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Das Bedürfnis, Vincent zu sehen, war bei Alexa stärker als die Vernunft. Als sie mit ihrem Auto in die steile Zufahrt zum Krankenhaus einbog, war sie sich dessen völlig bewußt. Es war unklar, ob sie überhaupt ins Krankenhaus hineinkommen würde. Alexa hatte keine Ahnung, ob man wegen der Ermittlungen Besuche untersagt hatte. Nun, mehr als nach Hause schicken konnte man sie schließlich nicht. Natürlich waren die wenigen Parkplätze nahe des Eingangs allesamt belegt. Alexa fuhr auf den größeren Besucherparkplatz, wo ein paar Meter vor ihr ein Van einen Platz frei machte. Sie flutschte in die Lücke hinein und griff nach ihrem Rucksack, als plötzlich das Handy wieder klingelte. Alexa zögerte. Wenn das jetzt wieder ihre Mutter war! Vielleicht hatte sie gerade ein gehäkeltes Strickjäckchen vollendet und wollte die frohe Nachricht überbringen. Ein rosa Strickjäckchen, in das der Name Elisabeth eingestickt war. Alexa schaute auf das Display. Keine werdende Oma. Eine Handy-Nummer, die ihr auf Anhieb nichts sagte.
»Alexa Schnittler.«
»Ich dachte, du hießest jetzt Jakobs.« Die Stimme klang fröhlich.
»Max, bist du’s?« Max war ein Freund von Vincent, so ziemlich der erste, den er kennengelernt hatte, als er damals aus Köln hergezogen war.
»Klar bin ich es. Wie geht’s euch? Zu Hause seid ihr praktisch gar nicht zu erreichen.«
»Phantastisch geht’s uns. Vincent liegt im Krankenhaus, und ich stehe kurz vor der Geburt. Noch Fragen?«
Max war einen Moment lang platt. »Krankenhaus? Wovon redest du, Alexa?«
Alexa erzählte vom Blinddarm, wurde aber schon bald von Max unterbrochen.
»In welchem Krankenhaus ist er? Jetzt sag nicht, im Pankratius.«
»Natürlich im Pankratius.«
»Weißt du schon, daß da ein Mord passiert ist?« Max sprudelte beinahe heraus, was für seine Gangart eher ungewöhnlich war.
»Weißt du schon, daß Vincent den Toten gefunden hat?« Jetzt war Max sprachlos.
»Das gibt’s doch gar nicht«, sagte er schließlich.
»Natürlich gibt’s das. Du kennst doch Vincent. Er hat ein Händchen dafür, mit ungeklärten Leichen in Kontakt zu kommen.«
»Ich kann’s nicht fassen. Und das gerade jetzt.«
»Und das gerade jetzt – das habe ich auch gesagt.«
»Nein, ich meine das ganz anders«, Max verhaspelte sich beinah, »ich beginne doch heute mein Praktikum.«
»Dein Praktikum? Ich denke, du bist jetzt an der Bullen-FH.«
»Fachhochschule des öffentlichen Dienstes heißt das. Fachbereich Polizei. Da bin ich auch. Aber zu der Ausbildung gehören natürlich auch Praktika – unter anderem in einem Kommissariat. Und da habe ich mich um die Kripo in Hagen bemüht.«
»Soll heißen?«
»Ich habe da heute angefangen.«
»Na, herzlichen Glückwunsch.«
»Jetzt stell dir vor: Ab morgen begleite ich euren Fall. Ich darf in der Mordkommission mitarbeiten. Ermittlungsgruppe Krankenhaus.«
»Nein.«
»Doch.«
»Puh.« Alexa ging sich mit der Hand durchs Haar. »Zufalle gibt’s, die gibt’s gar nicht. Aber trotzdem. Es ist nicht unser Fall. Vincent hat den Toten gefunden. Und da hört unser Fall auch schon auf.«
»Ist schon klar. Aber trotzdem ist es ein Ding.«
»Es kann also’ sein, daß du dabei bist, wenn man Vincent verhört?«
»Das ist eher unwahrscheinlich. Mit Sicherheit werden Augenzeugen schon heute befragt. Ich darf aber erst morgen anreisen. Heute stehen hier noch ein paar Fleißarbeiten an.«
»Na, schade. Aber Vincent wird sich trotzdem freuen. Soll ich ihn grüßen?«
»Aber klar doch. Und sag ihm, ich komme so bald wie möglich vorbei.«
»Ich werd’s ihm ausrichten. Max, wo bist du überhaupt untergebracht? Wir könnten dir –«
»Kein Problem, ich kann in die Wohnung eines Kumpels, der die Woche auf Montage verbringt. Ach Alexa, tust du mir einen Gefallen?«
»Sprich, mein Sohn. Du weißt, ich bin dir wohlgesonnen.«
»Paß auf dich auf, ja?« Alexa war einen Moment lang verlegen.
»Klar, mache ich«, sagte sie dann. »Bis bald.«
Eine Sekunde später hatte Max aufgelegt.
Alexa blieb noch einen Augenblick sitzen, bevor sie die Autotür öffnete. Max kam in die Stadt! Das war wirklich eine Überraschung. Als Vincent ins Sauerland gezogen war, war Max noch Taxifahrer gewesen. Ein Schweiger irgendwie.
Jemand mit bewegter Vergangenheit, der nichts und niemanden an sich heranließ. Geöffnet hatte er sich erst später, damals, während der Schützenfestmorde. Doch kaum war zwischen ihm und Vincent eine richtige Freundschaft entstanden, da war er plötzlich verschwunden. Monatelang war Max durchs Ausland getrampt und hatte sich bestenfalls sporadisch gemeldet. Bis er auf einmal überraschend vor der Tür stand, mit einem ausgeglichenen Gemüt und einem Bündel voller Zukunftspläne. Polizist wollte er werden, besser noch Kripo-Beamter, jemand, der mit richtigem Verbrechen zu tun hat und nicht nur mit Ampelsündern. Ein sauerländischer Schimanski vielleicht oder ein südwestfälischer Maigret. Prompt hatte er sich bei der Polizei beworben und die Aufnahmeprüfung mit Glanz und Gloria bestanden. Der Kontakt war jetzt wieder ziemlich regelmäßig, seitdem Max in Köln studierte. An der Bullen-FH. Ein Name übrigens, der für Alexa so gar nichts von einem Schimpfwort hatte. Schließlich hatten männliche Rinder noch vor wenigen Wochen zu ihrem Hauptbeschäftigungsfeld gehört. »Gestern Rinder, morgen Kinder«, hatte ihr Friseur gleich zu Beginn der Schwangerschaft gefrotzelt. Alexa schmunzelte. Mal sehen, wie sie sich als Mutter schlagen würde. Und Vincent erst Vincent als Vater? Das war schon ein Ding. Vincent -Alexa riß sich aus ihren Gedanken. Sie war schließlich gekommen, um ihn zu besuchen.