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Das Haus, in dem Frau Rotbusch wohnte, war wunderschön. Die ganze Straße war phantastisch. Alte Stadtvillen, viel Grün in der Straße und hinter jedem Haus ein Garten, von dem man selbst als Dorfbewohner nur träumen konnte. Die Brüderstraße in Hamm war eine allererste Adresse.

Alexa hatte sich zunächst gewundert, als Vincents Schüler am Apparat gewesen war. Aber dann hatte Benno erzählt, daß er gute Verbindungen zur Verwaltung habe, genauer zu einer Schreibkraft, die dort arbeitete, und auf diesem Wege sei er schnell an den Mädchennamen von Frau Peuler herangekommen. Er habe im Lebenslauf gestanden, den Peuler damals eingereicht hatte. Damals, als er sich um die Chefarztstelle in der Klinik beworben hatte. 1973 Heirat mit Eva Maria Peuler, geb. Rotbusch hatte dort gestanden, schwarz auf weiß.

Alexa hatte sich den Namen sofort notiert. »Dann können wir nur hoffen, daß die Dame nicht ein zweites Mal geheiratet und ihren Namen geändert hat.«

»Viel Glück!« hatte Benno noch gesagt und dann aufgelegt.

Im Telefonbuch hatte nur einmal Rotbusch gestanden. Adele Rotbusch, Brüderstraße 17. Das hörte sich gut an.

»Könnte aber auch eine Teesorte sein«, hatte Max noch geunkt. Immerhin. Seitdem er eine dritte Tablette geschluckt hatte, ging es ihm deutlich besser.

In der Brüderstraße 17 machte erst nach dem zweiten Schellen jemand auf. Eine junge Frau in Jeans und T-Shirt. Wenn das Adele Rotbusch war, war es eine Niete.

»Wir suchen Adele Rotbusch«, begann Max das Gespräch. »Es geht um ihre Tochter.« Die junge Frau musterte ihn und Alexa wenig unauffällig, wobei besonders Alexas Bauch ein wahrer Blickfang zu sein schien.

»Sie sind doch nicht von der Polizei?« Die Frage beinhaltete, ob dort Frauen bis zum letzten Tag vor der Entbindung zum Dienst erscheinen mußten.

Es war wie einstudiert. Alexa sagte »Ja«, Max sagte »Nein«. Die Frau schaute irritiert.

Dann ergriff Alexa die Situation. »Wir sind nicht dienstlich hier. Wir sind eher privat in den Fall verwickelt.«

»Ich glaube nicht, daß Frau Rotbusch –«

»Bitte!« Alexas Stimme klang flehentlich. »Wir sind weit gefahren, um Frau Rotbusch zu sehen.« Max hustete in sich hinein.

Die Frau an der Tür seufzte. »Vielleicht sagen Sie mir einfach Ihren Namen.«

»Schnittler – äh Jakobs«, sagte Alexa. Man konnte gar nicht unseriöser erscheinen.

Um so mehr überraschte es sie, als die junge Frau sie kurze Zeit später hineinwinkte. »Sie will Sie tatsächlich sehen«, meinte sie, »zumindest, wenn ich sie richtig verstanden habe.« Nach ein paar Schritten drehte sich die Frau noch einmal um. »Wie Sie sicher wissen, geht es Frau Rotbusch nicht gut. Und seitdem ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen sind, hat sich ihr Zustand deutlich verschlechtert. Heute allerdings erscheint sie mir ganz rege. Sie sitzt auf der Terrasse. Am besten gehe ich voran.«

Adele Rotbusch sieht aus wie ein Adler, dachte Max als erstes. Diese spitze Nase, die stechenden Augen. Ein Adler.

Alexa dachte ganz etwas anderes. Diese Frau leidet, dachte sie. Man sieht es ihr nicht auf den ersten Blick an. Denn sie ist es nicht gewohnt, ihre Gefühle zu zeigen. Dennoch: Sie trauert. Sie trauert um ihre Tochter.

»Guten Tag, Frau Rotbusch«, Alexa beugte sich vor und gab der Dame im Rollstuhl die Hand. Sie fühlte sich hart und unbeweglich an. »Mein Name ist Alexa Jakobs. Ich bin sehr froh, daß Sie mit uns sprechen möchten. Das ist mein Kollege Max Schneidt.«

Max mußte grinsen. Daß Alexa ihn als Kollegen bezeichnete, hatte etwas.

»Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie unter dem Verlust Ihrer Tochter leiden.«

Adele Rotbusch sagte etwas. Es klang wie »Stein … Stein … schreib«. Alexa blickte hilflos zu der jungen Frau hinüber.

»Frau Rotbusch leidet seit ihrem Schlaganfall unter einer Globalaphasie«, erklärte sie und schüttete eine goldfarbene Flüssigkeit aus einer Saftkaraffe in ein Glas. »Ihr fehlen Wortschatz und Grammatik. Außerdem hat die halbseitige Lähmung das Sprechen selbst fast unmöglich gemacht. Trotzdem kann sie sich manchmal verständlich machen. Nicht wahr, Frau Rotbusch, wir verstehen uns.«

»Jajajaja«, brabbelte Frau Rotbusch, »Fau … Tocht … Stein.«

»Ihre Tochter ist gestorben. Eva ist tot. Sie haben recht. Wir werden bald zusammen zur Beerdigung gehen, nicht wahr?« Die junge Frau führte das Glas mit Apfelsaft der alten Dame an den Mund. Sie nahm ein Schlückchen, ein paar Tropfen rannen ihr aus dem Mund, die die junge Frau abwischte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie jetzt. Irgendwie wurde sie ein bißchen lockerer. »Mein Name ist übrigens Christiane Scholand. Ich komme jeden Tag zwei Stunden her und kümmere mich um Frau Rotbusch. Ohne Pflegedienst und Hilfe von außen wäre es nicht möglich, daß Frau Rotbusch noch hier in ihrem Haus wohnt.«

»Fau … Tocht … Stein«, sagte Frau Rotbusch. Alexa hatte den Eindruck, daß sie ein bißchen ärgerlich war. Vielleicht hatte sie das Gefühl, es werde zu viel über sie gesprochen und zu wenig mit ihr. Andererseits schien ihr Vokabular ja sehr eingeschränkt zu sein.

»Frau Rotbusch, Ihre Tochter ist verstorben und Ihr Schwiegersohn auch. Mein Kollege und ich, wir sind der Meinung, daß ihr Tod vielleicht mit einer älteren Geschichte zusammenhängt.«

Frau Rotbusch gab ein paar Laute von sich, die überhaupt nicht zu identifizieren waren. Max wandte sich leise an Frau Scholand. »Wie ist denn ihr Sprachverständnis? Meinen Sie, sie bekommt irgendwas mit?«

»Das ist ganz unterschiedlich, nicht wahr, Frau Rotbusch? Manchmal verstehen Sie mich ganz wunderbar, und manchmal reden wir so richtig aneinander vorbei.« Frau Rotbusch gab erneut ein paar Laute von sich. Wieder war kein einziges Wort zu identifizieren. Alexa sank langsam der Mut.

»Frau Rotbusch, wir haben gehört, daß Ihr Schwiegersohn vor etwa 25 Jahren eine Stelle als Chefarzt hätte annehmen können. Eine Stelle in Paderborn. Wußten Sie davon?«

»Cheffen … cheffen«, sagte Adele Rotbusch. Sie wurde etwas aufgeregt. Ein Tropfen Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. »Dokor … cheffen.«

»Genau, er sollte eine Chefarztstelle bekommen, in Paderborn. Aber er hat diese Stelle nicht angenommen. Warum nicht?«

»Cheffen … schaffen … fahren«, sagte Frau Rotbusch. »Fahren … fahren … fahren.«

»Fahren? Hatte es etwas mit Fahren zu tun?«

»Jajajajaja«, antwortete Frau Rotbusch. Es war jetzt für alle erkennbar, daß etwas mit ihr vorging. Sie wollte etwas loswerden, aber das war alles so mühselig.

»Es hatte mit Fahren zu tun?« wiederholte Alexa. »Wer wollte denn fahren?«

»Fau … Toch … Mann«, sagte Frau Rotbusch. Und dann sagte sie es gleich noch mal. »Fau … Toch … Mann.«

»Das ist schwierig für sie«, flocht Christiane Scholand ein. »Es kommt ihr nicht das richtige Wort in den Sinn, sondern immer gleich ein ganzes Wortfeld: Frau, Tochter, Mann. Wenn man Glück hat, ist das Richtige dabei. Nur weiß man das leider nie so genau.«

»Wollte Ihr Schwiegersohn fahren?« fragte Alexa.

»Jajajaja.«

»Wollte Ihre Tochter auch fahren?«

»Jajajaja.«

»Aber wohin?« Alexa wußte nicht mehr weiter. Frau Rotbusch schien Fragen einigermaßen mit ’ja’ oder ’nein’ beantworten zu können, aber woher sollte Alexa die richtigen Fragen wissen?

»Fall … bumm … fall«, brabbelte Frau Rotbusch jetzt. Sie war immer noch sehr aufgeregt.

»Das ist neu, das sagt sie sonst nie«, erklärte Frau Scholand.

»Fall … bumm … fall … fall … bumm … fall.« Frau Rotbusch klang jetzt richtig verzweifelt.

»Ein Unfall!« rief Max plötzlich. »Hatte es mit einem Unfall zu tun?«

»Jajajajajaja!« Frau Rotbusch schrie förmlich.

»Ich weiß nicht, ob das hier gut ist«, Frau Scholand nahm Frau Rotbuschs linke Hand. »Diese Aufregung. Womöglich passiert noch etwas.«

»Ein Unfall, das haben wir verstanden«, Alexa stieg jetzt ebenfalls der Schweiß auf die Stirn. »Bitte beruhigen Sie sich, Frau Rotbusch, wir bekommen noch heraus, was Sie uns sagen wollen. Wir bekommen es heraus. Sie müssen sich nur beruhigen.«

»Jajajajaja.«

»Es ist ein Unfall passiert«, wiederholte Max ruhig. »Im Krankenhaus? Ist im Krankenhaus ein Unfall passiert?«

Frau Rotbusch sagte etwas, was nicht zu verstehen war.

»Ist der Unfall im Krankenhaus passiert? Ist ein Patient zu Schaden gekommen?«

»Nei«, schrie Frau Rotbusch so abrupt, daß es allen in die Glieder fuhr.

Christiane Scholand sah hilflos Alexa an. »Ich habe Angst«, sagte sie dann. »Diese Aufregung ist einfach zu viel für sie.«

»Der Unfall passierte nicht im Krankenhaus«, sprach Max ruhig weiter. »Bumm. Er passierte auf der Straße.«

»Jajajaja.«

»Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn hatten einen Unfall?« faßte Alexa zusammen. »Einen Verkehrsunfall?«

»Jajajajajaja.«

»Wurde dabei jemand verletzt oder getötet?«

»Jajajaja.«

»Es wurde jemand getötet?«

»Jajajaja.«

»Kannten Sie die Person, die getötet wurde?«

Frau Rotbusch gab wieder ganz unverständliche Laute von sich.

»Also kannten Sie die Person nicht?«

»Jajajaja.«

Frau Rotbusch klang plötzlich sehr matt. Die Aufregung war von ihr gewichen.

»Ich glaube, Sie sollten jetzt aufhören.« Frau Scholand griff noch einmal nach dem Glas Apfelsaft.

»Eine Frage nur noch«, schloß Max. »Frau Rotbusch, könnte der Tod Ihrer Tochter mit diesem Unfall zusammenhängen?«

»Jaja. Jaja.« Die Stimme klang jetzt furchtbar traurig.

Sie kann so wenig sagen, dachte Alexa, und trotzdem sagt sie so viel.

»Wir lassen Sie jetzt allein!« Max erhob sich. »Sie haben uns phantastisch geholfen, Frau Rotbusch. Vielen Dank.«

Bei Alexa dauerte es einen Moment, bis sie sich aus ihrem schmalen Gartenstühlchen herausgeschält hatte. Als sie aufstand, starrte Frau Rotbusch auf ihren Bauch.

»Dadada«, sagte sie und hob ein klein wenig die linke Hand. Alexa schaute auf ihren Bauch.

»Dadada«, wiederholte Frau Rotbusch.

»Ich bekomme ein Kind«, sagte Alexa. »Es ist bald so weit.«

»Fau … toch … mann … kin.«

»Vielen Dank, Frau Rotbusch. Wenn wir mehr herausgefunden haben, werden wir Ihnen davon erzählen. Das verspreche ich Ihnen.«

Frau Rotbusch starrte immer noch auf Alexas Bauch.

»Auf Wiedersehen, Frau Rotbusch. Bis bald.«

»Dadadada.«

Alexa hörte es noch, als sie bereits die Terrasse verlassen hatten.