15
Als ich die Augen öffnete, sah ich Alexa. Sie schaute mich nicht an, sondern saß an meinem Bett und las in einem Buch. Als sie aufblickte, lächelte sie.
»Vincent, du bist aufgewacht.« Sie legte das Buch beiseite und strich mir mit der Hand über die Stirn.
»Jetzt bist du ihn los. Es ist alles in Ordnung.«
Ich hatte einen ekligen Geschmack im Mund.
»Wie spät ist es?« fragte ich. Ich mußte erst meine Lippen ein wenig erproben.
»Kurz nach zwei, du hast lange geschlafen, nachdem du schon einmal wach geworden bist, direkt nach der Operation.«
»Ich war schon mal wach?« Tatsächlich konnte ich mich nicht daran erinnern. Allerdings hatte ich noch das furchtbare OP-Hemd an. Ich tastete meinen Bauch ab. Die Naht war wirklich nicht groß. Sie ließ sich unter einem winzigen Pflasterverband verbergen. Allerdings schmerzte sie ein wenig, als ich mich auf die Seite drehte.
»Puh, geschafft.« Erst jetzt stellte sich die große Erleichterung ein. Der Blinddarm war weg. Wenn ich den Ärzten glauben durfte, ging es mir schnell wieder gut, und ich konnte bald hier raus.
»Schön, daß du da bist.« Ich faßte Alexas Hand. »Geht es dir gut?«
»Alles in Ordnung. Der Kleine wartet, bis du wieder ganz auf den Beinen bist.«
»Recht so. Du hast gelesen?«
»Nichts Besonderes. Interessanter sind heute die Zeitungen.« Alexa griff ans Fußende und holte zwei Tageszeitungen heran. »Sie sind natürlich voll von dem Mord. Sogar die Schützenfestberichte sind auf Seite vier gerutscht.«
»Wen wundert’s? Dr. Peuler war ein Mann öffentlichen Interesses. Außerdem ist ein Mord in dieser Stadt zum Glück noch immer eine Seltenheit.« Plötzlich mußte ich husten. Ich hielt mir die Seite – mein Blinddarm, oder besser: mein ehemaliger Blinddarm. Husten und lachen waren derzeit nicht unbedingt der Brüller.
Alexa blätterte in der Zeitung und suchte mir den Lokalteil heraus. »Hier, schau mal, das ist Peulers Frau.« Auf dem Foto war der Arzt mit seiner Frau zu sehen, offensichtlich auf einer Art Benefizgala. Unten drunter stand, daß der Lions-Club ein Konzert zugunsten eines bulgarischen Waisenhauses veranstaltet hatte. Eva Peuler war die Hauptorganisatorin gewesen.
»Die habe ich schon öfter in der Zeitung gesehen«, murmelte ich.
»Ja, sie ist stark ehrenamtlich engagiert«, erklärte Alexa. »Die Frau hat schon viel auf die Beine gestellt.«
»Was steht in den Artikeln?«
»Die Polizei hat noch keine heiße Spur und ermittelt in alle Richtungen.«
»Der Typ läuft also noch immer frei herum.«
»Der Typ. Vielleicht ist es ja auch eine Frau.«
»Nein.«
Alexa sah mich überrascht an. »Wie kommst du darauf?«
»Ich weiß es einfach.«
»Interessant. Du weißt es einfach«, Alexas Stimme klang ironisch. »Vielleicht ist dir bei so viel Intuition ja auch klar, wer der Mörder ist.«
»Leider nicht!« Ich drehte mich zurück auf den Rücken. »Aber eine Frau hätte nicht dieses Kreuz geritzt.«
»Dieses Kreuz?« Alexa sah mich irritiert an. »Was für ein Kreuz?«
»Der Täter hat ein Kreuz hinterlassen. Am Opfer selber.«
Es war praktisch unmöglich, ihr die Sache schonend beizubringen.
»Dr. Peuler ist das Kreuz in den Rücken geritzt worden, durch die Kleidung hindurch.«
Alexa setzte sich kerzengerade hin, sie war eine Nuance blasser geworden.
»Davon steht gar nichts in den Zeitungen«, murmelte sie.
»Das wundert mich eigentlich. Mir war klar, daß die Polizei sich mit Details zurückhalten wird. Aber ehrlich gesagt, hat Schwester Gertrudis mich gestern bereits darauf angesprochen. Die Polizei hat die Augenzeugen nicht geimpft, da geht so eine Sache natürlich schnell rum.«
»Und warum hast du mir nicht davon erzählt?« Ich hatte gewußt, daß die Frage kommen würde, aber ich hatte trotzdem keine gute Antwort parat.
»Alexa, es tut mir leid.« Ich versuchte, ihre Hand zu fassen, kam aber leider nicht heran. »Ich weiß, daß es nicht richtig war. Um ehrlich zu sein, belastet mich diese Sache ganz fürchterlich. Dieses Bild verfolgt mich überallhin. Und ich versuche mit allen Mitteln, es zu verdrängen.«
Gott sei Dank lockerte sich Alexa ein wenig. »Es wäre besser gewesen, wenn du mir davon erzählt hättest.«
»Ich weiß.«
Alexa faßte meine Hand. »Mensch, Vincent, diese Sache ist so grauenvoll. Ein Kreuz, was soll das?«
»Wenn ich das wüßte. Schwester Gertrudis sagte gestern, der Täter habe eine Botschaft hinterlassen wollen, und das trifft die Sache auf den Punkt. Das Kreuz ist ein Zeichen. Ein Zeichen, das irgend jemand verstehen soll.«
»Das Kreuz steht für den Tod.«
»Ja, natürlich, aber so banal ist die Sache meiner Meinung nach nicht. Jedenfalls ist es nicht so direkt zu verstehen. Nicht in dem Sinne: Dieser Mensch ist jetzt tot.«
»Du hast recht, das wird es nicht sein.«
»Gestern habe ich schon mal im Ernst daran gedacht, daß es genauso gut ein Pluszeichen sein könnte«, erklärte ich, »denn so sah das Zeichen aus: wie ein rotes Plus.«
»Das Rot kam vom Blut?« Alexas Blick war angewidert.
»Ja, der Kerl muß ziemlich tief geritzt haben, durch die Kleidung hindurch bis in das Fleisch hinein. Blut ist aus der Wunde ausgetreten und hat die Ränder des Kittels rot gefärbt.«
Alexas Gesichtsausdruck hatte sich noch immer nicht gewandelt.
»Das ist das Bild vor meinen Augen«, erklärte ich. »Dr. Peuler, wie er da mit starrem Blick vornüber auf der dunklen Schreibtischplatte liegt, und auf seinem Rücken das rote Kreuz auf weißem Untergrund.«
»Das ist ja schaurig!« Alexa schüttelte sich.
»Weißt du, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich glaube, daß die Sekretärin, Schwester Berthildis und ich unmittelbar nach dem Mord da gewesen sein müssen. Und mit unmittelbar meine ich wirklich wenige Minuten. Wenn dem Opfer in die Haut geschnitten wurde, wird das Blut schnell ausgetreten sein. Ich schätze, wenige Minuten später hat man das blutige Kreuz gar nicht mehr erkannt.«
Alexa nickte mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck.
Ich warf noch einen Blick in die Zeitungen. »Und die Polizei hat noch keine heiße Spur?«
»So steht’s jedenfalls da drin. Und Max hat sich leider auch noch nicht wieder gemeldet.«
Ich überlegte, was das bedeutete. Hatten die verschwundenen Medikamente nichts mit dem Mordfall zu tun? Oder hielt die Polizei sich aus rein strategischen Gründen bedeckt?
»Es gibt da noch etwas«, ich legte die Zeitungen beiseite. »Du hast doch Benno kennengelernt, meinen ehemaligen Schüler.«
Alexa hörte mit großen Augen zu, den Mund leicht geöffnet. Als ich geendet hatte, sagte sie zunächst gar nichts.
»Ich habe lange gezögert, ob ich dich mit dem ganzen Kram überhaupt belasten soll«, erklärte ich. »Du bist hochschwanger, und die Geburt steht bald an. Du solltest besser –«
»Halt!« Ich zuckte zusammen. Alexas Gesichtsausdruck hatte etwas Bedrohliches. »Mir reicht’s jetzt mit dieser Rücksichtnahme. Ich bin weder krank noch psychisch labil. Sicher, die Geburt steht bald an, aber das heißt nicht, daß ich mich bis dahin ins Bett legen und Rosamunde-Pilcher-Romane lesen sollte. Wenn es etwas zu tun gibt, dann werde ich das in Angriff nehmen. Und das gleiche sollte auch für dich gelten. Unser Freund Max steckt als Praktikant im Ermittlungsteam. Vielleicht können wir ihm helfen, indem wir Informationen bereitstellen.« Alexa legte einen trotzigen Gesichtsausdruck auf. »Ich habe nicht vor, von nun an mit Lupe und kariertem Käppi durch die Gegend zu rennen. Aber wenn ich etwas höre, was Max helfen könnte, werde ich ihm natürlich davon erzählen. Du machst dir doch etwas vor, wenn du behauptest, du wolltest nichts damit zu tun haben. In Wirklichkeit beschäftigst du dich sehr wohl mit der Sache, gib es doch zu!«
Ich antwortete nicht gleich, so daß Alexa ein feistes, hochschwangeres Grinsen aufsetzte.
»Weißt du, Vincent, manchmal weißt du einfach selbst nicht so genau, was in dir vorgeht. Meinst du nicht auch?«
»Oh ja«, stimmte ich mißmutig zu, »eigentlich ist das das Schönste an unserer Ehe: Daß du mich immer wieder gratis informierst, was ich eigentlich denke.«
»Mach’ ich doch gern«, hauchte Alexa und gab mir einen sanften Kuß auf die Nase.