gegangen, um die Wohnung zu besichtigen.

Und auf einmal fühlte er sich furchtbar müde.

Was, wenn Bassus wirklich tot war?

Und was, wenn er wieder von einem Perpenna gefangen genommen wurde? Dann würde sicher niemand zu seiner Rettung kommen. Weil sie es nicht erfuhren. Oder weil sie es nicht mehr wollten.

Tony stand vor der Haustür. Er zitterte. Dieser verdammte, nicht enden wollende Winter! Und wenn er einfach auf die Felder laufen und sich dort hinlegen würde? Bis zum Morgen wäre er sicher erfroren.

Der Gedanke war verlockend.

Er lachte kurz auf. Er hätte die Kontrolle über sein Leben wieder, indem er seinen Tod frei wählte! Aber es stimmte. Jetzt konnte er es noch. Wenn er erst einmal in Germania Libera war und ihn wieder jemand in Ketten legte, wäre es zu spät.

Gerade als er abdrehen wollte, um aus der Siedlung zu laufen, öffnete sich die Tür.

„Ah, ich habe mich schon gefragt, wo du so lange steckst!“, rief Maius, und neben ihm trottete Harpalos heraus.

Tony fiel auf die Knie und umarmte den Hund, der freudig mit dem Schwanz wedelte und ihm das Gesicht leckte. Maius hielt eine Schüssel in der Hand, aus der es köstlich duftete.

„Von Lauba. Der Hund hat schon gegessen.“

Tony nahm die Schüssel. „Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.“

„Schon gut. Wir sind froh, dass wir einen Arzt im Haus haben. Meine Schmerzen sind viel erträglicher geworden.“ 

Tony hatte auch bei ihm die Schröpfköpfe eingesetzt.

In der Wohnung war es wohlig warm. Maius hatte mit den Holzscheiten, die Micon noch angehäuft hatte, im Herd ein Feuer gemacht. Tony setzte sich. Harpalos legte seine Schnauze auf sein Knie.

„Vermisst du die anderen auch?“, fragte er ihn.

Der Hund drückte sich noch fester an ihn.

„Ich brauche nur noch meinen Urlaubsschein, dann ziehen wir los.“

 

Am nächsten Tag wurde Tony überraschend ins Praetorium beordert. Wurde der Urlaub doch nicht genehmigt? Oder hatte man Bassus’ Leiche gefunden? Er rannte.

Die beiden Wachsoldaten stellten wortlos ihre Lanzen senkrecht. Ein Gehilfe des Praefectus führte ihn in einen kleinen, prunkvollen Raum. Während Tony wartete, schlug sein Herz laut und dumpf. Er zuckte zusammen, als plötzlich Imperator Trajanus vor ihm stand. Er reichte ihm eine Papyrusrolle.

„Dein Urlaubsschein, Tony. Du kannst länger wegbleiben. Es wird dir gut tun.“

Tony fühlte sich angesichts dieser Fürsorge wie ein Verräter.

„Danke“, murmelte er.

Wie gerne hätte er für das, was er vorhatte, Trajanus‘ Segen gehabt. Aber das ging natürlich nicht. Trotzdem. Irgendetwas wollte er noch zu ihm sagen.

„Ihr kennt meine Geschichte, Imperator?“

Trajanus nickte. Seine dunklen Augen blickten wach und interessiert.

Auf einmal wurde Tony klar, wie privilegiert er war, einem römischen Kaiser so nah zu sein und sein Wohlwollen zu besitzen. Und er hatte vor, das alles mit Füßen zu treten!

„Ich vermisse Bassus unendlich“, murmelte er.

„Es hätte ihn sehr gefreut, das zu wissen“, erwiderte Trajanus.

Zurück im Valetudinarium fühlte Tony sich gegenüber allen in der Ala unerträglich schuldig. Aber nur Morvran schien seinen Seelenzustand zu bemerken. Immer wieder sah er ihn mit seinen Gletscheraugen nachdenklich an. 

 

Am Abend beschloss Tony, Trajanus einen Brief zu hinterlassen. Das war er ihm und der Ala einfach schuldig.

Zum Glück besaß Bassus einen größeren Vorrat an Papyrusblättern, denn die beiden ersten Fassungen musste Tony wieder zerreißen. Beim dritten Anlauf erzählte er einfach seine Geschichte. Zum ersten Mal in seinem Leben schrieb er sich alles von der Seele. Seine Eltern und seine Beziehung zu ihnen. Sein Leben für Melanie. Warum er Kampfsport betrieb. Wie er mit gefälschten Papieren in den Club gekommen war. Wie Melanie starb. Die Psychiatrie. Gwanwyn. Das Medaillon. Und wie er in der Römerzeit wieder zu sich gekommen war. Er ging auf seine Beziehung zu Bassus ein und beschrieb den Traum, der ihn jede Nacht heimsuchte. Und zum Schluss erklärte er, was er vorhatte.

Dann atmete er auf.

Nur eines musste er noch herausfinden: Wie sprach man einen römischen Kaiser korrekt an? Wenn er ihm schon so viel zumutete, sollte wenigstens das stimmen. Er hatte auf der ersten Seite oben extra reichlich Platz gelassen.

Den Brief wollte er Morvran geben mit der Bitte, ihn erst nach einigen Tagen an Trajanus weiterzureichen. Dann wäre er schon in Germania Libera, und niemand konnte ihn mehr von seinem Vorhaben abbringen.

Er ging über den Flur.

Maius sah ihn verwundert an. „Das weißt du nicht? Du dienst doch in seiner Armee und bist römischer Bürger.“

„Bitte, Maius, sage es mir einfach.“

„Also gut. Sein kompletter Name lautet Imperator Caesar Divi Nervae Filius Nerva Trajanus Augustus. Pater Patriae.“

Fassungslos stammelte Tony, “Das muss ich mir aufschreiben.”

Er rannte noch einmal hinüber und holte ein Wachstäfelchen. „Sohn des göttlichen Nerva?“

„Weißt du etwa nicht einmal, dass Imperator Nerva ihn kurz vor seinem Tod adoptiert hatte?“

„Äh ….“

„Damit stellte er sicher, dass Trajanus sein Nachfolger wurde.“

„Und was bedeutet Vater des Vaterlandes?“

„Das ist ein Titel, der ihm verliehen wurde. Als neuer Imperator griff er sofort hart durch, um Ruhe und Ordnung herzustellen.“

„Wie hat er das denn gemacht?“

„Er hat die Anführer der meuternden Praetorianergarde nach Moguntiacum eingeladen, angeblich, um ihnen neue Befehle zu erteilen. Aber kaum waren sie aus Rom eingetroffen, ließ er sie hinrichten.“

Um Gottes willen! Er hatte Trajanus völlig falsch eingeschätzt!

„Deshalb ist er so beliebt“, fuhr Maius ungerührt fort. „Unter Caesar Trajanus wird es keine Bürgerkriege geben. Die Menschen müssen nicht mehr dauernd um ihr Leben fürchten.“

„Aber … er ist immer so freundlich.“

„Oh ja, das ist er! Und das kommt von Herzen. Trajanus ist ein wunderbarer Mensch.“

Nach allem, was er gerade von Maius erfahren hatte, war es eigentlich sinnlos, Trajanus diesen Brief zukommen zu lassen. Niemals würde er bei ihm auf Verständnis stoßen.