Als sie mittags in Heidelberg ankommt, ist der Himmel über dem Neckar in ein vergrautes Blau getaucht. Ein kühler, klarer Herbsttag. Es ist nicht das Boot, mit dem sie damals gefahren waren, das wäre auch zu viel verlangt. Sie weiß nicht mehr, wie ihres hieß, aber nicht Georg Fischer. Man konnte damals auf dem Dach sitzen, dort standen Reihen von Bierbänken, auf denen viele ältere Frauen mit großen Sonnenhüten saßen. Auf der Georg Fischer stehen nur wenige Stühle und Tische auf dem hinteren Deck. Es sind nicht viele Passagiere an Bord, die meisten von ihnen sitzen in der Kajüte, draußen nur ein älterer Mann und zwei Frauen in seinem Alter. Sie haben sich die Kragen unters Kinn gezogen, die eine hat einen Schal mehrfach um den Hals gebunden, die andere hält sich die Enden ihres Kragens mit der linken Hand zu. Sie sitzen auf der Seite, die im Sonnenlicht liegt. Sie hat sich einen Platz an der Kajütenwand gesucht, der ihr windgeschützt erschien, dafür aber schattig ist. Mit dem Ausstoß einer Dieselwolke schiebt sich das Boot vom Ufer. Die Reling vibriert, der Lärm des Motors übertönt die Durchsage, sie versteht nur vereinzelte Worte. »Willkommen«. »Zur Linken«. »Roter Sandstein«. Sie blickt nicht zur Seite, weder nach rechts noch links, sieht die Gebäude am Ufer erst, wenn diese achtern in ihr Blickfeld geraten. Sie betrachtet den Fluss, wie er in all seiner Ruhe daliegt und nicht zu fließen scheint. Sie entfernen sich von der einen Brücke und unterqueren bald schon die nächste. Sie versucht, etwas Treibendes zu entdecken. Laub, eine Tüte, ein Stück Holz, irgendetwas. Dann rückt auf einmal eine Hand in ihr Blickfeld, sie klammert sich an die Reling. Der alte Mann hat seinen Arm auf das Geländer gelegt. Erst jetzt sieht sie, wie groß seine Hand ist. Überproportional. Er muss sie unter dem Tisch gehabt haben, vielleicht hatte sie auf seinem Oberschenkel gelegen, sie wäre ihr aufgefallen, hätte sie vorher schon auf dem Tisch gelegen. Sie spürt ein leichtes Schaukeln, vielleicht werden sie gerade von den Bugwellen eines anderen Bootes erfasst, sie sieht aber kein Boot, sie sieht nur diese Hand, die viel zu groß ist für die Reling dieses Boots.
Sie ist froh, als der Mann die Hand von der Reling nimmt. Das monotone Knattern des Diesels verändert sich, das Boot verlangsamt seine Fahrt. Das muss wegen der Schleuse sein, sie kann sich noch erinnern, wie sie damals einfuhren und er nicht wusste, was als Nächstes geschehen würde. Er hatte sich über die Reling gebeugt und sah besorgt zu, so schien es ihr zumindest, wie sich die Schleusenwand hinter ihnen schloss. Vielleicht machte ihn diese plötzliche Enge nervös. Das Boot schwamm am Grund dieses Schachtes, die Wände ragten über das Boot hinaus. Sie sagte ihm, es sei eine Schleuse. Sie erklärte ihm, dass Schleusen nötig seien, um den Neckar schiffbar zu machen, weil das Gefälle und damit die Strömung sonst zu stark seien. Dann lief das Wasser in den Schacht, und der Pegel stieg sanft und stetig. Das Boot wurde vom Wasser gehoben, so still und schwerelos. Eine unsichtbare Kraft, die keine Mühe hat, große Schiffe in die Höhe zu befördern. Das Wasser, das keinerlei Aufhebens macht um die eigene Kraft. Der Wasserspiegel kletterte an der Wand empor, und das Boot näherte sich gleichmäßig der Welt über dem Schacht. Die Giebel der Häuser kamen ins Sichtfeld, die Kuppen der Hügel und dann die Straßen, die Radfahrer, Menschen, die an einer Bushaltestelle warteten, es war wie ein Auftauchen aus der Unterwelt. Er setzte sich erst wieder, als das vordere Schleusentor sich öffnete, der Diesel wieder in Gang kam und das Boot langsam aus der Schleuse hinaus auf den Fluss fuhr. Das Erlebnis schien seine Stimmung belebt zu haben. Er schaute von da an immer wieder über die Reling, hielt sein Gesicht in den Fahrtwind, der bei der Geschwindigkeit nicht sonderlich stark war, aber ausreichte, um ihm Tränen in die Augen zu treiben. Seine Augen bekamen einen so anderen Glanz. Wie sehr diese Tränen, auch wenn es falsche waren, Windtränen, sein Gesicht veränderten. Was sie sah, waren keine feuchten Augen, sondern eine tiefe Trauer, die sein ganzes Gesicht ergriffen hatte. Sie erschien ihr wie eine Erlösung. Nie zuvor hatte sie ihn so gelöst gesehen. Wahrscheinlich empfand er es selbst auch so, er hielt immer wieder sein Gesicht in den Wind, es ging schon längst nicht mehr um die Schleuse. Erst jetzt wird ihr klar und sie fragt sich, warum sie damals nicht darauf gekommen war, dass er sich nach der Berührung gesehnt hat, der Berührung des Windes, er streichelte seine Wangen. Wahrscheinlich hatte ihm noch nie ein Mensch die Wangen gestreichelt. Und welche Sehnsucht in ihm war! Sie kann sein Gesicht nicht vergessen, weil sie darin die Trauer sah und er gleichzeitig eine Wonne verspürte, die ihn so lebendig werden ließ. Er schüttelte immer wieder den Kopf, um ihr anzudeuten, dass nichts zu sehen war von einer weiteren Schleuse. Nur um dann gleich wieder nach vorn zu schauen. Sie hätte am liebsten gesagt: »Es ist gut, dass du schaust. Schau, so lange es geht.« Was würde sie dafür geben, noch ein letztes Mal mit ihm auf einem Boot sitzen zu können. Ihn nach Schleusen schauen zu lassen, nach Bojen, nach anderen Schiffen, ihm zu sagen, er sollte aufpassen, dass sie nirgendwo gegen führen, »Friedrich, behalte die Welt vor uns im Blick.« Sie hätte damals ein Foto machen sollen, vom Bug aufgenommen, sein Gesicht über der Reling. Die Haare streng aus dem Gesicht geweht, die Augen womöglich geschlossen. Aber es gibt dieses Foto nicht. Nur die Erinnerung.