Zum ersten Mal sehe ich das Foto einer der Frauen. Auf der letzten Seite, der Innenseite des Moleskindeckels, ist ein Umschlag und darin steckt ein Foto. Es sieht aus wie aus einer Zeitung geschnitten, schwarzweiß, grobkörnig. Darunter eine Zeile: »Abb. 5: Lage der Leiche im Wassergraben unterhalb der Bahnböschung nach Wegnahme der abgerissenen Gräser, mit über Schulter und Kopf ausgebreitetem, zerrissenem Kleid, Handtasche rechts der Schulter und Schuh links am Bildrand.« Zu sehen ist der Rücken einer Frau, der obere Teil des Rückens und der Kopf sind von einem schwarzen Kleid bedeckt, der untere Teil ist entblößt, man sieht ihren nackten Hintern, einen großen Blutfleck auf der linken Pobacke, sie kniet, den Kopf auf dem Boden unter einem Ast mit Blättern. Ein Foto ohne Gesicht, ein blutbedeckter, vergewaltigter Hintern. Das Erschreckende ist diese Anonymität, eine Frau in der Böschung, wie weggeworfen. Ich habe mich oft gefragt, ob meine Mutter jemals an seine Opfer gedacht hat. An die Frauen, die er getötet hat, die für seine Sehnsucht mit dem Leben bezahlen mussten. In einem der Artikel stand, dass er aus Liebe tötete. Aber was war das für eine Liebe? Und wieso konnte meine Mutter darin eine Liebe erkennen? Sie sprach von seiner Sehnsucht nach Liebe, und ich fragte mich, ob auch sie diese Sehnsucht in sich spürte. Ob das vielleicht die Identifikation war, von der ich in dem Buch über Frauen, die Mörder lieben, gelesen habe. Um mit jemandem eine Liebesbeziehung eingehen zu können, der einen anderen Menschen umgebracht habe, müsse man sich in gewissem Maße mit dieser Tat und der dazugehörigen Motivation identifizieren können. Sie hat nie über die Frauen gesprochen, die er umgebracht hatte, immer nur über ihn, deshalb hatte ich die ganze Zeit gedacht, diese Frauen seien ihr egal gewesen. Und als ich das Foto entdeckte und herauszog, war ich mir sicher, dass es das Bild vom Nikolaus ist.