10

In meinem Zimmer wartete Alexa auf mich. Sie saß vor einem Tablett und verspeiste mein Mittagessen. Als sie mich erblickte, war ihr das kein bißchen peinlich.

»Hab’ nur mal eben den Nachtisch probiert«, erklärte sie mit noch halb vollem Mund. »Milchreis mit Himbeersoße.« Mein Blick fiel auf das winzige Restchen Milchreis, das nach ihrem Probieren übrig geblieben war. Um davon abzulenken, hob Alexa den Plastikdeckel hoch, der einen größeren Teller bedeckte.

»Sieht alles ganz lecker aus«, kommentierte meine Ehefrau sachkundig. »Das hier scheint so eine Art Gemüsebratling zu sein. Dazu gibt’s Frühkartoffeln und –« Alexa hob das letzte Plastikdeckelchen »Salat«.

»Ehrlich gesagt, habe ich gar keinen Hunger. Mein Bauch tut immer noch weh. Nicht mehr so schlimm wie gestern, aber einen vollen Magen kann ich mir noch nicht so gut vorstellen.« Ich verschwieg, daß mir nach wie vor der Anblick von Peulers Leiche im Kopf herumschwirrte und jeglichen Appetit im Keim erstickte.

»Wie geht’s euch beiden?« Vorsichtig faßte ich auf Alexas Bauch.

»Phantastisch. Wir bleiben noch ein Weilchen untrennbar, sagt die Frauenärztin. Aber das macht nichts. Übrigens war das bei weitem nicht das Interessanteste, was ich beim Arzt erlebt habe.« Alexa zog sich das Tablett noch etwas näher heran, machte sich über die Hauptspeise her und erzählte nebenbei von aufopferungsvollen Arztfrauen und sich hiss-hassenden Konkurrenzkrankenhäusern.

»Ich hab’ mir gedacht«, Alexa kaute auf dem letzten Rest der Tierfreundfrikadelle herum, »vielleicht liegt darin ja das Motiv für diesen Chefarztmord begraben.«

»Wie stellst du dir das vor? Meinst du, jemand aus dem Katharinen-Krankenhaus ist mit Mordabsichten hergekommen, um das Pankratius-Hospital in die Schlagzeilen zu bringen? Das glaubst du doch wohl selber nicht.«

Alexa grunzte.

Ich mußte an das denken, was Benno mir erzählt hatte. Medikamente waren verschwunden. Morphine, die ein Abhängiger als Suchtmittel benötigt haben konnte. Dr. Peuler hatte davon nichts wissen wollen. Es lag viel näher, daß die Mordursache darin verborgen lag.

»Alexa –« Ich wollte gerade beginnen, meine Liebste darüber zu informieren, als sie mich unterbrach.

»Auf jeden Fall werde ich Max davon erzählen.«

Ich stutzte. »Max? Warum gerade Max?«

Alexa grinste genußvoll. Sie liebte es, mehr zu wissen als ich. Seelenruhig stand sie auf und stellte das Tablett auf den Besuchertisch. »Max wird ab morgen die Mordkommission Krankenhaus begleiten. Er macht ein Praktikum und wurde prompt dieser Abteilung zugeteilt.«

»Nein.«

»Doch. Übrigens war Max’ und mein Wortwechsel ähnlich variantenreich.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

Vor lauter Überraschung hatten wir kein Klopfen gehört. Auf jeden Fall stand plötzlich ein Mensch im Zimmer. Da er weiß gekleidet war und irgendwelche Unterlagen in den Händen hielt, konnte man ihn für einen Arzt halten. Im Zweifelsfall wohl eher für eine Ärztin.

»Herr Jakobs?« Die Frau konnte auch sprechen. Im übrigen sah sie ganz nett aus, etwas unkonventioneller als die übliche Sorte Mediziner. Sie trug um den Hals eine Kette, die aussah, als sei sie aus Holz gemacht, und um das Handgelenk ein buntes Bändchen, wie es meine Schüler häufiger trugen. Ein Freundschaftsband, das man nicht abnehmen sollte, bis es irgendwann von selbst den Arm aufgab. Die Ärztin hatte kurzes braunes Haar und trug Kletter-Sandalen. Trotz ihrer dunkelbraun gegerbten Haut sah sie nicht nach mehrwöchigem Skiurlaub aus, noch nicht mal nach ausgiebigem Solarium. Die Frau roch irgendwie nach Abenteuer.

»Mein Name ist Rosner«, die Medizinerin nickte freundlich meiner Angetrauten zu, dann konzentrierte sie sich wieder auf mich, »es tut mir leid, daß Sie erst jetzt Besuch von uns bekommen. Aber sicherlich haben Sie mitbekommen, was derzeit auf der Station los ist. Es geht alles ein bißchen drunter und drüber, daher die Verzögerung. Wenn ich richtig sehe, hätten Sie heute operiert werden sollen?« Ich nickte brav, während Dr. Rosner ein bißchen in meiner Karte herumblätterte. »Das Aufklärungsgespräch ist gestern Abend geführt worden, sehe ich. Ein Anästhesist war auch schon da. Dann würde ich vorschlagen, daß ich Sie jetzt noch einmal untersuche, um eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen zu können.«

»Von mir aus«, murmelte ich und legte meinen Entzündungsblick auf.

Ich mußte mein Schlafanzugoberteil hochziehen und wurde noch mal gründlich untersucht. Dr. Rosner drückte an verschiedenen Stellen meines Körpers herum. Es war deutlich spürbar, daß sie wußte, wo es sich am meisten lohnte.

»Insgesamt geht es mir schon viel besser«, konnte ich zwischendurch einwerfen.

»Sind Sie sicher?« Dr. Rosner drückte von der Seite in mich hinein, so daß ich fast aufgesprungen wäre.

»Ich denke, eine rektale Untersuchung ist nicht mehr notwendig«, erklärte Frau Dr. Rosner. Eine rektale Untersuchung? Da konnte ich der Ärztin nur zustimmen – nicht nötig!

»Sie sind ein Grenzfall«, Frau Dr. Rosner ließ sich auf meinem Besucherstuhl nieder. Alexa hatte es sich am Fußende bequem gemacht.

»Ein Grenzfall?« Ich entschied mich, die Aussage nicht persönlich zu nehmen.

»Ihre Entzündungswerte sind nicht himmelschreiend, Ihre Schmerzen im großen und ganzen wohl erträglich. Man kann von einer starken Reizung Ihres Blinddarms sprechen. Theoretisch könnte man noch etwas abwarten. Aber ich wüßte nicht, warum. Das Ding kann jederzeit hoch akut werden. Dann müssen Sie innerhalb kürzester Zeit operiert werden. In Ihrer jetzigen Situation würde ich das nicht riskieren.« Sie lächelte zu Alexa hinüber. »Sie wollen doch fit sein, wenn die Geburt ansteht. Bringen Sie es hinter sich, dann haben Sie den Kopf frei für Ihre Familie«

Offensichtlich sah ich immer noch nicht allzu entschlossen aus. »Sie sind ja im Aufklärungsgespräch schon hinreichend informiert worden. So eine Blinddarmoperation ist heutzutage wirklich keine große Sache mehr. In drei bis sechs Tagen sind Sie hier raus. Das ist doch eine Perspektive, oder?«

»Sicher!« Mir gingen in Wirklichkeit ganz andere Dinge im Kopf herum. »Wer macht denn die OP, ich meine, jetzt, wo Dr. Peuler nicht mehr da ist?«

»Sicher kann ich Ihnen das gar nicht sagen, aber ich nehme mal an, Oberarzt Dr. Lübke wird das übernehmen. Oder vielleicht Dr. Petras. Die dritte Oberärztin Frau Dr. Neuhaus befindet sich im Urlaub. Und da Sie als Privatpatient Anspruch auf Chefarztbehandlung haben, wird man wohl keinen von uns Assistenzärzten ranlassen.«

Im Prinzip war es mir egal, welcher Dienstgrad meinen Bauch öffnete. Interessanter fand ich die Frage, ob vielleicht Peulers Mörder an meiner OP beteiligt war. Vielleicht gestärkt durch eine gepfefferte Dosis Morphium?

»Und Sie meinen, die Operationen finden morgen ganz normal statt?« Ich schaute Dr. Rosner fragend an.

»Wir gehen davon aus, daß ab morgen früh wieder alles in geregelten Bahnen laufen kann. Die Arbeit der Spurensicherung ist abgeschlossen, und zum Glück war der OP-Bereich nicht direkt betroffen. Die weiteren Ermittlungen müssen nebenher laufen. Wir sind ein Krankenhausbetrieb. Den kann man nicht über längere Zeit dichtmachen. Die Patientenversorgung steht schließlich an erster Stelle.«

»Meinen Sie nicht, daß viele Patienten sich trotzdem durch diese Mordgeschichte abschrecken lassen und in ein anderes Krankenhaus gehen?« Oh, wie liebte ich Alexas Direktheit. Sie konnte mit Wonne in offenen Wunden herumpuhlen. Frau Dr. Rosner jedoch ließ sich nicht irritieren. Sie blickte eher amüsiert, als sie antwortete.

»Ich bin sicher nicht die Richtige, um solche Fragen zu beantworten. Schließlich bin ich erst seit sechs Wochen hier an der Klinik.«

»Und vorher?« Ich konnte meine Neugier nicht zurückhalten. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte Frau Dr. Rosner einen interessanten Lebenslauf zu bieten.

»Ich habe drei Monate für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet Im Kongo.« Treffer. Mein Instinkt hatte mich nicht getäuscht. Frau Dr. Rosner lehnte sich ein wenig nach hinten. »Ich will hier bestimmt nicht die Weltumseglerin raushängen, aber wenn man die Not in Lokuto gesehen hat, dann hat man für die Belegungsprobleme eines mittelständischen Krankenhauses nicht allzu viel Verständnis.« Die Ärztin rieb sich das Auge. »Trotzdem ist mir klar, daß diese Mordgeschichte viel Unruhe ins Haus bringt. Und daß sich so etwas niemand wünscht, ist nur allzu verständlich. Gerade jetzt, da die Karten neu gemischt werden und jede Abteilung sich ins rechte Licht setzen muß, trifft das die Chirurgen besonders hart.«

»Wie meinen Sie das – die Karten werden neu gemischt?«

»Nun, es ist kein Geheimnis mehr, daß sich das Pankratius eventuell mit dem Katharinen-Krankenhaus zusammenschließen wird. Natürlich hat das nur einen Grund: Man möchte Kosten sparen und Synergie-Effekte erzielen. Verwaltung, Schwesternausbildung, da kann man mächtig einsparen. Noch interessanter wird es natürlich in bezug auf die einzelnen Abteilungen. Wer sagt, daß man noch zwei chirurgische Abteilungen braucht – oder zwei gynäkologische? Da ist es doch viel ökonomischer, hier eine leistungsstarke Gynäkologie auszubauen und drüben im Katharinen eine entsprechende Chirurgie – oder eben umgekehrt. Noch sind das Gedankenspiele, aber anderswo ist aus Gedankenspielen ruckzuck Realität geworden, als es um Einsparungen ging.« Rosner schlug die Beine übereinander. »Kein Wunder also, daß in allen Abteilungen leichte Nervosität spürbar ist. Jeder muß sich beweisen, überall muß die Bettenbelegung stimmen, allerorten muß rationell gearbeitet werden, denn nur so hat man die Chance, aus der Fusion als Sieger hervorzugehen. Denn eins ist klar: Wenn um die Abteilungen gefeilscht wird, dann zittert vor allem die gehobene Truppe.

Ein Assistenzarzt wird gerne auch im Katharinen in die Mannschaft genommen, denn beim derzeitigen Ärztemangel kann man froh über jeden Assistenzarzt sein, den man bekommt. Aber zwei Chefärzte kann man beileibe nicht gebrauchen. Und bezahlen will man sie schon gar nicht. Sie verstehen?«

»Ich verstehe so einiges«, erklärte Alexa nachdenklich. »Was mich jedoch außerdem noch interessiert: Was passiert jetzt mit Dr. Peulers Stelle?«

»Dr. Peulers Stelle«, Rosner schmunzelte in sich hinein. »Das wird spannend. Daran wird sich einiges zeigen. Wenn die Stelle neu besetzt wird, trägt das sicherlich zur Stärkung der Abteilung bei. Läßt man die Stelle unbesetzt, dann hält man sich alle Optionen offen.«

»So ist das also«, brummte ich und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf.

»So ist das.« Frau Dr. Rosner beugte sich nach vorn.

»Werden Sie zurückgehen?« Alexa blickte die Ärztin durchdringend an. »Oder bleiben Sie im Sauerland?«

»Das Sauerland«, murmelte ich, »neues Einsatzgebiet für Ärzte ohne Grenzen.« Frau Dr. Rosner hatte mich zum Glück nicht gehört.

»Zurück in den Kongo?« Frau Dr. Rosner zupfte an ihrer Halskette. »Das wohl nicht. Aber ein weiteres Auslandsprojekt mache ich auf jeden Fall, wenn ich mich hier ein bißchen erholt habe. Und in der Zwischenzeit gibt es ja genügend Abwechslung.«

»Ich hoffe, Sie meinen damit nicht den Mord.«

Frau Dr. Rosner lachte. »Nun, auf Abwechslung dieser Art kann ich durchaus verzichten. Aber wie mir scheint, sind Sie an der Sache ziemlich interessiert.«

»Nun, ich habe den Toten gefunden«, rechtfertigte ich mich. »Das geht einem natürlich nicht so schnell aus dem Kopf.«

Frau Dr. Rosner hielt den Kopf schief. »Ist es im Fernsehen nicht immer so, daß jeder Arzt eine Liaison mit einer Krankenschwester hat? Daraus läßt sich doch ein Mordmotiv stricken, oder etwa nicht?«

Ich schmunzelte. »Keine schlechte Idee. Trauen Sie Peuler das zu?«

»Puh, das fragen Sie mich? Ich bin doch erst sechs Wochen hier«, Frau Dr. Rosner dachte einen Augenblick nach. »Nein, ich glaube nicht. Der Mann war von der alten Schule. Dem wäre so etwas nicht passiert.« Die Ärztin schob die Unterlagen zusammen, die sie in den Händen hielt »Mit der Operation morgen ist dann alles klar?« Die Frau konnte schnell das Thema wechseln. Im übrigen war ihre Frage gar keine richtige Frage.

»Natürlich, alles bestens«, murmelte ich zustimmend.

»Dann weiter alles Gute!« Dr. Rosner reichte uns zum Abschied die Hand. »Vor allem bei der Geburt.«

An der Tür drehte sich die braun gebrannte Ärztin noch einmal um. »Im Kongo bin ich zweimal zu einer Geburt gerufen worden. Natürlich bekommen die Frauen dort ihre Kinder zu Hause. Nur wenn es Komplikationen gibt, rufen sie einen Arzt.« Alexa nickte lächelnd. Frau Dr. Rosner war noch nicht fertig. »Freuen Sie sich darauf. Es ist so ziemlich das Aufregendste, was man auf der Welt erleben kann.«

Einen Moment später war sie aus der Tür.

»Wie wäre das?« fragte Alexa auf einmal. »Wie wäre es mit einer Geburt bei uns zu Hause?«

»Ungünstig«, sagte ich trocken. »Du zu Hause, ich im Krankenhaus – paßt irgendwie nicht zusammen.«

»Schade«, Alexa blickte aus dem Fenster. »Sie ist ein interessanter Typ. Eine, die nicht nur ihre Karriere im Kopf hat, sondern die über den Tellerrand hinausblickt. Außerdem war es interessant, was sie über die Klinik erzählt hat«, Alexa wurde zusehends munterer. »Wenn es stimmt, daß die beiden Krankenhäuser fusionieren, könnte jemand besonderes Interesse haben, Peuler aus dem Weg zu räumen.«

»Der Chefchirurg der Nachbarklinik?« fragte ich ironisch.

»Zum Beispiel«, Alexa mußte selber grinsen.

»Ich liebe dich, Doc Watson«, rief ich meiner Gattin zu. »Meine Liebe ist grenzenlos. Verlangst du noch mehr?«

»Für den Anfang reicht das«, Alexa lächelte mich liebreizend an. »Über die Zukunft sprechen wir dann später.«

Mich überkam eine Welle der Zärtlichkeit, und ich hätte Alexa gern zu mir ins Bett gezogen. Allerdings gab es diverse Argumente, die eindeutig dagegen sprachen: Eine hochschwangere Alexa zum Beispiel, dann mein entzündeter Blinddarm, außerdem ein Krankenzimmer, das nicht gerade Verführungscharakter hatte. Ein Blick nach links überzeugte mich dann ganz. In der Tür stand Schwester Berthildis mit einem Blutdruckmeßgerät in der Hand.

»Hallo Herr Jakobs«, strahlte sie mich an. »Mal sehen, wie es Ihnen so geht.«

Als die Stationsschwester ihre Manschette um meinen Oberarm legte, waren Blutdruck und Puls schon wieder im normalen Bereich.