Er war sechsundsechzig, als meine Mutter ihm das erste Mal schrieb. Mit seinem schütteren Haar und dem weißen Rauschebart sah er aus wie der Nikolaus. Sie hat mir ein Foto gezeigt, das sie als Lesezeichen benutzte. Meine Mutter erzählte, dass die Kinder auf ihn zugelaufen seien und er Süßigkeiten aus seiner Tasche geholt habe, Lakritze und weiße Mäuse, die er immer als Erstes kaufte, wenn er für ein paar Stunden herauskam aus dem Gefängnis. Zusammen sind sie mit dem Schiff den Neckar hinaufgefahren, sie haben in Maulbronn das Kloster besucht und die Wilhelma in Stuttgart. Sie sind auf den Fernsehturm, weil er gehört hatte, dass man hochfahren konnte, 150 Meter, und von oben nicht nur über die Stadt schauen konnte, sondern auch weit ins Umland hinein. Der Mann im Fahrstuhl hatte sie gewarnt, es sei kein guter Tag, aber sie sind trotzdem hoch. Als sie oben ankamen, standen sie im Nebel. Es hat ihr leidgetan, weil er sich so gefreut hatte. Dann aber sah er ein paar Kinder, die ihre Gesichter gegen die Fenster drückten und riefen: »Man sieht ja gar nichts!«

»Ho, ho!«, sagte er und stellte sich neben sie. »Ich sehe ganz viel.«

Die Kinder drängten sich um ihn herum. »Wo?« – »Was siehst du, Nikolaus?«

Als sie merkten, dass er selbst nichts sehen konnte, sagte ein Junge: »Du lügst.«

Aber das Mädchen, das neben ihm stand, sagte: »Es ist, wie wenn du die Augen zumachst. Dann kannst du alles sehen, was du möchtest. Nur musst du hier nicht mal die Augen zumachen.«

Und dann standen sie nebeneinander vor dem Fenster und zählten auf, was sie sahen.

»Er kann gut mit Kindern«, hatte meine Mutter gesagt. Sie hatte das Foto mit beiden Händen gehalten, so fest, dass aus den Kuppen ihrer Daumen das Blut gewichen war. Sie wäre gern mit ihm geflogen, nach Asien oder sonst wohin, sie wäre gern dabei gewesen, wenn er das erste Mal im Flugzeug sitzt, seine Stirn an das ovale Fenster drückt und die Welt betrachtet. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie das wäre, mit ihr zu fliegen. Ich sah die Berge, die weißen Gipfel, ich folgte den Straßen und war erstaunt, wie selten ich Ansammlungen von Häusern sah, obwohl dort unten, in diesem Land, so viele Menschen lebten. Aber was ich sah, war Land, weites, unbewohntes Land. Mal einen See. Mal einen Hain, wie eine verlorene Insel auf gefurchtem, parzelliertem Land. Ich sah manchmal Lichtreflexe, als hielte jemand einen Spiegel in die Sonne. Ich sah wie Städte an den Rändern zerfaserten, die Abstände zwischen den Häusern immer größer wurden. Ich sah das Meer, den Küstenverlauf, die Inseln. Es relativiert sich vieles, wenn man sieht, dass die Welt nur von begrenztem Umfang ist. Und wenn man keinen Menschen sieht, weil er einfach zu klein ist, um ihn aus dieser Höhe wahrzunehmen. Meine Mutter war sich sicher, dass alles hätte anders kommen können, sie glaubte, eine andere Perspektive hätte ausgereicht.

Ich stellte mir vor, wie sie ihre Hand auf seine legte, wie sich seine an der Armlehne festhielt, während das Flugzeug durch Wolken flog. Er hätte die Orientierung verloren, weil es nichts gab, woran er seinen Blick hätte heften, nichts, an dem er Anfang oder Ende hätte festmachen können. Es hieß, er habe große Hände gehabt, Hände, die zu groß waren für einen Menschen, von Pranken war die Rede. Sie hatte gesagt, so fühlten sich keine Pranken an, so weich und zart, trotz ihrer Größe, aber wer wüsste das schon, außer ihr? Sie war auch die Einzige, die versuchte, einen Unterschied zu machen zwischen seiner rechten und seiner linken Hand. Sie redete sich ein, dass seine rechte Hand nichts dafür konnte; dass es der andere Arm war, der sich um den Hals der Frauen gelegt und ihnen den Kehlkopf zerdrückt hatte. Er selbst hatte ausgesagt, dass es sein linker Arm war, der die heimtückische Halswürgezange anwandte. Die rechte Hand wollte sie nur am Schreien hindern.

So wie sie von ihm sprach, hatte ich den Eindruck, die Tatsache, dass er vier Frauen getötet hatte, erschiene ihr nebensächlich. Sie sagte, dass er, so wie sein Leben verlaufen sei, nicht anders gekonnt habe. »Es hat ihn überfordert, in Beziehung zu einer Frau zu treten«, sagte sie, »er stand doch selbst in keiner Beziehung zu sich.« Meine Mutter war sehr einfühlsam. Wie hätte er auch in Beziehung zu einer Frau treten sollen, sagte sie, nach allem, was er erlebt und erfahren hatte? Und dann war er auch noch an die falschen Frauen geraten. Die kein Interesse an ihm hatten, ihn nur ausnutzten, sich von ihm ins Kino einladen ließen und ihm dann sagten, dass sie sich mit einem wie ihm nicht abgeben würden. Er hatte gestanden, dass ihm die Mädchen alle davongelaufen seien und er zum Einzelgänger geworden sei. Aber dann war meine Mutter in sein Leben getreten. Anfangs hatte sie ihm Briefe geschrieben, dann hatte sie ihn besucht, und in den letzten Jahren durfte sie ihn bei seinen Ausführungen begleiten. Das hatte sie dem Pfarrer zu verdanken, dem einzigen Menschen außer ihr, der sich hingezogen fühlte zu dem Mann, in dem die anderen den Nachfolger von Haarmann und Denke sahen, den Massenmördern aus den zwanziger Jahren.

Zu jedem Mörder findet sich offenbar die passende Frau. Geschichten darüber gibt es viele. Dem »Heide-Mörder« hat sie zur Flucht verholfen, Clyde hatte seine Bonnie. Ted Bundy gestand dreiundzwanzig Morde, er schlief mit den Leichen, er zerbiss und zerstückelte sie und wurde dann von einer Verwaltungsangestellten im Gefängnis geheiratet. Eine Krankenschwester verliebte sich in einen vierfachen Kindermörder. Und meine Mutter in die »Bestie vom Schwarzwald«; so nannte man ihn.

Erfahren habe ich es von ihrer Freundin, die mich im vergangenen Spätsommer anrief, nachdem sie einige Tage mit meiner Mutter in Ligurien verbracht hatte. Die Freundin besaß dort ein altes Haus. Sie erzählte, dass sie bei einer Flasche Rotwein gesessen hätten, als meine Mutter fragte, ob ihr der Name Friedrich P. etwas sage. Die Freundin hatte von ihm gehört, wie die meisten in ihrem Alter schon mal von ihm gehört hatten.

Meine Mutter sagte, sie habe ihn vor einiger Zeit kennengelernt, und sie hätten ein paar Tage miteinander verbracht. Die Freundin fragte, wie lange das schon gehe, und meine Mutter sagte: »Einige Jahre.«

Die Freundin fragte, wer davon wisse, und meine Mutter sagte: »Niemand.«

»Es ist so schwer zu verstehen für mich«, sagte die Freundin zu mir, »jemand, der Frauen ermordet hat, wie kann man so einem nah sein wollen?«

Für einen Moment blieb es still in der Leitung. Dann sagte sie: »Ich habe sie gefragt, ob sie ihn liebt.«

Vielleicht wartete sie darauf, dass ich wissen wollte, was meine Mutter geantwortet hatte, weil sie zögerte, bevor sie sagte: »Ich glaube aber nicht, dass es sich um Liebe handelt. Sie hat sich da etwas in den Kopf gesetzt.«

Ich wusste, dass meine Mutter sich für einen Gefangenen einsetzte, einen, der Hilfe brauchte, weil er seine Strafe längst verbüßt hatte und den sie trotzdem nicht freiließen. Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt vorging. Sie hatte sich früher schon für die Rote Hilfe engagiert. Deshalb hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Sie hatte mir von einem Staatsanwalt erzählt, der von neun Toren gesprochen hatte, die sich öffnen würden und durch die er in die neunte Hölle Dantes käme. Und vom Justizminister, der angekündigt hatte, er werde für immer hinter Schloss und Riegel bleiben. Und weil die allgemeine Empörung ausblieb und er von dieser Gesellschaft keine Gerechtigkeit erwarten konnte, war es an meiner Mutter, ihm beizustehen. Dass es sich für sie wie Liebe anfühlte, erfuhr ich erst von der Freundin. Aber das sagte ich ihr nicht. Ich habe darüber nachgedacht, warum sie es mir erzählte, und dachte zuerst, sie wollte die Sache einfach loswerden und damit auch die Komplizenschaft, in die sie geraten war. Aber vielleicht wollte sie mir auch helfen, indem sie mir ihre Sicht auf die Liebe meiner Mutter mitteilte. Am Ende fragte sie, vielleicht auch, weil ich die ganze Zeit geschwiegen hatte, ob alles in Ordnung sei. Ich sagte: »Ja.«

Natürlich fing ich an zu recherchieren. Es war nicht schwierig, er hatte sogar einen eigenen, sehr umfangreichen Eintrag bei Wikipedia.

Mit einer dichten Serie von Morden und Mordversuchen versetzte er 1959 insbesondere die Gegend des Schwarzwalds in Angst und Schrecken. Seinem späteren Geständnis zufolge war der Besuch einer Filmvorführung des Streifens »Die zehn Gebote« von Cecil B. DeMille in einem Kino in Karlsruhe im Februar 1959 der Auslöser für seine Mordserie, der insgesamt vier Frauen zum Opfer fielen. Nach der Darstellung des Tanzes um das Goldene Kalb durch leicht bekleidete Frauen sei er zu der Erkenntnis gekommen, dass Frauen die Ursache allen Übels seien und er die Mission habe, sie zu bestrafen. Noch am selben Abend beging er in einem Park in der Nähe des Kinos den ersten Mord. Die Leiche seines Opfers, der vergewaltigten und durch Aufschlitzen der Kehle ermordeten 49-jährigen Hilde K., wurde am 26. Februar 1959 bei der Autobahnanschlussstelle Karlsruhe-Durlach gefunden. Im März 1959 missbrauchte er in einer Holzhütte am Rande von Hornberg die 18-jährige Karin W., erschlug die junge Frau mit einem Stein und warf ihre Leiche über die Flussböschung am nahegelegenen Bahndamm. Am 31. Mai 1959 ermordete er in einem Zug die 21-jährige Dagmar Kl. durch einen Messerstich in die Brust, warf ihre Leiche auf der Rheintalbahn Richtung Basel kurz hinter Freiburg im Breisgau aus dem fahrenden Zug und betätigte anschließend die Notbremse. Er stieg aus, ging zur Leiche seines Opfers zurück und schleifte sie zu einem nahegelegenen Feldweg, wo er sich an der Toten verging. Am 8. Juni drang P. über ein offenes Fenster nachts in das Zimmer einer 15-Jährigen ein und verletzte sie schwer durch Messerstiche in den Hals, wurde jedoch durch ihren zu Hilfe eilenden Vater in die Flucht geschlagen. Am 9. Juni 1959 vergewaltigte er in der Nähe von Baden-Baden die 16-jährige Rita W., erwürgte sie und deponierte ihre Leiche in einem Waldstück, wo sie am folgenden Tag gefunden wurde. Am 22. Oktober 1960 wurde er zu sechsmal lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt; es war der bis dahin strengste Schuldspruch eines bundesdeutschen Gerichts der Nachkriegszeit.

Vielleicht wird sich der ein oder andere fragen, wie es für mich war, als ich erfuhr, dass meine Mutter diesen Mann offensichtlich liebte. Weil es doch nicht zu verstehen ist. Ein Mensch, der die Nähe eines Mörders sucht, sich in seine Arme sehnt, mit dem kann etwas nicht stimmen. Und dann handelt es sich bei diesem Menschen auch noch um die eigene Mutter. Noch dazu eine Mutter, die bis dahin jegliche Nähe gemieden hat. Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Ich war eifersüchtig.

Meine Mutter sagte, die einzige Liebe, die er erfahren habe, sei die zu seiner Schwester und seinen Großeltern gewesen, »und seine Schwester kam ins Erziehungsheim, nachdem sie dabei erwischt wurden, wie sie sich küssten, weil sie – wie die Großmutter sagte – sich nicht wie Geschwister küssten, sondern wie Liebende«. Meine Mutter sagte, sogar im Gutachten hätten sie ihm attestiert, dass er ein Verlangen gehabt habe nach gefühlshaften Beziehungen und Bindungen. Ich hörte zu, wie sie über ihn als jungen Mann sprach, über seine Bedürfnisse und Sehnsüchte, obwohl sie ihn erst Jahrzehnte später kennengelernt hatte, als sie selbst schon achtundfünfzig war. Ich sagte nichts. Es war das erste Mal, dass ich sie so reden hörte, mit so viel Empathie. So seltsam es vielleicht klingen mag, es brachte mir meine Mutter näher. Ich glaube, sie war froh, jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Und ich war froh, ihr so nahe zu sein wie in all den Jahren zuvor nicht. Sie rief mich sogar regelmäßig an, um mir zu berichten, wenn sie eine Ausführung vor Gericht erstritten hatten oder wenn er mal wieder von den Vollzugsbeamten malträtiert wurde. Ich würde sagen: Ich war eifersüchtig und dankbar, auch wenn es im ersten Moment nicht so klingt, als wäre beides möglich.