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»Unterrichten Sie Kunst?« Frau Peters konnte so entzückende Fragen stellen. Ich starrte sie verständnislos an. Nun deutete sie auf das Blatt, auf dem ich gerade munter Kringel malte. Die Frau mußte Adleraugen haben. Instinktiv hielt ich zu, was ich soeben geschaffen hatte.

»Kunst? Nein, Deutsch und Geschichte.«

»Ah«, Frau Peters lächelte milde. »Auch interessant.«

»Ich fertige nur gerade eine Grobstrukturierung des weiteren Unterrichtsplans an.« Ich wußte, daß Frau Peters nur das Schlimmste über mich dachte, aber man konnte es ja mal probieren.

»Na, dann will ich Sie nicht weiter stören!«

Ich drehte mich zur anderen Seite und betrachtete mein Werk. Seitdem Max wieder weg war, beschäftigte mich die Sache sehr. Dr. Peuler stand in der Mitte des Blattes. Dahinter ein großes Kreuz. Das Ganze war angelegt wie ein Speichenrad. In der Mitte der Name des Mediziners, davon ausgehend Verbindungslinien zu verschiedenen anderen Personen. So versuchte ich etwas Licht in den Beziehungsdschungel zu bringen und mögliche Verdächtige auszumachen. Gut, ich wollte mich eigentlich nicht aktiv in die Ermittlungsarbeit einmischen, aber so ein bißchen rumkritzeln konnte man ja nun wirklich nicht als Einmischung bezeichnen, oder?

Zum Kreis derer, die Dr. Peuler umgaben, gehörte natürlich seine Frau, wenngleich Max diesen Fall kategorisch ausgeschlossen hatte. Kein Motiv und niemand, der sie gesehen hatte. Außerdem – was sollte bei Frau Peuler dieses dämliche Kreuz?

Dann war da die Reihe der Kollegen. Dr. Kellermann allen voran, the charming Frauenarzt. Laut Max’ Erzählungen war Kellermann Anwärter auf die Stelle des Ärztlichen Direktors. Aber Peulers Abgang war beschlossene Sache. Wurde man zum Mörder, nur um die Wartezeit auf die nächste Karrieresprosse zu verkürzen? Wohl kaum! Andererseits hatte ich nach dem Gespräch zwischen Lübke und Kellermann durchaus ein mulmiges Gefühl gehabt. Kellermann war ein eiskalter Karrierehengst. Man konnte ihn nicht ausschließen. Und wie sah es mit Lübke aus? Max hatte erwähnt, Lübke habe sich gern als Peulers Nachfolger auf der Station gesehen. Dieser sei aber strikt gegen eine solche Hausberufung gewesen. Vielleicht hatte Lübke einem Konflikt vorgreifen wollen? Womöglich hatte er ausschließen wollen, daß sein Chef sich vor der Pensionierung für einen anderen Mann stark machte? Außerdem war da ja noch die Sache mit den Medikamenten. Hätte nach Bennos Berechnungen nicht auch Lübke Zugang zu den Medikamenten gehabt? Gut, Mord und Medikamentenmißbrauch waren diesem Lübke nicht gerade anzusehen. Der Mann strahlte bodenständige Seriosität aus, aber mal ehrlich: Was war einem Menschen wirklich anzusehen?

Aber dann war da ja auch noch Dr. Wolkov, der russische Assistenzarzt. Auch er konnte für das Verschwinden der Medikamente verantwortlich sein. Folglich konnte auch er mit Peuler im Clinch gelegen haben. Vielleicht hatte Peuler die Sache herausbekommen und hatte ihn, nachdem er ihn anfangs gedeckt hatte, nun aus dem Dienst suspendieren wollen. Unter Umständen kannte dieser Russe in einem solchen Fall andere Lösungsstrategien als das hiesige Arbeitsgericht Ich war unmöglich! Dr. Wolkov war kein Mitglied der Russenmafia. Folglich war er genauso wenig und genauso viel verdächtig wie seine Kollegen auch. Dennoch hatte ich noch Wolkovs Gesichtsausdruck im Kopf, als ich ihn auf Dr. Peuler angesprochen hatte. »Liebenswürdig«, hatte er ganz abwesend gemurmelt, »wirklich liebenswürdig.«

Gedankenverloren blickte ich auf meine Kringel. Vier Namen standen jetzt eingekreist um Dr. Peuler herum. Und außer bei Frau Peuler wußte ich von keinem, ob er ein Alibi hatte. Ich seufzte und legte mein Blatt in die Nachttischschublade. Im Grunde wußte ich überhaupt nichts. Max hatte sich schließlich auch nicht gerade ausgiebig über den Mordfall ausgelassen. Was war mit Freunden und Bekannten? Gab es weitere Angehörige – Brüder und Schwestern? Im Prinzip hätte jeder mit etwas Mühe ins Krankenhaus eindringen können. Ein unzufriedener Patient oder dessen Angehöriger? Und wie sah es mit den Krankenschwestern aus? Vielleicht hatte Dr. Peuler entgegen Dr. Rosners Einschätzung doch mit einer von ihnen etwas gehabt, hatte Versprechungen gemacht und diese am Ende nicht eingehalten. Plötzlich fiel mir dieser Pfleger wieder ein, dieser Pfleger, der ebenfalls in Frage kam, wenn es um das Verschwinden der Medikamente ging. Ich mußte einen Moment überlegen, bis mir der Name wieder einfiel. Pfleger Stefan, so hieß er, der Knabe mit dem Zopf. Ich nahm den Zettel wieder aus der Schublade und notierte den Namen am Rand. Außerdem faßte ich meine weiteren Überlegungen in Worte. Freunde? Verwandte? Dann schrieb ich noch Krankenschwester? hinzu, zu guter Letzt auch noch Patient/Angehörige?

Als es klopfte, stopfte ich das Blatt blitzschnell zurück in die Schublade. Ich schob sie gerade zu, als zwei ältere Damen hereinmarschierten.

»Einen wunderschönen guten Tag«, jubilierte die eine, »wir sind vom Caritas-Besuchsdienst.«

Caritas-Besuchsdienst.

Hatte ich da etwas bestellt, ohne es zu wissen, oder kamen die Damen auch ohne Anfrage?

»Zwei ganz neue Gesichter«, sagte die andere. Offensichtlich waren die beiden noch unentschlossen, wem sie sich zuerst zuwenden sollten. Ich wollte schon verzichtend die Hand heben, als Frau Peters plötzlich reagierte.

»Helma?« sagte sie zögernd und sah eine der beiden Damen fragend an.

Auch diese stutzte jetzt.

»Achnes?«

»Das gibt’s doch gar nicht.«

»Daß wir uns unter diesen Umständen wiedersehen.«

Ich wußte, daß das eine Gelegenheit war. Und Gelegenheiten waren da, um sie zu nutzen. Innerhalb von Zehntelsekunden stand ich in meinen Schlappen.

»Bin gleich wieder da«, log ich und verschwand aus dem Zimmer. Die zweite Dame schickte mir ein freundliches Lächeln nach. Draußen atmete ich tief durch. Ich wußte, daß all diese Institutionen ihren Sinn hatten. Ich wußte, daß es auch in diesem Krankenhaus Menschen gab, die sehnlichst auf den Caritas-Besuchsdienst warteten. Ich wußte, daß diese Damen das ehrenamtlich taten – nicht für Geld und ohne großartigen Dank. Aber trotzdem war ich froh, daß ich die Flucht ergriffen hatte. Keinen Small talk. Nicht hier. Nicht heute. Nicht jetzt.

Wie aus Gewohnheit schlenderte ich in Richtung Cafeteria. Obwohl es schon auf den Abend zuging, war immer noch viel los. Ich erkannte den Patienten wieder, der regelmäßig über den Flur humpelte. Vorm Aufzug dann eine wirkliche Überraschung: Friederike Glöckner, die leicht überdrehte Schauspielerin, die seit meiner Ankunft im Sauerland immer mal wieder in meinem Leben auftauchte. Nicht unbedingt zu meinem Vergnügen. Und noch viel weniger zu Alexas, die Friederike regelmäßig als affektierte Schnecke bezeichnete. Trotzdem überkam mich blankes Mitgefühl, als ich sie sah. Friederike Glöckner saß im Rollstuhl, beide Arme und ein Bein bandagiert.

»Ach du liebe Güte«, rief ich. »Was ist denn mit dir passiert? Ein Autounfall?«

»Vincent!«

Nun, zumindest Friederikes Stimme war unversehrt Ziemlich hoch und ziemlich schrill. Es war mir ein Rätsel, wie sie damit eine Schauspielkarriere zustande brachte. Wenn sie es denn wirklich tat Bei Friederikes Erzählungen konnte man nicht immer ganz sicher sein, daß sie Bodenhaftung hatten.

»Daß wir uns hier wiedersehen!« Friederike hätte mich jetzt sicher umarmt, wenn sie nicht ausgiebig gehandicapt gewesen wäre.

»Friederike, bist du auf Stuntman umgesattelt – oder besser Stuntwoman – wie sagt man in euren Kreisen?«

»Ich bitte dich.« Friederike verzog schmollend den Mund, was ihr mit ihren gewaltigen Lippen leichtfiel. »Ich habe neue Inline-Skates gekauft. Die wollte ich mal ausprobieren – ohne Gelenkschoner.«

»Na, das hat sich ja gelohnt.« Mir ging durch den Kopf, wie Miss Glöckner derzeit ihre Toilettenbesuche regelte. Zum ersten Mal im Leben empfand ich ehrliches Mitgefühl. Andererseits war ihr Haar trotz allem in Schuß. Da schien sich doch jemand rührend um sie zu kümmern.

»Das Schlimmste liegt bereits hinter mir – die Sache ist schon vor zehn Tagen passiert. Heute bin ich nur zur Untersuchung da. Aber bei dir geht es ja auch nicht gerade uninteressant zu: Ich habe gehört, du hast geheiratet?« Ich hätte mir denken können, daß sie das Thema anschnitt. Ich nickte stumm.

»Und? Glücklich?«

Ich strahlte sie an, obwohl es sinnlos war. Friederike Glöckner war im großen und ganzen davon überzeugt, daß man nur mit ihr glücklich werden konnte.

»Das sieht man doch!« Die Bemerkung kam von dem Mann, der den Rollstuhl schob. Ich erkannte ihn auf Anhieb wieder. Der Kollege von Gustav, der mich damals aus der Aufnahme geholt hatte. Der Läufer.

»Hallo«, sagte ich. »Schon wieder im Dienst?«

»Aber immer«, antwortete er lächelnd. »Na ja, fast.«

Im Fahrstuhl berichtete Friederike von sechs Schauspielengagements, die ihr aufgrund ihres Unfalls durch die Lappen gegangen waren. Ich halbierte die Anzahl in Gedanken und zog dann noch mal drei ab.

»Stell dir vor –«, inzwischen waren wir schon im zweiten Stock angekommen, »ein Angebot in Prag für ein Musical«, vor mir öffnete sich die Aufzugstür, »ich muß dir unbedingt in Ruhe davon erzählen.« Als ich draußen stand und sich die Tür geschlossen hatte, hörte ich, daß Friederike bereits mit ihrem Bericht begonnen hatte. Der arme Läufer. Hoffentlich war er ein geduldiger Mensch.

Vor der Cafeteria sah ich sofort, daß etwas im Busch war. Eine Traube von Menschen drängelte sich vorm Eingang. Irgend jemand stand vor der Tür und versuchte, sich Gehör zu verschaffen.

»Nur Pressevertreter«, sagte die Stimme. »Liebe Patienten, bitte gehen Sie auf Ihr Zimmer. Morgen früh wird die Cafeteria wie üblich geöffnet haben.« In regelmäßigen Abständen wiederholte er seine Worte. Trotzdem löste sich die Menschentraube nur zögerlich auf.

»Bitte haben Sie Verständnis, daß Sie während der Pressekonferenz die Cafeteria nicht benutzen können. Bitte gehen Sie auf Ihr Zimmer. Morgen ist die Cafeteria wie gewohnt geöffnet.«

Die Menschentraube grummelte vor sich hin. Zwischen Krücken, fahrbaren Infusionsständern und Bademänteln tauschte man Theorien über den Mordfall Dr. Peuler aus. Ich stellte mich etwas abseits und sah aus dem Fenster.

Der Türsteher wiederholte seine Worte erneut, obwohl die Leute sich inzwischen schwerfällig fortbewegt hatten. Als andere Stimmen lauter wurden, drehte ich mich um.

»Herr Köster, dürfen wir Sie noch zu einem privaten Interview bitten?«

Ein Mann um die Fünfzig in stahlgrauem Anzug war aus der Cafeteria gekommen und wurde offensichtlich von einer Reporterin verfolgt.

»Sie haben während der Pressekonferenz alles Wichtige gehört«, versuchte dieser Köster sich herauszureden. »Ich kann wirklich nicht –«

»Wie sieht die Zukunft des Pankratius-Krankenhauses aus?« Die Journalistin ließ sich keineswegs abwimmeln, sondern hielt ihrem Gegenüber ein winziges Aufnahmegerät vor den Mund.

»Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß Sie soeben ausreichend Gelegenheit hatten –«

»Gibt es bereits einen Nachfolger für Dr. Peuler?«

Endlich steckte dieser Köster auf und ging auf die Fragen ein.

»Herr Dr. Lübke, der leitende Oberarzt, wird kommissarisch die Leitung der chirurgischen Abteilung übernehmen. Aber Sie werden verstehen, daß es noch viel zu früh ist, über die weiteren Entwicklungen zu sprechen.«

»Herr Köster, als Verwaltungsleiter wissen Sie sicherlich, daß Gerüchte über den Zusammenschluß mit anderen Krankenhäusern der Region im Umlauf sind. Gibt es bereits Planungen hinsichtlich der Frage, ob alle Abteilungen Ihres Hauses weitergeführt werden? Wird man womöglich die Gelegenheit nutzen, Herrn Dr. Peulers Stelle gar nicht neu zu besetzen?«

»In der heutigen Zeit sind Fusionen mittelgroßer Kliniken unumgänglich«, führte Verwaltungsdirektor Köster aus. Der Schweiß stand ihm sichtlich auf der Stirn. »Dabei geht es vor allem darum, logistische Verbesserungen herbeizuführen. Von einer Streichung einzelner Abteilungen kann überhaupt keine Rede sein.«

»Angeblich hat sich vor allem Dr. Peuler für den Erhalt aller Abteilungen eingesetzt, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Verwaltung. Jetzt ist Dr. Peuler tot. Ermordet. Sehen Sie da einen Zusammenhang?«

»Einen Zusammenhang? Was soll ich denn da für einen Zusammenhang sehen? Ich muß doch sehr bitten.«

»Aber Sie können nicht sicher bestätigen, daß Dr. Peulers Stelle neu besetzt wird?«

»Ich kann derzeit noch überhaupt nichts bestätigen. Unser geschätzter Mitarbeiter ist gerade einen Tag tot. Im Moment muß es vor allem darum gehen, die Mordermittlungen voranzubringen. Erst danach können wir in aller Ruhe weitere Planungen vornehmen.«

»Herr Köster, Gerüchte besagen, daß in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses ein medizinisches Zentrum entstehen soll. Können Sie dazu etwas sagen?«

Köster lief rot an und schluckte.

»Ist es wahr, daß Dr. Peuler sich gegen eine solche Planung ausgesprochen hat?«

Jetzt war es Köster ein für allemal genug. Er drehte sich um und verschwand. Nach meinen Schätzungen hatte der Mann in den letzten drei Minuten etwa 400 Kalorien abgebaut.

Plötzlich war eine weitere Stimme zu hören. Sie war nicht ganz so tief wie die des Verwaltungsdirektors, aber dafür deutlich wichtiger.

»Haben Sie Verständnis, wenn wir so bald nach dem Tod unseres lieben Mitarbeiters nicht auf alle Fragen antworten können.«

Ich drehte mich um. Ein Mann war aus der Cafeteria herausgekommen und drängte sich ans Mikrofon.

»Als Pflegedienstdirektor kann ich wohl die Betroffenheit des gesamten Krankenhauspersonals nur ein weiteres Mal wiederholen. Wir sind wohl alle zutiefst bestürzt über den Tod unseres lieben Mitarbeiters und können wohl noch nicht richtig verstehen, wieso er das – wie das – ich meine« Der Typ verfuckelte sich in seinem Satz und hörte mit hochrotem Kopf auf zu sprechen. Gleichzeitig straffte er sein Jackett, das sehr neu aussah, aber ein bißchen zu knapp war.

»Herr Bergner, vielleicht können Sie uns etwas über eine Fusion und über das neue Ärztehaus sagen? Wie weit sind nach Ihrem Kenntnisstand die Planungen gediehen?«

»Nun, Sie können mir glauben, wir Mitarbeiter der Führungsebene sind natürlich ständig mit diesen Themen beschäftigt, wiewohl wir das Wohl des Hauses immer im Blick haben. Will sagen, es ist wohl eine Sache der Zeit –«

»Danke sehr!« Die Redakteurin tat das einzig Richtige. Sie packte ihr Mikrofon weg. »Dann will ich Sie mal nicht weiter stören, Herr Bergner. In Ihrer Betroffenheit, meine ich.«

»Danke ja. Danke sehr.«

Bergner versuchte zu lächeln.

»Wohl viel«, dachte ich, als ich mich auf den Weg zurück in mein Zimmer machte. »Wohl sehr, wohl viel. Auf Wiedersehen, Herr Bergner.«