Mein Vater hatte zusammen mit anderen in der Cafeteria des Pfarrhauses das studentische Büro für politische Parolen eingerichtet. Nicht dass ich mich für diese Zeit sonderlich interessiert hätte, mir war egal, was sie damals alles auf die Beine stellten, und dass mein Vater Parolen erfand, an deren Wortlaut er sich bis heute noch erinnerte. Wer hat dich, du grüner Wald, hingestellt und schlecht bezahlt. Es ärgert mich sogar, dass ich es mir, gegen meinen Willen, gemerkt habe. Aber in diesem Zusammenhang ist er meiner Mutter zum ersten Mal begegnet. Eines Tages war sie dabei, eine Studentin der Germanistik, die, so sagt mein Vater, ausgesehen habe wie Jean Seberg. Ich wusste nicht, wer Jean Seberg war, und fand erst später ein Foto und legte es neben ein altes Foto meiner Mutter, auf dem sie eine zu große Sonnenbrille trug und kurze Haare. Zu dem Zeitpunkt war sie schwanger, was sie offenbar aber noch nicht wusste, weil sie so unbeschwert wirkt. Ihren Kopf zur Seite gelegt, die rechte Hand erhoben, offenbar winkend, die Lippen leicht geöffnet, verführerisch. Ich muss sagen: Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Ich konnte verstehen, warum ihr die Männer nachliefen. Ich habe mir das Foto später aus der Schublade genommen, in der mein Vater es aufgehoben hatte. Ich habe nie erfahren, ob er es vermisst hat. Es gibt auch ein Foto von mir an meinem dritten Geburtstag, mit Kuchen, drei Kerzen und Mutter und Vater im Hintergrund. Auch das habe ich mir genommen. Ich habe noch nach anderen Bildern gesucht. Nach einem Album, in dem sie eingeklebt und beschriftet waren, oder zumindest nach einer Kiste oder einem kleinen Karton. Ich habe, als mein Vater nicht zu Hause war, die Wohnung durchsucht. Ich habe in die Schränke geschaut, in die Schubladen seines Schreibtisches, ich habe sogar die Bücher, von denen es bei uns sehr viele gab, aufgeschlagen und zwischen den Seiten nach Fotos gesucht. Aber ich habe keine weiteren gefunden. Weder Kinderfotos meiner Eltern noch Fotos meiner Großeltern, weder Fotos, auf denen meine Eltern als Paar zu sehen waren, noch Fotos von unserem Urlaub. Zu dritt sind wir an die Nordsee gefahren, weil mein Vater sagte, das Kind müsse mal das Meer sehen und im Sand buddeln. Das war im August 1977. Ich war sieben. Ich erinnere mich, dass mein Vater das Auto gepackt hatte, er wollte früh los, weil es ein weiter Weg war, aber meine Mutter schlief noch. Ich weiß noch, dass ich schon Schuhe und Jacke anhatte und vor ihrem Bett stand. Ich sagte nichts, stand nur da, sah sie an und wartete, dass sie aufwachte. Sie musste es gespürt haben, sie schlug die Augen auf, kurz, und drehte mir dann den Rücken zu.
»Ist sie wach?«, hörte ich meinen Vater rufen. Er kam in ihr Zimmer. Er sah mich an, dann meine Mutter und sagte, ich solle mich schon mal ins Auto setzen.
Auf dem Weg nach draußen hörte ich, wie sie stritten. »Das kannst du nicht machen, der Junge freut sich schon seit Tagen.« Ich weiß nicht, was meine Mutter sagte, aber es war das einzige Mal, dass ich erlebt habe, wie mein Vater meiner Mutter gegenüber laut wurde. Ich setzte mich ins Auto, dann sah ich meinen Vater aus dem Haus kommen und wenig später auch meine Mutter. Sie trug ihre zu große Sonnenbrille, setzte sich auf den Beifahrersitz und sprach während der ganzen Fahrt kein Wort.
Mein Vater hatte ein Zimmer in einem Gästehaus für uns gebucht. Es lag etwas abseits des Strandes und hatte nur ein großes Zimmer. Meine Eltern mussten in einem Bett schlafen und ich daneben auf einer Liege, was mir aber offensichtlich weniger ausmachte als meiner Mutter. Sie könne so nicht schlafen, sagte sie und schickte meinen Vater zur Rezeption, um nach einem anderen Zimmer zu fragen. Aber es war Sommer und wir hatten froh sein können, so kurzfristig überhaupt noch ein Zimmer bekommen zu haben.
Ich erinnere mich, dass meine Mutter am Strand meist auf der Liege lag und sich ein Buch vors Gesicht hielt, während mein Vater anfangs noch mit mir Sandburgen baute und mir das Schwimmen beizubringen versuchte. Am dritten Tag schickte er mich los und sagte, ich solle mal mit anderen Kindern spielen. Und ich trottete los mit meinem Eimer und der Plastikschaufel, grub Löcher in den Sand und ließ sie von den Ausläufern der Wellen fluten. Es machte mir nichts aus, mich allein zu beschäftigen. Bald schon machte ich lange Spaziergänge am Strand. Obwohl ich stundenlang fortblieb, blickte mein Vater nur kurz hinter seinem Buch hervor, als ich mich neben seine Liege in den Sand setzte. »Gefällt’s dir am Meer?«, fragte er.
Ich denke darüber nach, ob es nicht doch irgendwo ein Foto gibt von uns am Strand, und versuche mich zu erinnern, ob mein Vater seinen Fotoapparat dabeihatte. Aber ich weiß es nicht mehr. Ich frage mich, ob meine Mutter noch Erinnerungen hat an unseren Urlaub. Ihr Tagebuch oder wie man dieses marmorierte Buch nennen soll, fängt erst später an, viel später. Aber zumindest ich habe Erinnerungen. Von meiner Mutter, wie sie in der Sonne liegt und wenn es ihr zu heiß wird, ins Meer steigt und weit hinausschwimmt, weiter als die anderen, so weit, dass ich sie fast aus dem Blick verliere. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Mutter eine so gute Schwimmerin war. Aber es wunderte mich nicht, weil meine Mutter, wie mir schien, alles konnte und darin so anders war als ich oder mein Vater. Am dritten Tag ging sie zur Rezeption, weil sie neben mir und meinem Vater nicht schlafen konnte. Fünf Minuten später kam sie aufs Zimmer zurück und sagte, wir könnten umziehen. Die nächsten zwei Nächte schliefen wir dann in einer Gästewohnung mit zwei Zimmern, einem Balkon und Blick aufs Meer. Mein Vater fragte nicht, wie sie das geschafft hatte. Und meine Mutter sprach auch nicht darüber. Ich weiß noch, wie er einmal zu mir sagte: »Wir können ihr beide nicht das Wasser reichen.«
Unsere Woche an der Nordsee wurde von einer Todesnachricht überschattet. Mein Vater hatte sich am Kiosk eine Zeitung gekauft und sie auf dem Weg zum Strand überflogen. Nach fünf Tagen brachen wir unseren Urlaub ab und fuhren zurück nach Tübingen. Mein Vater wollte auf keinen Fall die Beerdigung verpassen. Wie ich später erfuhr, war Ernst Bloch, den er damals sehr verehrte, im Alter von zweiundneunzig Jahren gestorben. Einen Tag nach der Beerdigung sagte mein Vater, dass meine Mutter weggefahren sei und auch so bald nicht zurückkomme. »Sie hatte es versucht mit der Familie«, sagte er Jahre später, »aber sie brauchte ihre Freiheit. Ich weiß, dass es nicht leicht ist für ein Kind, ohne Mutter aufzuwachsen. Aber du darfst sie dafür nicht verurteilen. Sie hat dich nicht vergessen.« Gelegentlich bekamen wir Briefe von ihr, und meistens dachte sie auch an meinen Geburtstag und schickte mir Bücher. Zum achten schickte sie mir die Die Apotse kommen. Es war die Geschichte von kleinen Stofftierchen, die Augen hatten wie Knöpfe, Zumpelfransen, riesenrote Nasen und sehr breite Münder. Sie wurden von der Polizei in einem vergitterten Wagen ins Gefängnis gebracht. Ich erinnere mich bis heute an die Stelle im Text: »Daran kannst du sehen«, stand da, »dass man nicht unbedingt was Schlimmes angestellt haben muss, um es mit der Polizei zu tun zu kriegen.« Die Apotse kommen unschuldig ins Gefängnis. Und über Strafen, stand da weiter, könne man auch eine Menge sagen, das sollte ich mit meinen Freunden besprechen, ob einer ausgerechnet durch Strafen wirklich besser werde. Als ich fünfzehn war, sollte ich sie in Berlin besuchen, was zum Streit führte mit meinem Vater, aber dann verbrachte ich im Sommer doch eine Woche bei meiner Mutter. Und als ich mit der Schule fertig war, zog ich nach Berlin und schrieb mich an der Freien Universität ein. Ich sah meine Mutter jetzt öfter. Zu meinem Vater hatte sie kaum noch Kontakt. Er lebte als Anwalt in Frankfurt und versuchte sich in den Jahren an verschiedenen Frauen, ohne dabei wirklich glücklich zu werden, wie mir schien. Wir telefonieren und ich besuche ihn jedes Jahr. Auch mein Vater spricht dann viel über die Zeit. Als hätte ich es nicht schon hundertmal gehört, Burn Kaufhaus Burn, erzählt er immer wieder von brennenden Kaufhäusern und dem Republikanischen Club in Tübingen, wo offenbar, das hatte ich mir gemerkt, ein Holzklotz stand, in dem das Messer einer Guillotine steckte. Dass er so viel davon spricht, da bin ich mir sicher, hat vor allem mit meiner Mutter zu tun. Es war die Zeit, in der sie ihn brauchte, in der sie etwas hatten, was sie aneinanderband. Blöderweise kam ich dann. Und einer musste sich um mich kümmern. Er fragt mich jedes Mal nach meiner Mutter. Ich glaube, er hat sie wirklich geliebt. Irgendwann rief sie ihn an, weil er ihr helfen sollte, für einen Gefangenen eine Ausführung zu erklagen. Wahrscheinlich war er sogar froh, dass sie seine Hilfe brauchte. Nach all den Jahren.