Sie weiß noch, wie er auf der Klosterwiese lag. Es war Sommer, damals. Und dieser Garten, umschlossen von den Klostermauern, war wie die Entdeckung einer neuen, kleinen Welt. Der Rasen, an seinen Rändern überwuchert von einer Blüten- und Pflanzenvielfalt, Orchideen, Hibiskus, eine Trauerweide, deren Zweige einen Teil der Mauer überdeckten. Sie hätte Stunden damit verbringen können, in ihrem Führer zu blättern, um die Arten all der Blüten und Blätter zu benennen. Aber ihn schien das nicht zu interessieren. Er lag auf dem Rasen und hatte die Augen geschlossen. Sie stand im Parlatorium, das an den Garten grenzte, und beobachtete ihn. Der wolkenlose Himmel bot keinen Schutz gegen die Mittagssonne, deren gleißendes Licht von den hellen Mauern des Klosters reflektiert wurde. Ihr war es zu heiß, sie war froh über den Schatten und die Kühle im Parlatorium. Sie wollte ihm sagen, dass die Sonne ihm nicht guttue, hatte sich seine Haut doch über all die Jahre an die Dunkelhaft gewöhnt.

Als er nach drei Wochen am Stück aus dem Keller kam und dem grellen Licht ausgesetzt war, riss er die Hände hoch, um seine Augen zu schützen.

Seine Arme lagen ausgestreckt neben seinem Körper. Seine Welt musste in Rosa getaucht sein, nur die dünne Haut seiner Lider bewahrte ihn vor dem Sonnenfeuer, er musste die Brände auf der Haut spüren und den Schweiß, der aus seinen Poren trat, aber er blinzelte nicht einmal. Sie musste sich zusammennehmen. Er würde in der Nacht nicht schlafen können vor Schmerzen. Aber wie hätte sie ihm, nach all den Jahren in Finsternis, die Sonne nehmen können?

Am Morgen, als sie aufwacht, ist es dunkel. Aber dann fällt ihr ein, dass sie die schweren Vorhänge zugezogen hat. Sie steht auf und tastet sich am Bett vorbei zum Fenster. Sie schiebt den Stoff auseinander und sieht, dass es schon hell ist draußen. Über Maulbronn hängt der Nebel. Tiefe, graue Wolken, als wollten sie das Kloster erdrücken. Sie hat auf einen schönen, klaren Tag gehofft, als sie gestern nach der Stunde am See hergefahren war.

Nach dem Frühstück kauft sie sich eine Eintrittskarte und bittet um einen Audio-Führer. Sie weiß gar nicht, wie er auf das Kloster kam. Sie hat ihn nie gefragt. Ihr war egal, wo sie hinfuhren. Hauptsache, sie konnten zusammen Zeit verbringen, selbst wenn es im Kloster war.

Sie folgt der Stimme über den Hof zum Paradies. Sie wusste nicht, dass es einen Paradiesmeister gibt. Sie wusste aber auch nicht, dass es das Paradies auf Erden gibt. Sie wäre durch die Vorhalle zur Klosterkirche gegangen, ohne sich Gedanken zu machen. So wie damals mit ihm. »Sie sehen biblische Paradiesvorstellungen, Bilder, die dem Besucher die eigene Verführbarkeit und Allgegenwart der Versuchung zeigen.« Sie weiß nicht, was sich Friedrich unter dem Paradies vorgestellt hat, vielleicht einen Garten, ein Fleckchen Rasen, Erde, Bienen. Ein Ort der Sehnsucht. »Aber das Paradies ist die Verführbarkeit auf Erden«, sagt die Stimme des Audio-Führers. Auf diesen Gedanken ist sie zuvor nie gekommen. Es ist kein Ort, es geht um Taten, vielleicht auch um Gedanken. Das Paradies ist, was den Menschen vom Weg abbringt oder es zumindest versucht. Das Paradies ist die Versuchung, die Gefahr, sich selbst untreu zu werden. Zumindest versteht sie es so. Dann wäre das ganze Leben ein Gang durch das Paradies. Und Friedrich gehörte als Versuchung genauso dazu wie ihr Sohn, und sie fragt sich, ob sie beiden widerstanden hat oder nicht. Und wo es sie hingeführt hätte, wäre es anders gelaufen. Die Stimme sagt: »In der Kirche kann der Mensch dann vor Gott seine Fehler ansprechen und um Vergebung bitten. Das Paradies ist nur der Vorhof. Aber jeder muss hindurch, um zu Gott zu gelangen.«

Damals hatten sie die Tür zur Kirche geöffnet und sind eingetreten. Vor dem Chorgestühl ist er stehen geblieben, und es war das erste Mal, dass sie ihn singen hörte. Zu Beginn war es ein Summen, aber dann schwoll seine Stimme an und erfüllte bald schon die Kirche. Sie waren nicht allein, neben dem Pfarrer und Fritzmann waren noch andere Besucher in der Kirche, was ihn nicht zu stören schien. Die Worte stiegen empor und schwebten durch den Raum, als hätten sie sich losgelöst von seinem Körper, oder sollte sie sagen, von seiner Seele? Sonst wirkte es immer, als spie er seine Worte aus, wie Felsbrocken, so schwer und kantig und unverdaulich. Die Brocken fielen zu Boden, nichts, was er sagte, fing an zu schweben. Auch nicht in ihrer Gegenwart.

»Acht Chordienste am Tag, der erste um ein Uhr nachts, so sah der Tagesablauf im Kloster aus. Die Mönche trugen Kerzen, weil es dunkel war. Wenn Sie sich das Chorgestühl genau ansehen, entdecken Sie kleine Leisten, es waren kleine Notsitze, auf denen sich die Mönche während des Singens ausruhen konnten. Man nennt sie Misericordien. Die Barmherzigen.«

Sie setzt den Kopfhörer ab. Manchmal wünschte sie sich solche kleinen Leisten, auf denen man sich während des Lebens ausruhen konnte. In letzter Zeit, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie in ein müdes Gesicht. Es war nicht die Müdigkeit, die sich nach einem tiefen und guten Schlaf sehnte, es war eine innere Müdigkeit, die sich weniger im Gesicht als vielmehr in den Augen zeigte. Aber vielleicht war es einfach das Alter.