Es ist fünf oder sechs Jahre her, als mein Vater den Notarzt rief. Ich hatte mir Sorgen gemacht. Ich hatte meine Mutter angerufen, sie hatte abgenommen, aber nichts gesagt, ich hörte nur schweres Atmen, dann legte sie auf, und als ich noch mal anrief, ging sie nicht mehr ans Telefon. Eine ganze Stunde lang konnte ich sie nicht erreichen und war dann zu ihrer Wohnung gefahren. Aber auch nach mehrmaligem Klingeln hatte sie nicht geöffnet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und rief meinen Vater an, weil ich wusste, dass er sich – trotz allem, was war – immer noch um sie sorgte. Er sagte, er riefe den Notarzt. Legte auf, und kurz darauf klingelte mein Handy wieder. Ihm war eingefallen, dass er nicht mal wusste, wo meine Mutter lebte. Er fragte nach der Adresse, und zwanzig Minuten später hörte ich die Sirene. Dann sah ich den Notarztwagen. Er hielt vor dem Haus, zwei Ärzte stiegen aus, hatten ihre Notfallkoffer dabei, die Feuerwehr kam dazu. »Haben Sie uns gerufen?«, fragte mich einer der Männer. Und ich sagte, dass es mein Vater gewesen sei. »Dann sind Sie der Sohn?«, fragte er. Ich nickte. Nachdem meine Mutter nicht öffnete, klingelten sie bei einer Nachbarin, und dann lief ich voraus in den dritten Stock und zeigte auf die Wohnungstür meiner Mutter. Sie klingelten noch mal, klopften und riefen. Aber als sie immer noch nicht öffnete, verschafften sich die Feuerwehrmänner gewaltsam Zugang. Die Ärzte gingen voran, und ich sah, wie sie sich im Wohnzimmer umsahen, weitergingen, einen Blick in die Küche warfen und dann die Schlafzimmertür öffneten, die geschlossen war, und im Türrahmen stehen blieben. Ich stand zu dem Zeitpunkt immer noch im Flur. Warum standen sie im Türrahmen? Was hielt sie davon ab, ins Zimmer zu gehen?
Ich hörte, wie sie mit jemandem sprachen. Und dann hörte ich die Stimme meiner Mutter. »Hausfriedensbruch«, hörte ich sie rufen. Sie standen noch eine Weile im Türrahmen und versuchten offenbar herauszufinden, ob es meiner Mutter gutging. »Wer hat Sie überhaupt gerufen?« Wahrscheinlich sagten sie ihr, dass ihre Familie sich Sorgen gemacht hatte, weil sie nicht ans Telefon gegangen und die Tür nicht geöffnet habe.
Dann drehten sie sich um und zwängten sich an mir vorbei aus der Wohnung. Ich sah, wie einer von ihnen den Kopf schüttelte und sagte: »Wir gehen dann mal besser.« Sie schlossen die Tür hinter sich, und dann war es still in der Wohnung. Meine Mutter konnte nicht wissen, dass ich da war. Komischerweise hatte ich auf einmal das Gefühl, dass es falsch gewesen war, meinen Vater anzurufen, obwohl ich wusste, dass ich mir Sorgen gemacht hatte. Ich überlegte, ob ich möglichst leise die Wohnung verlassen sollte. Aber andererseits: Ich wusste immer noch nicht, was mit ihr war. Ich ging zu ihrem Schlafzimmer. Als ich hineinschaute, lag sie in ihrem Bett und starrte an die Decke. Wie abwesend. So hatte ich meine Mutter bis dahin noch nicht gesehen. Sie wirkte, als wäre ihr alle Kraft aus dem Körper entwichen. Ich sah ihre Arme, die so bleich waren, dass ihre blauen Äderchen durchschimmerten. Ihre Kleider lagen auf dem Boden vor dem Bett.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte ich.
Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Blick auf mich richtete. Dann schüttelte sie den Kopf, und ich weiß bis heute nicht, ob aus Unverständnis darüber, dass wir ihr den Notarzt aufgehalst hatten, oder ob es ihre Antwort auf meine Frage war. Kurz darauf schien sie wieder zu Kräften zu kommen, setzte sich auf und fragte: »Hast du deinen Vater angerufen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte ich.
»Ich brauche niemanden, der sich in mein Leben mischt. Aber wenn du schon da bist, kannst du mir ein Glas Wasser holen.«
Ich ging in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser und stellte es auf ihren Nachttisch. Die Schublade stand einen Spalt offen und ich sah die Packung Vivinox. Sie lag da, ungeöffnet, wie mir schien. Ich ließ mir nichts anmerken und verließ wortlos die Wohnung.
In der Schublade ihres Nachttisches finde ich ein Moleskine-Heft. Es fällt mir nicht leicht, es herauszunehmen. Welches Recht habe ich, es aufzuschlagen? Ich setze mich auf ihr Bett, nehme es in die Hand und streiche über den Deckel. Dann schlage ich es auf und sehe unlinierte Seiten, ihre Handschrift, nach Tagen geordnet. Beim Durchblättern sehe ich, dass auf einigen Seiten nur einzelne Sätze stehen, andere von oben bis unten vollgeschrieben sind. Offenbar hat sie in den letzten Jahren alles aufgeschrieben. Ich schlage das Buch wieder zu, halte es fest und weiß nicht, ob ich es tun soll. Andererseits: Habe ich nicht das Recht, zu erfahren?