Es dauerte, bis sie mir die Tür öffnete. Und als ich in den zweiten Stock kam, stand die Wohnungstür ein Spalt offen. Mir schallte Musik entgegen, das war nicht ungewöhnlich, in den ersten Jahren, als ich sie in Berlin besuchte, kam immer mal wieder die Polizei vorbei, weil sie auf keine Bitte der Nachbarn reagierte, ihren Jimi Hendrix leiser zu stellen. Am liebsten hörte sie »All Along the Watchtower« in Endlosschleife. Ich glaube, meine Mutter hatte nie viele Freunde in den Häusern, in denen sie wohnte. An diesem Tag aber, es ist ein paar Monate her, kam mir eine ganze andere Musik entgegen, Musik, die ich mit meiner Mutter nie in Verbindung gebracht hätte. Sie hörte Bach. Und zwar, das fand ich später heraus, die Matthäuspassion. Als ich das Wohnzimmer betrat, lag sie auf dem Sofa, den Kopf auf der Armlehne, eine Decke über sich gezogen. Ihren rechten Handrücken hatte sie auf die Stirn gelegt. Sie öffnete kurz die Augen und schloss sie wieder, als sie mich erblickt hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. Früher war das meist ein Zeichen dafür, dass sie zu viel getrunken hatte. Aber ich sah keine leeren Flaschen, nicht mal Zigaretten.

»Kann ich was für dich tun?«, fragte ich.

Sie schüttelte wieder den Kopf.

»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie, »das ist alles.«

»Soll ich dir ein Glas Wasser holen? Ein Aspirin?«

»Nein.«

So verbrachten wir eine ganze Weile, ich auf dem Stuhl, sie auf dem Sofa, und hörten gemeinsam die Matthäuspassion. Sie hatte die meiste Zeit ihre Augen geschlossen. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, sie sei eingeschlafen, weil sich ihr Brustkorb so sanft und regelmäßig hob und senkte. Vielleicht hatte sie Temperatur, weil sie zu schwitzen schien, ein paar ihrer dunkelblonden Haare, die sie sich in letzter Zeit hatte wachsen lassen, klebten an ihren Schläfen. Wie sie dalag, hatte sie etwas Friedvolles, etwas Sanftes. Ich hatte mir nie viel aus Bach gemacht. Bis zu diesem Nachmittag. Irgendwann aber war die CD zu Ende, und ich hätte sie gern noch mal gehört und noch mal.