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Ich sah die Frau erst, nachdem ich schon eine Weile in der Bank gesessen hatte. Sie hatte sich in der letzten Reihe im rechten Seitenflügel niedergelassen, und ich nahm sie eigentlich nur deshalb wahr, weil sie sich die Nase putzte. Jedenfalls dachte ich das zuerst. Beim zweiten Hinschauen merkte ich, daß die Frau weinte. Nicht laut und schluchzend, sondern still und ausdauernd weinte sie in sich hinein. Die Frau war jung. Ich überlegte, was sie so traurig machte. Nun, wir befanden uns im Krankenhaus. Da waren schlechte Nachrichten nun mal an der Tagesordnung.
Ich blickte nach vorne und versuchte mich zu konzentrieren. Die Kapelle war mir für diesen Zweck am geeignetsten erschienen. Jetzt aber kam ich nicht zur Ruhe. Der Schneewittchen-Gedanke ging mir durch den Kopf. Alexa hatte vermutet, daß jemand sein Schneewittchen rächen wollte. Aber wer sollte das sein? Ein Patient vielleicht. Jemand, der hier im Krankenhaus sein Kind verloren hatte. Was aber, wenn Schneewittchen selbst Rache genommen hatte? Schneewittchen konnte eine ehemalige Freundin sein, eine Geliebte von Peuler. Jemand, der diese Ehe komplett zerstören wollte und deshalb beide Ehepartner ums Leben gebracht hatte.
Hinten rechts hörte ich, wie die Dame sich die Nase schneuzte. Ich zwang mich, mich nicht umzublicken. Die Locke. Die Locke lag wie ein dicker Klumpen in meiner Magengrube. Alexa hatte vollkommen recht gehabt. Wie hatte ich das Haar nur für mich behalten können? Verdammt noch mal. Ich war Beamter. Jedenfalls bislang. Wenn ich nicht wegen Unterschlagung von Beweismaterial aus dem Staatsdienst gekickt wurde. Blöderweise hatte ich Hauptkommissarin Oberste telefonisch nicht erreicht. Kein Wunder. Sie hatte mit Sicherheit wegen des zweiten Mordes genug zu tun. Als ich auch beim zweiten Mal noch nicht mit der Chefin hatte sprechen können, hatte ich dem Polizeimeister auf der Wache den Fall geschildert. Gut, ehrlich gesagt, hatte ich eine ziemlich abgespeckte Version zum besten gegeben. Eine Version, in der ich nicht ganz so schlecht ausgesehen hatte wie in der Realität. Der Polizist hatte versprochen, die Informationen so schnell wie möglich an Frau Oberste weiterzuleiten. Die würde sich dann sicherlich noch bei mir melden. Oh ja, davon war ich überzeugt. Marlene Oberste, die heute schon bei mir gewesen war und der ich die schwarze Locke unrechtmäßig verschwiegen hatte, würde gleich bei mir auf der Matte stehen. Da war ich mir ganz sicher. Trotzdem redete ich mir ein, daß ich nicht aus reinen Fluchtgedanken in dieser Kapelle saß, sondern aus Gründen der Kontemplation. So nannte man das doch, wenn man zu sich selbst und so manch anderem finden wollte, oder nicht? Schon wieder ein Geräusch von rechts hinten. Ich schaute mich um. Die Frau saß noch immer da. Sie hatte zu weinen aufgehört und starrte nun wächsern vor sich hin. Leise stand ich auf und ging langsam auf sie zu. Erst als ich unmittelbar vor ihr stand, blickte sie mir ins Gesicht.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Die Frau schaute zunächst durch mich hindurch. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein, nein. Vielen Dank.« Ihre Stimme war so leise, daß sie kaum zu verstehen war.
Ich lächelte der Frau aufmunternd zu und drehte mich um. Es war falsch gewesen, sie anzusprechen. Ich war hier schließlich nicht in der Schule.
»Sie haben Dr. Peuler gefunden, nicht wahr?«
Ich drehte mich um. Tatsächlich, die Frau hatte mich angesprochen. Mit verschwommenen Augen sah sie mich an. Ich nickte.
»Und Sie sind Lehrer am Elli, stimmt’s?«
Ich nickte wieder und überlegte krampfhaft, woher die Frau mich kannte. Keine Chance. Als Lehrer war man nie sicher. Vielleicht die Mutter eines Schülers.
»Haben Sie schon von dem zweiten Mord gehört? Von dem Mord an Frau Peuler?«
Ich setzte mich in die Bank unmittelbar vor der Frau und drehte mich zu ihr nach hinten.
»Ja, ich hab’ davon gehört. Schlechte Nachrichten verbreiten sich ja bekanntlich am schnellsten.«
»Sie hat mich angerufen. Gestern Abend. Sie wollte mit mir sprechen.«
»Wie bitte?«
»Wir haben einen Termin vereinbart. Heute mittag wollten wir uns treffen. Ich sollte zu ihr kommen, und ich war auch da. Ich war schon ganz verwundert, weil sie nicht zu Hause war. Eine Viertelstunde lang habe ich vorm Haus gewartet, dann bin ich gefahren. Ich habe gedacht, sie hat es sich anders überlegt.«
»Woher kannten Sie Frau Peuler denn überhaupt?«
»Ich arbeite auch hier in der Klinik. Daher kenne ich ihren Mann. Bei einem Vortrag habe ich sie dann mal zufällig privat getroffen. Nachher haben wir noch zusammen etwas getrunken und uns dabei ganz gut unterhalten.«
»Und warum wollte Frau Peuler mit Ihnen reden? Einfach nur so, um ihre Trauer abzuladen?«
»Natürlich, vor allem deshalb. Sie suchte ein Gespräch, um die Situation besser bewältigen zu können. Darüber bin ich sehr froh.«
Ich nickte.
»Aber da war noch mehr.« Der jungen Frau stiegen wieder die Tränen in die Augen. »Sie wollte mir etwas erzählen. Sie sagte, sie habe so ein komisches Gefühl.«
»Ein komisches Gefühl? Was meinte sie damit?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie meinte, sie könne sich gar nicht erklären, warum jemand ihren Mann habe umbringen wollen. Er sei doch so ein lieber Mensch gewesen.«
»Aha.«
»Sie könne das alles nicht verstehen, und deshalb müsse sie immer an diese alte Geschichte denken.«
»An die alte Geschichte? Was meinte sie damit?«
»Das habe ich auch gefragt als ich sie am Telefon hatte. Aber dann hat sie ganz furchtbar geweint, richtig geschluchzt hat sie. Und sie hat gesagt, sie könne jetzt nicht mehr. Morgen werde sie mir alles erzählen. Und dann hat sie aufgelegt.«
Meine Gesprächspartnerin mußte jetzt auch wieder weinen. Sie zog ein zerfleddertes Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich damit die Nase.
»Wenn ich gestern einfach hingefahren wäre«, schluchzte sie jetzt. »Dann würde Eva Peuler vielleicht noch leben.«
»Das alles war nicht absehbar«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
»Aber sie hätte mir die Sache sicherlich schon gestern erzählt. Und dann hätten wir Maßnahmen ergreifen können. Sie hat doch einen Verdacht gehabt.« Die Stimme der jungen Frau war jetzt völlig außer sich.
»Sie hatten für heute einen Termin. Kein Mensch konnte ahnen, daß vorher noch etwas passieren würde.«
»Ich habe noch überlegt, aber ich dachte, sie müsse sich sowieso erst beruhigen. Und dann –« Die Frau schluchzte hemmungslos heraus. Ich setzte mich neben sie und versuchte sie zu trösten.
»Sie müssen mit der Polizei sprechen«, sagte ich irgendwann, als sie sich etwas beruhigt hatte. »Sie müssen mit der Polizei sprechen und denen alles erzählen. Außerdem sollten Sie sich Hilfe suchen.« Ich erinnerte mich an ein Schild, das ich vor kurzem in der Cafeteria entdeckt hatte. »Es gibt hier im Haus eine Krankenhausseelsorgerin. Ich meine, Sie können gerne weiter mit mir sprechen, wann immer Sie wollen. Aber wenn Sie etwas anderes suchen, dann wenden Sie sich doch einfach an sie. Sie ist geschult. Sie kann Ihnen sicher helfen, damit Sie sich nicht weiter Vorwürfe machen.«
Auf einmal sah mich die junge Frau aus ihren verweinten Augen überrascht an.
»Die Krankenhausseelsorgerin? Aber das bin ich doch selbst.«
+
Im Zimmer setzte er sich auf einen Stuhl und versuchte, sich zu beruhigen. Er hatte ja nur einmal schauen wollen. Schauen, ob es da irgend etwas Interessantes gab. Die beiden Patienten aus 344 hatten davon erzählt. Daß plötzlich so ein Knilch vor der Balkontür gestanden hatte. Und daß er sich angeblich ausgeschlossen hatte. Aber natürlich wußten die Patienten, daß nebenan kein normales Patientenzimmer war. Nebenan war das Zimmer vom Chefarzt. Und in diesem Zimmer hatte doch vor kurzem ein Mord stattgefunden. Da war es einfach seltsam, daß plötzlich dieser Mann von dort herübergekrabbelt kam.
Deshalb hatte er nur mal schauen wollen. Schauen, was das für einer war. Und dann hatte er auf einmal die Locke gefunden! Sie hatte in der Schublade seines Nachtschränkchens gelegen. Ganz obenauf. Er hatte es gar nicht glauben können. Wie war dieser Mann an die Locke gekommen? Und warum hatte er sie verwahrt? Was wollte er damit? Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können und die Locke an sich genommen. Dann hatte er fieberhaft weiter in seinen Sachen gekramt. Gott sei Dank war der Bettnachbar zur Anwendung weg gewesen, und der Mann selber hatte sich zur Cafeteria aufgemacht, jedenfalls in die Richtung. So hatte er Zeit gehabt, noch etwas zu suchen. Und mit Erfolg! Da war nämlich noch etwas gewesen. Ein Zettel mit Namen drauf. In der Mitte hatte Peuler gestanden und drum herum verschiedene andere Namen. Wolkov zum Beispiel und Lübke. Aber warum er wirklich ganz kribbelig geworden war, war wegen eines anderen Namens. SCHNEEWITTCHEN hatte da gestanden, in dicken fetten Lettern. Schneewittchen! Der Mann war ihm auf der Spur. Er hatte die Zeichen verstanden. Er war hinter ihm her. Nur wußte er nicht, auf welcher Seite der Mann stand. Man hätte ja denken können, er sei ein Polizist. Jemand, den man inkognito ins Krankenhaus geschleust hatte, um der Sache vor Ort auf den Grund zugehen. Das kam ja oft vor, im Fernsehen. Mal wurde jemand ins Kloster, mal in ein Altenheim eingeschleust, um so besser an Informationen zu kommen. Aber das war in diesem Fall nicht möglich. Der Mann war schon am Sonntag Abend eingeliefert worden, als Peuler noch gelebt hatte. Außerdem hatte er sich tatsächlich einer Blinddarm-OP unterzogen. Er war kein Polizist. Aber vielleicht jemand, der auf eigene Faust ermittelte – ein Privatdetektiv oder Versicherungsagent, der zufällig gerade im Krankenhaus gelegen hatte und nun die Situation nutzte. Warum sonst hatte er der Polizei die Locke nicht ausgehändigt? Das war doch seltsam. Das war doch hochgradig seltsam. Übrigens war der Mann verheiratet. Er hatte eine Frau, die hochschwanger war. Auch sie schlawenzelte überall in der Klinik herum. Natürlich arbeiteten die beiden zusammen. Das war geschickt. Er war am Ort des Geschehens. Und sie quetschte im weiteren Umfeld die Leute aus. Das war geschickt. Und das war sehr gefährlich für ihn! Mit Gewalt faßte er sich an die Schläfen. Er bekam Kopfschmerzen. Starke Kopfschmerzen. Dann würde er noch schlechter nachdenken können. Dabei mußte er eine Lösung finden. Und zwar schnell. Er mußte schnell eine Lösung finden.