Das Schmetterlingshaus hat geschlossen, es befindet sich im Umbau. Sie versucht, einen Blick hineinzuwerfen, aber es scheint, als wären alle Schmetterlinge ausgeflogen. Der Raum ist leer, auf dem Boden liegen Werkzeuge, und die Tür ist verschlossen. Sie weiß noch, wie sie ihm damals gefolgt ist, nachdem er sich von den Vögeln verabschiedet hatte. Er blieb an jedem Käfig stehen, als wollte er sich von jedem Tier verabschieden. Auch von Tieren, von denen er mit Sicherheit noch nie gehört hatte. Sie erinnert sich noch an den Soldatenkiebitz, weil sie es absurd fand, ein Tier als Soldat zu bezeichnen. Der Vogel stand mit den Füßen im Wasser. Der Ausschnitt einer Landschaft hinter Glas. Ein Tümpel, Sand am Ufer, ein kleines Dickicht aus Schilf und anderen Wasserpflanzen. Er gab acht. Und wahrscheinlich hat ihm das seinen Namen eingebracht, dass er dastand wie ein Soldat auf Posten. Allerdings hatte er seinen Kopf eingezogen, schaute ein wenig missmutig drein und ließ den Hals verschwinden. Sie gingen an den Auerhähnen vorbei, an den Krokodilen. Sie lief hinter ihm her. Und ihr folgten Fritzmann und der Pfarrer in gewissem Abstand. Wie seine Entourage. Sie waren im Laufschritt unterwegs. Er eilte von Käfig zu Käfig, bis sie ins Schmetterlingshaus kamen. Sie mussten durch zwei Türen und standen dann in einer Art Gewächshaus. Es war warm und feucht in dem Raum, und überall flatterten Schmetterlinge herum. In allen Farben und Größen. Er blieb stehen, mitten im Raum, und folgte ihnen mit seinen Blicken. Er legte den Kopf in den Nacken, drehte sich, und dann breitete er seine Arme aus, und sein Jackett rutschte ihm die Hüften hoch und straffte sich bedenklich unter seinen Achseln. Außer ihnen war noch eine Mutter mit ihrem Sohn im Haus. Ein Junge von fünf Jahren, vielleicht auch sechs oder sieben. Er schaute ihn an, sagte: »Guck mal, Mama, was der Mann da macht.«
Und die Mutter wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie sagte: »Schau mal da, ist der nicht schön, wie groß und bunt!« Und sie zeigte auf einen Schmetterling, der über ihren Köpfen hinwegflatterte. Aber der Junge interessierte sich nicht mehr für die Schmetterlinge. Er sah nur noch ihn an. Wie gebannt. Dann konnte auch die Mutter nicht mehr anders, als ihn zu beobachten. Allzu lange würde er so nicht stehen können, dachte sie, dafür waren seine Hände einfach zu schwer. Aber sie hatte seine Kraft unterschätzt. Fritzmann und der Pfarrer setzten sich auf eine Bank. Die Schmetterlinge schienen ihn nicht zu beachten, sie flatterten über ihn hinweg, setzten sich in sicherer Entfernung auf Äste und auf Fensterrahmen. Es war still im Raum. Niemand sprach. Selbst Fritzmann und der Pfarrer ließen ihre Blicke nicht von ihm. Es war, als spielte er toter Mann, und sie versuchten, ihn einer Bewegung zu überführen. Ein Zittern der Hände, ein Heben des Brustkorbs, ein Augenzwinkern. Allmählich machte sie sich Gedanken. War er ausgeflogen und hatte seine Hülle hiergelassen? Hatte er sich entpuppt? Vielleicht müsste sie ihm mit dem Finger in den Rücken piksen, um eine Regung zu provozieren. Schon gut, du hast gewonnen, jetzt kannst du wieder atmen.
Um ehrlich zu sein, sie hasste dieses Spiel, weil es ihr als Kind einen Schrecken eingejagt hatte, als sie ihren Vater auf dem Sofa liegen sah und dachte, er schliefe. Sie hat ihn ganz fest angeschaut, weil sie wusste, dass man Blicke spürte. Sie konzentrierte sich auf seine Lider und war sich sicher, ein Zucken gesehen zu haben. Aber weil er nicht aufwachte, war sie sich dann doch nicht mehr sicher. Sie sagte leise »Papa, wach auf«. Aber er wachte nicht auf. Sie hätte ihn anfassen, an seinem Arm rütteln können, aber das konnte sie nicht. Und selbst als sie anfing, sich Sorgen zu machen, weil er vor ihr auf dem Sofa lag und nicht aufwachte, obwohl sie ihn angeschaut und angesprochen hatte, scheute sie sich davor, ihn zu berühren. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Außer ihnen war niemand im Haus. »Vater«, sagte sie, immer noch verhalten. Weil ihr auch das Schreien nicht gelang. Gleichzeitig hätte sie am liebsten ihre Hände zu Fäusten geballt und auf ihn eingetrommelt. Am Ende schloss sie die Augen ganz fest und suchte mit ihrer Hand seine. Noch heute glaubt sie, den Stoff des Sofas spüren zu können, diesen gerippten Stoff, der, wenn man nur lange genug mit nackten Beinen drauf lag, feine Furchen auf der Haut hinterließ.
Und dann berührte sie seine Finger. Letztlich legte sie ihre Hand auf seine, und er schlug die Augen auf und sagte: »Ich wusste, dass du deinen Papa lieb hast.«
Sie hatte keine Lust, sich auf Friedrichs Spiel einzulassen. Sie setzte sich auf eine noch freie Bank und betrachtete die Schmetterlinge. »Sieh mal«, rief der Junge. Ein großer gelber Falter mit schwarzen Punkten auf den Flügeln hatte sich auf Friedrichs rechte Hand gesetzt. Sie fragte sich, ob man das Gewicht eines Schmetterlings mit geschlossenen Augen spüren konnte. Bald darauf kam der nächste und setzte sich neben den ersten. Und dann kam einer nach dem anderen. Sie hatte so etwas zuvor noch nie gesehen. Alle sahen diesem Schauspiel zu. Bald schon saßen auch Schmetterlinge auf seiner anderen Hand, sie setzten sich in Reihe seine Arme entlang. Ein kleiner mit brauen Flügeln schwirrte ihm vor dem Gesicht herum, nahm mehrere Anläufe, so schien es, bevor er sich auf seiner Nasenspitze niederließ. Und er, er stand da, ohne zu wanken, ohne die Lider zu öffnen, und sie war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt atmete. Die Schmetterlinge schienen ihn mitnehmen zu wollen, und es hätte sie nicht gewundert, wenn sie alle gleichzeitig mit den Flügeln geschlagen und ihn davongetragen hätten. Ihr geht das Bild nicht mehr aus dem Kopf, wie er dastand mit all den Schmetterlingen. Der Junge zeigte auf den Fotoapparat, den die Mutter über der Schulter hängen hatte. Dann ging er auf Zehenspitzen ein paar Schritte zurück und suchte den richtigen Abstand. Er hielt sich die Kamera vors Gesicht, kniff ein Auge zu und zitterte etwas vor Aufregung. Er drückte den Auslöser. Es klackte, als die Blende sich öffnete. Ein Klacken, das in der Stille dieses Raumes für jeden gut hörbar war. Die Schmetterlinge schrecken auf und flatterten wild durcheinander in alle Richtungen durch den Raum. Der Junge erschrak und lief zu seiner Mutter, hielt sich an ihr fest, während sie ihm den Kopf streichelte. Friedrich öffnete die Augen und wusste nicht, was gerade geschehen war. Wahrscheinlich hatte er nicht mal das Klacken gehört, weil seine Ohren damals schon nicht die besten waren. Es war, als müsste er erst einmal zu sich kommen. Er sah sie an. Und dann verlor sich sein Blick, es gab keine Möglichkeit mehr, ihn zu halten. Seine Augen leerten sich, von einem Moment auf den anderen. Dann taumelte er, aber sie bemerkte es zu spät, weil sie versuchte, seinen Blick aufzufangen, und erst als Fritzmann und der Pfarrer aufsprangen, wurde ihr bewusst, dass es sein Abschied war. Noch ehe sie bei ihm waren, sackte er in sich zusammen. Sie versuchten, ihn zu halten, aber es gelang ihnen nicht. Er lag auf der Seite, gekrümmt, eine Hand ausgestreckt auf dem Boden, die andere zwischen seinen Beinen. Ihm stand der Mund offen, und der Speichel tropfte ihm über die Lippen. Seine Augen lagen verdreht in den Höhlen. Der Junge schrie auf und fing an zu weinen, und die Mutter versuchte, sein Gesicht an ihren Bauch zu drücken, um seinen Blick abzuwenden und sein Schluchzen zu ersticken. Fritzmann rannte aus dem Haus. Der Pfarrer drehte Friedrichs schweren Körper, sodass er auf dem Rücken lag. Er legte seinen Kopf auf Friedrichs Brust. Und sie sah nur zu. Erst als sie versuchte, sich ein letztes Bild von ihm zu machen, bemerkte sie, dass es nicht der Schmerz war, der sich in seinem Gesicht zeigte, sondern Erlösung. Er sah so friedlich aus, ein Hauch von Lächeln um den Mund. Er hatte immer in Freiheit sterben wollen. Und konnte es für ihn einen schöneren Ort geben als im Zoo? Es war ein Tod, wie von ihm erträumt. Und sie spürte, wie sich ihre innere Aufregung langsam legte. Ihr Herz wieder ruhiger schlug. Ich müsste ihm die Augen schließen, dachte sie und scheute sich gleichzeitig davor. Sie hatte so etwas noch nie gemacht. Ließen sich tote Lider einfach so schließen? Mit einer Handbewegung? Die Mutter war mit dem Jungen hinausgegangen. Sie hatte die Kamera in der Hand. Darin war das letzte Bild von ihm. Und sie fragte sich, ob er ihn in Gänze festgehalten hatte und die Schmetterlinge auf ihm saßen oder schon im Begriff waren, davonzuflattern. War im Moment des Klackens das Bild schon unauslöschlich gebannt? Sie überlegte kurz, hinterherzulaufen. Ihre Adresse zu notieren, damit sie ihr das Foto schicken konnten. Das letzte Foto von ihm. Aber sie blieb sitzen und fühlte Erleichterung. Sie musste ihm nur noch die Augen schließen. Aber dann rief der Pfarrer: »Er atmet.« Das war ein Schock. Wieso atmete er? Wollte er nicht sterben oder konnte er es nicht? Sie stand neben dem Pfarrer, sie schauten sich an, und sie glaubte, sie hatten beide den gleichen Gedanken. Er zuckte mit den Achseln. Was konnten sie tun? Sie sah sich um. Außer ihnen war niemand im Raum.
Der Pfarrer legte noch mal seinen Kopf auf Friedrichs Brust. Dann erhob er sich und sagte: »Er lebt, kein Zweifel.« Niemand sprach es aus. Und sie konnte auch nicht sicher sein, dass der Pfarrer diesen Gedanken hatte, aber die Art, wie er sie ansah, fragend einerseits, und nicht freudig erregt, wie man es erwarten konnte, wenn man feststellte, dass sich ein Mensch, der vor den eigenen Augen zu sterben drohte, doch am Leben hielt. Sie kniete sich neben Friedrichs Kopf und betrachtete ihn aus der Nähe. Einfach so sitzen zu bleiben und zu warten, das wäre unterlassene Hilfeleistung, aber sie war sich sicher, dass der Pfarrer später das Richtige zu Protokoll geben würde. Sie konnte ihn so ruhig anschauen, weil er keinen inneren Kampf ausfocht. Er selbst war so ruhig, als hätte er längst Abschied genommen. Keine Krämpfe, kein Zucken, kein Stöhnen. Sie schaute ihn an und hoffte, dass er den Moment nutzen würde, dass seine Seele, sein Herz, was auch immer ihn am Leben hielt, ein Einsehen haben würde. Es tat ihr leid, dass sie seine Hand nicht halten oder ihre Hand auf sein Gesicht legen konnte. Es war ihr einfach nicht möglich an jenem Tag. Aber sie war da, an seiner Seite. Dann musste sie daran denken, wie er es in der Situation gemacht hatte. Als die Frau vor ihm lag und er merkte, dass sie noch lebte. Hatte er damals gedacht, er täte ihr einen Gefallen? Oder ihm? Sie betrachtete seinen Hals, der im Verhältnis zu seinem Körper schmal wirkte. Sein Kehlkopf stach kaum hervor. Sie hätte ihm vielleicht die Nase und den Mund zuhalten können, das wäre das Leichteste gewesen, ein kurzes Aufbäumen seines Körpers, ein letzter Seufzer. Aber selbst wenn er noch Worte gefunden hätte und mit allerletzter Kraft diesen Wunsch formuliert hätte, sie hätte es nicht fertiggebracht. Und auch der Pfarrer nicht, da war sie sich sicher. Stattdessen saßen sie da und taten nichts. Vielleicht war es feige, einfach zu warten. Etwas anderes aber war ihr nicht möglich.
»Atmet er noch?«, fragte der Pfarrer.
Und sie sagte: »Ich glaube schon.« Und dann hörte sie, wie die Tür aufflog, sie sah, wie die Schmetterlinge aufschreckten und im Raum hin und her flatterten. Sie wurde beiseitegeschoben, sie sah, wie sich zwei Notärzte über ihn beugten. Ihn ansprachen. Sie setzten ihm eine Sauerstoffmaske auf. Dann hoben sie ihn auf eine Trage. Am liebsten hätte sie gesagt, sie sollten aufhören, sofort aufhören. Ihn nicht gegen seinen Willen am Leben halten. Vielleicht auch nicht gegen ihren Willen. Sie hätte versuchen können, sie an ihrer Arbeit zu hindern. Aber das waren nur Möglichkeiten in Gedanken. Sie stand zwei Schritte hinter ihnen und beobachtete, wie sie ihn stabilisierten. Dann packten sie die Trage, hoben ihn an und verschwanden aus dem Schmetterlingshaus. Sie sah sein Gesicht, er war zu sich gekommen, in seinem Blick war wieder Leben. Sie wusste nicht, ob er sie erkannt hatte. Sie brachten ihn in ein Krankenhaus und nach zwei Wochen zurück ins Gefängnis.
Es ist nicht so, dass es im Aquarium keine schönen Fische gäbe, sie sieht wunderbare Fische durchs Wasser schweben, mit ein, zwei leichten Flossenschlägen an der Scheibe vorbei: leuchtend gelbe, getigerte Fische, die blinken als hätten sie eine Metalliclegierung, schmale, elegante, aber dieser eine, der sich an der Scheibe festgesaugt hat und sie mit offenem Maul anstarrt, ist der hässlichste von allen. Seine Unterlippe steht hervor, sein Ausdruck ist dümmlich entsetzt, als empörte er sich über etwas. Er hat hervorstehende Augen, die aussehen wie nachträglich aufgesetzt. Es ist nicht schwer, ihn zwischen all den Fotos von Fischen auf dem Schild zu identifizieren. Pfauenaugenbuntbarsch. Lebensraum: Amazonien. Offenbar gehört er hier nicht her. »Der bis zu 50 cm lange und bis zu 1,5 kg schwere Barsch ist in seiner Heimat ein geschätzter Speisefisch. Er ernährt sich von Insekten, Würmern, Krebsen und kleinen Fischen. P. betreiben Brutpflege: Beide Eltern bewachen das Gelege 3 – 4 Tage bis zum Schlupf der Brut. Auch die Jungfische genießen noch eine gewisse Zeit lang den Schutz der Eltern.« Dass Fische den Schutz der Eltern genießen, scheint nicht üblich zu sein, wenn es besondere Erwähnung findet.
P. wurde geboren am 6. 7. 37 als 1. Kind des Schmieds. 1939 wurde der Vater zum Heer einberufen. Als er 1949 aus russischer Gefangenschaft heimkehrte, lebte die Mutter mit einem anderen Mann. Die Mutter war jähzornig und verprügelte ihre Kinder regelmäßig. Sohn und Tochter sind einige Male weggelaufen. Die einzige Erinnerung, die der Sohn bis dahin an seinen Vater hatte, rührte von einem Heimatbesuch. Er schlug ihn stundenlang mit einer Neunschwänzigen Katze. Der Vater wurde von seiner Frau als brutaler Mensch geschildert. Er habe sie, wenn er betrunken war, mit brutaler Gewalt geschlechtlich gebraucht. In solchen Exzessen seien die Kinder Friedrich und H. gezeugt worden. Er habe ihre Hände mit roher Gewalt auf dem Rücken zusammengehalten, um sie zur Hingabe zu nötigen. Außerdem habe er sie am Halse gewürgt und geschlagen – auch in der Öffentlichkeit.
Die Zeitungen titelten: »P. sah gern Liebesfilme«, »Er mordete, weil er die Frauen liebte«, »Ich wünschte mir Kinder«. »Seine Hemmungen und seine Scheu Frauen gegenüber seien schließlich in Aggressivität und Sadismus umgeschlagen.« Sagte der Gutachter. Und eine Zeitung schrieb: »Entweder reagiert der Triebtäter wie ein Hund, der ein läufiges Weibchen wittert und ihm dann triebhaft, ohne Gegenregung nachläuft. Dabei kann er gleichwohl einem Auto beim Überqueren der Straße ausweichen und etwa durch abwehrende Schläge mit einem Spazierstock von der sofortigen Ausführung seines triebbedingten Vorhabens abgehalten werden. Auch Sexualmörder weichen Verfolgern oder gefährlichen Situationen aus. Trotzdem sind sie – wie der Hund – durch den jeweiligen inneren Spannungszustand auf ihr triebhaftes Tun fixiert. Die andere Möglichkeit: Sie wollen sich nur nicht beherrschen, weil ihnen die Befriedigung ihrer Wollust über alles geht. Sie sind schuldig und damit voll für ihr verbrecherisches Tun verantwortlich. Der Trieb zwingt sie keineswegs unausweichlich, sondern sie geben einfach den jeweiligen lustvollen Impulsen nach, freiwillig und wohlüberlegt. Das tat nach Meinung der Gutachter auch Friedrich P.«
Sie sitzt noch eine Weile, bis es auch dem Pfauenaugenbuntbarsch zu viel wird, er seine Lippen von der Scheibe löst und aus ihrem Sichtfeld schwimmt. Sie verlässt das Haus, beim Hinausgehen sieht sie, dass es das Amazonienhaus ist. Sie geht ziellos durch den Zoo. Die meisten Menschen stehen vor dem Sumatra-Tiger und dem persischen Leoparden. Es sind immer die Raubtiere, um die herum sich die größte Menschenmasse bildet. Sie geht an ihnen vorbei und betritt ein Haus, das kaum besucht wird. Ein paar Steppenpferde stehen auf den kargen Betonböden, es riecht streng. Ein Wärter kippt ihnen Stroh vor die Füße. Sie hat es nicht gesucht, aber auf einmal steht es vor ihr, das Okapi. Ein einsames Tier in seinem Gehege. Aber ein lustig zu betrachtendes Tier, weil es die gestreiften Beine eines Zebras hat und das braune Fell eines Lamas. Vielleicht sieht es auch deshalb so verloren aus zwischen den anderen Tieren, weil es sich zu keinem dazugehörig fühlt. Aber es ist das einzige, das fotografiert wird. Ein junger Mann hat ein Stativ aufgebaut, seine Kamera aufgeschraubt und sucht gerade den richtigen Abstand. Er bückt sich und presst sein Auge an die Kamera. Er verharrt eine ganze Weile in dieser Haltung, ohne auf den Auslöser zu drücken. Das Okapi scheint ihn zu kennen. Es hält still und sieht ins Objektiv. Als wüsste es, wie man einen Fotografen glücklich macht. Sie schaut beiden eine Weile zu.
»Ein wunderbares Tier«, sagt der junge Mann, »finden Sie nicht? Wussten Sie, dass die Männchen und Weibchen die meiste Zeit des Jahres in getrennten Territorien leben? Nur zur Paarungszeit durchstreifen sie gemeinsam für ein paar Tage ihr Wohngebiet.« Er öffnet die Hand und zeigt auf das Tier. Als wollte er sagen, sehen Sie ihn sich an! Die meiste Zeit des Jahres nur unter Männern. »Das würde das Leben um vieles einfacher machen, finden Sie nicht?«, sagt er und lacht. Dann geht er zum Okapi, streichelt es zwischen den Ohren und sagt: »Du kannst von Glück sprechen, dass du die Frau nur so selten siehst, du bist frei und niemand sagt dir, was du zu tun hast.« Sie lässt die beiden allein zurück und geht zurück zum Auto. Sie überlegt, ob sie für diese Nacht ein Zimmer in der Stadt suchen soll oder ob sie einfach losfährt. Ihr stehen noch siebenhundert Kilometer bevor. Sie schaut auf die Uhr. Es ist fünf Uhr am Nachmittag. Sie beschließt, loszufahren.