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Kurz bevor sie das Zeitungsgebäude erreichten, spürte Alexa heftige Schmerzen. Sie blieb einen Moment stehen und wartete ab.

»Alles in Ordnung?« Max schaute sie besorgt an.

»Diese Vorwehen. Ganz schön unangenehm. Sie werden immer stärker.«

»Sollen wir zurückfahren? Oder soll ich hier mit dir einen Arzt aufsuchen?«

»Um Himmels willen. Das ist völlig normal. Wir ziehen die Sache durch, jetzt, da wir direkt vorm Ziel sind.«

»Sind wir das?«

Max sah unzufrieden aus. Nur auf Alexas heftiges Drängen war er mit nach Paderborn gefahren. Er hätte am liebsten alles in die Hände der Mordkommission gegeben. Andererseits hatte er keine Lust, schon wieder mit einer falschen Spur aufzulaufen. Daher hatte er sich dann doch gefugt.

Die beiden hatten lange überlegt. Wo konnte der Unfall passiert sein? Klar, zunächst hatten sie an Soest gedacht. Aber das war unlogisch. Warum hätte Peuler dann die Stelle in Paderborn ablehnen sollen? Die Sache mußte etwas mit Paderborn zu tun haben, anders war Peulers Zurückhaltung nicht zu erklären. Paderborn. Und dann war Alexa eine alte Schulfreundin eingefallen. Eine Schulfreundin, die mittlerweile bei einer Paderborner Zeitung arbeitete. »Ein Wink des Schicksals«, hatte Alexa gerufen. Ein paar Minuten später dann hatte sie die Sache am Telefon klargemacht. Die Schulfreundin hatte Zugang zum Zeitungsarchiv. Und Alexa hatte sie tatsächlich dazu gebracht, schon mal mit der Suche zu beginnen.

»Vielleicht sollten wir besser –« Max schaute Alexa an. Er war noch immer nicht beruhigt.

»Nun, guck nicht so! Du wirst schon nicht als Geburtshelfer einspringen müssen, weder im Archiv noch an der Autobahnraststätte. So eine Geburt dauert. Glaub mir! Ich hab’ das schon hundertmal erlebt.«

Max hatte nicht dagegengehalten, daß es durchaus Unterschiede zwischen Menschen und Zuchtschweinen geben konnte. Er hatte sich gefügt und schon war Alexa energisch Richtung Eingangstür marschiert. Der Servicebereich im unteren Geschoß war dunkel und verschlossen. Alexa sah auf die Uhr. Kurz vor acht, an einem Freitag. Falls Susanne Gerstmeier jetzt tatsächlich im Archiv der Westfälischen saß und nach Unfallberichten suchte, war ihr das hoch anzurechnen.

Max drückte lang anhaltend auf die Klingel der Redaktion. Es dauerte eine Weile, bis eine Stimme zu hören war. Eine männliche Stimme.

»Ja?«

»Max Schneidt ist mein Name. Ich bin mit einer Freundin hier. Wir sind verabredet, mit Susanne Gerstmeier, Ihrer Kollegin.«

»Alles klar. Ich komme runter.«

Ein Summer ging. Max hielt Alexa die Tür auf und ging dann hinter ihr ins Treppenhaus. Sofort darauf waren Schritte im Treppenhaus zu hören. Da hüpfte jemand geradezu die Stufen herunter. Alexa hielt sich den Bauch. Diese Schmerzen wurden langsam unangenehm. Einen Moment später stand ein junger Mann vor ihnen. Er sah so dynamisch aus, wie seine Schritte geklungen hatten.

»Rossmann«, sagte er und gab beiden die Hand. »Wir können gleich nach unten gehen. Susanne forstet da die Unterlagen durch. Wahrscheinlich ist sie bereits von einer Kellerassel nicht mehr zu unterscheiden.«

Die Tür zu den Kellerräumen war geöffnet Susanne hatte einen Keil unter die Eisentür geschoben. Wahrscheinlich, um die Frischluftzufuhr auf ein erträgliches Maß zu erhöhen. Der ganze Raum war mit Regalen vollgestellt. Die wiederum beherbergten allesamt dieselbe Art von großen, schwarzen Mappen. Mappen im Zeitungsformat. Es dauerte eine Weile, bis sie Alexas Schulfreundin gefunden hatten. Sie kniete in einer Ecke hinter einem Regal und las etwas.

»Alexa!« Susanne erhob sich und versuchte, den Staub von ihrer Hose zu klopfen. »Du bist ja schwanger.«

»Ach, sieht man’s schon?«

Max grinste. Immerhin hatte Alexa ihren Humor nicht verloren.

»Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.«

»Wir haben uns ja auch ein paar Jahre nicht gesprochen.«

»Das stimmt.« Susanne sah Alexa neugierig in die Augen. »Wirklich ein Ding, daß du dich so plötzlich gemeldet hast.«

»Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Ich meine, daß ich nach Jahren anrufe und dann gleich eine Bitte an dich habe.«

»Das ist schon in Ordnung. Wenn ich dir nicht hätte helfen wollen, hätte ich abgesagt.«

Alexa lächelte. Was Susanne sagte, stimmte. Susanne hatte immer schon das getan, was sie tun wollte. Sie hatte nach dem Abitur zunächst ein Studium angefangen, Jura, glaubte Alexa, was sie aber schon nach einem Semester abgebrochen hatte. Danach war sie mit einer Theatergruppe durchs Land gezogen. Ein Trüppchen, das Kindertheater machte. Aber in einer Größenordnung, bei der Alexa sich heute noch fragte, wovon Susanne sich damals über Wasser gehalten hatte. Später dann hatte sie zu schreiben begonnen, zunächst für ein alternatives Stadtmagazin, anschließend hatte sie sich für ein Volontariat qualifiziert. Sie hatte Glück gehabt, war noch hineingerutscht. Nach einigen Umwegen arbeitete sie jetzt als Redakteurin hier in Paderborn. Susanne war eine der wenigen in Alexas Abiturjahrgang, die sich ein paar Extratouren gegönnt hatten. Und die waren ihr anzusehen. Ihr Gesicht sah ein wenig verlebt aus. Aber sie schien glücklich, zufrieden. Offensichtlich war sie richtig angekommen.

»Das ist übrigens Max, ein guter Freund. Wir haben die Sache mit dem Unfall gemeinsam herausgekriegt. Hast du in den Zeitungen schon etwas gefunden?«

»Schon, aber eure Angaben sind sehr ungenau. Innerhalb der drei Monate, auf die ich mich konzentrieren sollte, habe ich drei tödliche Unfälle gefunden.«

»Bevor du loslegst«, schaltete sich plötzlich Kollege Rossman ein, der immer noch hinter ihnen stand, »ich muß wieder nach oben – Spätschicht in der Redaktion.«

»Alles klar, vielen Dank«, Susanne winkte ihm abwesend nach. Dann wandte sie sich wieder an Alexa.

»Also, hier sind die drei«, sie griff nach zwei Mappen, die sie sich auf dem Boden zurechtgelegt hatte. »Am besten gehen wir drüben an den Tisch.« Tatsächlich stand mitten im Raum ein alter Tisch. Er war komplett eingestaubt.

»Stühle gibt’s hier nicht«, erklärte Susanne. »Ich hoffe, es geht auch so.«

Alexa nickte flüchtig und schaute gespannt auf die Mappen.

»Also, der erste Vorfall passierte Ende April 1975, auf der B1 Richtung Salzkotten. Hier ist ein Bericht vom 28. April 1975. Ein Motorradfahrer hat an einer unübersichtlichen Stelle überholt und ist unter einen Sattelschlepper geraten. Er war sofort tot.«

»Ein Sattelschlepper«, murmelte Max, »in unserem Fall eher unwahrscheinlich.«

Susanne schaute Alexa an. Als die nickte, machte sie weiter.

»Der nächste Fall war Anfang Juni. Eine Gruppe junger Leute in Papas Wagen. Hier ist der Bericht, datiert am 3. Juni 1975. Der Fahrer hatte etwas getrunken und ist zu schnell gefahren. Als er mit vollem Karacho gegen einen Baum raste, wurde der Beifahrer schwer verletzt. Er starb einen Tag später im Krankenhaus.«

»Im Krankenhaus«, murmelte Max und wandte sich an Alexa. »Was hältst du davon?«

»Es stimmt nicht mit dem überein, was Frau Rotbusch uns sagen wollte. Aber man kann nie wissen. Steht irgend etwas im Artikel über den Fahrer? Und saßen noch mehr Leute im Auto?«

Susanne beugte sich tiefer über den Artikel. »Das Ganze passierte in Elsen, also ganz hier in der Nähe. Der Fahrer hieß Jürgen P., der verstorbene Beifahrer Günter S. So steht es jedenfalls hierdrin. Eine weitere Mitfahrerin wurde leicht verletzt. Ich kann euch den Bericht auf jeden Fall kopieren.«

Alexa nickte. »Unmöglich ist es nicht, daß unsere Geschichte damit zusammenhängt. Worum geht’s denn bei dem dritten Fall?«

»Zwei Fahrradfahrer«, antwortete Susanne. »Kurz vor Mönkeloh außerhalb der Ortschaft.«

»Beide tot?« wollte Max wissen.

»Nein, ganz anders«, Susanne legte sich die Zeitung zurecht. »Zwei Kinder waren auf dem Heimweg vom Spielen.

Ein Junge, neun Jahre, und seine kleine Schwester, fünf. Der Junge fuhr auf seinem Fahrrad, das Mädchen saß hinten auf dem Gepäckträger. Plötzlich sprang das Mädchen ab und lief auf die Straße. Dort wurde es vom Auto erfaßt«

»Zwei Kinder«, murmelte Alexa. Max dachte dasselbe.

»Deshalb hat sie immer auf deinen Bauch gezeigt. Es waren Kinder.«

»Wer hat das Auto gefahren?«

»Ein Paar. Mehr steht hier nicht. Auch kein Namenskürzel. Wenn es stimmt, was hier drinsteht, haben die beiden keine Schuld. Sie sind nicht mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Ein tragischer Unfall.«

Alexa quetschte sich noch enger an Susanne und schaute ihr über die Schulter. Als sie das Foto sah, wußte sie Bescheid. Im Hintergrund war zu erkennen, wie ein Verletzter versorgt wurde. Zwei Rettungssanitäter waren von hinten fotografiert worden. Sie knieten vor einer liegenden Person, die nicht genauer zu erkennen war. Daneben lag ein Fahrrad und an der Seite war der Rettungswagen zu erkennen. Ein Rettungswagen vom Deutschen Roten Kreuz.

Alexa sah das Kreuz.

Das große rote Kreuz.

Ein Schmerz fuhr durch ihren Körper. In diesem Augenblick wußte sie, daß ihre Geburt längst angefangen hatte.